Inhaltsverzeichnis

Zum Buch

 

Auf Visitenkarten nannte er sich ›Provinzschriftsteller‹, einen ›Spezialisten für ländliche Sachen‹. Doch Oskar Maria Graf (1894–1967) war weit mehr als ein Dichter der Provinz. »Ein verjagter Dichter, einer der Besten«, urteilte Bert Brecht. Grafs Erfolgsbuch Wir sind Gefangene (1927) wurde bereits ein Jahr nach Erscheinen in Amerika als repräsentatives Nachkriegswerk übersetzt. Authentisch in seiner Empörung gegen das Unrecht der Machthaber suchte sich der Pazifist einen Weg durch das zerstörerische Jahrhundert. Sein spontaner Protest gegen die Bücherverbrennung vom 10. Mai 1933 wurde weltweit gelesen. Im US-Exil, das sein ›Daheim‹ wurde, war er einer der Wortführer der aus Deutschland vertriebenen Autoren.

Die Biografie erfasst die wichtigsten Lebensstationen und Werke und bietet Forschungsergebnisse aus den letzten Jahrzehnten.

 

 

 

Zu den Autoren

 

Ulrich Dittmann, Dr. phil., unterrichtete bis 2003 als Akad. Direktor Neuere Deutsche Literatur an der LMU. 1992–2014 Vorsitzender der OMG-Gesellschaft. Er edierte 13 Bände von Grafs frühen Sammlungen.

Waldemar Fromm, Prof. Dr. phil., Akad. Direktor am Institut für deutsche Philologie der LMU, Leiter der Arbeitsstelle für Literatur in Bayern. Publikationen zur Literatur des 18. bis 20. Jahrhunderts.

Biografien machen Vergangenheit lebendig: Keine andere literarische Gattung verbindet so anschaulich den Menschen mit seiner Zeit, das Besondere mit dem Allgemeinen, das Bedingte mit dem Bedingenden. So ist Lesen Lernen und Vergnügen zugleich.

Dafür sind gut 100 Seiten genug – also ein Wochenende, eine längere Bahnfahrt, zwei Nachmittage im Café. Wobei klein nicht leichtgewichtig heißt: Die Autoren sind Fachleute, die wissenschaftlich Fundiertes auch für den verständlich machen, der zwar allgemein interessiert, aber nicht speziell vorgebildet ist.

Bayern ist von nahezu einzigartiger Vielfalt: Seinen großen Geschichtslandschaften Altbayern, Franken und Schwaben eignen unverwechselbares Profil und historische Tiefenschärfe. Sie prägten ihre Menschen – und wurden geprägt durch die Männer und Frauen, um die es hier geht: Herrscher und Gelehrte, Politiker und Künstler, Geistliche und Unternehmer – und andere mehr.

Das wollen die KLEINEN BAYERISCHEN BIOGRAFIEN: Bekannte Personen neu beleuchten, die unbekannten (wieder) entdecken – und alle zur Diskussion um eine zeitgemäße regionale Identität im Jahrhundert fortschreitender Globalisierung stellen. Eine Aufgabe mit Zukunft.

 

DR. THOMAS GÖTZ, Herausgeber der Buchreihe, geboren 1965, lehrt Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Regensburg. Veröffentlichungen zu Stadt und Bürgertum in der Neuzeit.

ULRICH DITTMANN / WALDEMAR FROMM

 

 

 

Oskar Maria Graf

 

 

Rebellischer Weltbürger, kein bayerischer Nationaldichter

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag Friedrich Pustet
Regensburg

Impressum

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

 

eISBN 978-3-7917-6100-8 (epub)

© 2017 by Verlag Friedrich Pustet, Regensburg

Umschlaggestaltung: Martin Veicht, Regensburg

eBook-Produktion: Friedrich Pustet, Regensburg

 

Diese Publikation ist auch als Printprodukt erhältlich:

ISBN 978-3-7917-2893-3

 

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»Da ist einer […], der in natürlicher Schlichtheit und Anmut zum Denken anregt.

Die Unverdorbenen werden es dankbar sehen.«

 

Albert Einstein

 

 

Einleitung

 

Als »wunderbaren bayrischen Volks- und sozialistischen Gerechtigkeitsdichter«, den »wohl erstaunlichsten Emigranten von allen« beschreibt Volker Weidermann Oskar Maria Graf in seiner kleinen Literaturgeschichte Lichtjahre (4. Auflage 2006). Superlativisch und spannungsvoll lautete auch schon 80 Jahre früher das Urteil von Werner Mahrholz in Deutsche Literatur der Gegenwart (1926/30): »der saftigste, humorigste, ernsthafteste Darsteller der bayrischen Bauern«, dessen Geschichten »die Aussicht haben, auch in hundert Jahren noch gelesen zu werden und dann noch […] zu ergreifen.« – Gerade als »bayrisch«, in dem die beiden Urteile zusammenklingen, wollte sich Graf aber nicht verstanden wissen, er war mehr: »Das Bayrische war nur eine Hälfte von mir«, schrieb er in der Autobiografie Gelächter von außen, »die andere unterschied sich sehr gründlich davon.«

Auf die Tradition von Ludwig Thoma sollte man ihn nicht festgelegen: »Ein kaltes Grauen fiel mich an, wenn ich mir ausmalte, etwa wie Thoma zum allbeliebten bayrischen Nationaldichter aufzusteigen und auf diese Art behäbig mein weiteres Leben abzulegen. Thoma kam aus der Welt des ländlich-soliden, gehobenen Bürgertums und hatte nie die Schrecknisse, die Wirrungen und das ratlose Ausgeliefertsein an die unbekannten rohen Lebenstücke durchzustehen gehabt wie ich. Wirklicher Hunger, grausige Not, von Kind auf hineingeprügelter Menschenhaß, Unsicherheit und Mißtrauen allem und jedem gegenüber blieben ihm zeitlebens ebenso unbekannt wie zügellose, antimoralistische Boheme, wie Klassenkampf, Sozialismus, Revolution und unkontrollierbarer, gefährlicher Masseninstinkt.«

In der Vorbemerkung zu Gelächter von außen hält Graf fest, wie er sich selbst verstanden hat. Er sah sich ›hineingestellt ins Geschichtliche‹: »Dieses Hineingestelltsein ins Geschichtliche hat freilich nichts mehr mit dem zu tun, was die hochgebildeten Fachgelehrten und Professoren im Nachhinein literarisch als Geschichte postulieren, es ist vielmehr unser aller Schicksal.« Hiernach ist man in der biografischen Annäherung an Leben und Werk Grafs gewarnt, es akademisch nicht allzu bunt zu treiben. Sein Werk wird nicht von Konzepten und Begriffen geleitet, auch wenn er damit umgehen kann: Mitten ins Leben des Einzelnen gestellt, schöpft es daraus seine Geschichte. Dass er die ihm selbstgenügsam dünkende Literatur der L’art pour L’art ablehnt, ergibt sich fast von alleine. Leben und Werk gehören bei Graf auf das Engste zusammen.

»Hineingestelltsein ins Geschichtliche« meint für Graf, eingedenk der historischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts zu schreiben. Die Geschichte hat ihm, der weder fatalistisch, noch resignativ, noch bloß verneinend auf sie reagieren wollte, nicht viele Optionen gelassen. Mit »Galgenhumor« und einem »alles zerschmetternde[n] Gelächter« wollte er deshalb schreiben. Ein »Volks- und sozialistische[r] Gerechtigkeitsdichter«, wie Weidermann schreibt, ist er gewiss auch. Ohne die Spannungen in jedem der einzelnen Begriffe zu registrieren, wird der Leser aber nur den halben Graf mitnehmen. Sein Gelächter, sein Rebellentum, ist eine Möglichkeit, zwei Extreme zu vermitteln: Hoffnung für den Menschen zu haben und zugleich die »Dummheit und Verlogenheit der Welt« als historisches Faktum vorauszusetzen. So ging er seinen Weg durch das 20. Jahrhundert: pazifistisch, authentisch und nicht ohne Widersprüche von Berg am Starnberger See über München nach New York.[*]

1   Die Familie

Eltern

Oskar Maria Graf entstammte einer Familie, in der der Beruf des Schriftstellers nicht nahe lag. Er wurde am 22. Juli 1894 in Berg als neuntes von elf Kindern geboren. Sein Vater Max Graf, gelernter Bäcker, kam aus einer zugewanderten Stellmacher-Familie mit protestantischen Wurzeln. 1846 geboren nahm er 24-jährig am Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 teil und kehrte nach einer Verwundung, die eine Versteifung der Hand zur Folge hatte, nach Berg zurück. Ungeeignet für den familiären Betrieb fand er in einem Kaufvertrag des Großvaters auch die Übertragung einer sogenannten Gerechtsamen, der Erlaubnis, das Bäckereihandwerk auszuüben. Mit der finanziellen Unterstützung aus der Familie baute er in Berg entgegen erheblicher Zweifel erfolgreich eine Bäckerei auf und etablierte sie.

Graf schildert seinen Vater im Leben meiner Mutter als Außenseiter in der kleinen Gemeinde, der seine Vorstellungen über den beruflichen Wirkungskreis gegen die Zurückhaltung der anderen erfolgreich durchsetzt und Anerkennung findet. Der Vater, ein Anhänger Bismarcks, war insofern ein Kind seiner Zeit, als er Modernisierungsprozesse antizipierte und nutzte. Die Gewerbereform, die 1869 verabschiedet wurde, ermöglichte es ihm, seine Bäckerei zu gründen und auszubauen. Die günstige Lage Bergs am Starnberger See sorgte für gute Geschäfte, denn ›Sommerfrischler‹ und der Zuzug von wohlhabenden Bürgern und Adligen schufen einen Markt für Backwaren in einer ländlichen Region, in der man das Brot meist noch selbst buk. Durch Zufall wurde Graf Lieferant für König Ludwig II., der in Schloss Berg seine Sommerresidenz hatte. Das Geschäft des Vaters florierte, später kam ein Kolonialwarenladen hinzu. Die kleine Bäckerei Graf bildete allein schon dadurch einen exterritorialen Raum in der ländlichen Gemeinde, dass sie in Kontakt mit allen Schichten stand und sich in ihr ländliche und städtische Gewohnheiten austauschten. Auch wenn sich Graf später gerne als »Provinzschriftsteller« oder »Spezialist in ländlichen Sachen« bezeichnete, war die Provinz seiner Kindheit und Jugend von der Moderne durchzogen.

 

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Abb. 1:
Grafs Geburtshaus mit der Bäckerei in Berg am Starnberger See, um 1960

 

1881 heiratete Max Graf die elf Jahre jüngere Therese Heimrath, Tochter einer alteingesessenen katholischen Bauernfamilie aus Aufhausen. Grafs Mutter fehlte im Gegensatz zu ihrem Mann der Wagemut, über das Erreichte hinauszugehen. Sie lebte im Glauben und wirkte durch »stumme Geduld« und »unangreifbare Verträglichkeit«. Für sie, so Graf, waren »Sich-Bescheiden, die unverdrossene Arbeit und Glaube und Friede« identisch. Beide Elternteile verband jedoch ihr Arbeitsethos: Die Familie war allein schon deswegen nicht unglücklich, weil beide Eltern ihr Selbstverständnis und Selbstwertgefühl aus den Ergebnissen der eigenen Arbeit schöpften. Gleichwohl hat Max Graf seine Entscheidungen meist gegen seine Ehefrau durchgesetzt. Oskar selbst wird später davon sprechen, von seinen Eltern zwei prägende Kräfte mitbekommen zu haben: das »Bäuerlich-Beharrliche meiner Mutter und der aufgeschlossene Unternehmungsgeist meines Vaters«.

In den Beschreibungen seiner Familie gibt Graf keine Hinweise darauf, dass jemand aus diesem Kreis ähnlich wie er einen künstlerischen Beruf angestrebt hat. Dennoch finden sich die Gründe für die Entscheidung, Schriftsteller zu werden, positiv und negativ in diesem engsten Kreis. Der Vater ließ seinen Kindern freie Hand bei der Berufswahl. Auch deswegen wird er von Graf nicht ohne Stolz als »weltoffen und grundsolid« beschrieben, mit einer »tiefeingewurzelten Abneigung gegen alles […], was nach Uniform aussah.« Kaiser Wilhelm II. war ihm nicht nur aufgrund der imperialen Geste »zuwider«. Vom Vater erhielt Graf die ersten Geschichtslektionen, in denen er Skepsis gegenüber Machtansprüchen und der politischen Rhetorik lernte, die diese verbirgt. Das Geschichts- und Menschenbild des Vaters bestärkte den Sohn darin, selbstbewusst der zu sein, der man durch die eigene Arbeit ist.

Geschwister

Über die Geschwisterkonstellation liest man in der Erzählung Der Quasterl: »Wir Geschwister Graf hatten alle die unbewußte Vorstellung, als ragten wir in jeder Hinsicht weit über unseresgleichen empor. Familienstolz und Kastengeist waren in uns ungewöhnlich stark ausgeprägt. In unserer verschwiegenen Überheblichkeit verachteten wir im Grunde genommen jeden, der nicht unmittelbar zu uns gehörte.« Der gemeinsamen Überlegenheit nach außen entsprach eine spannungsreiche Rivalität nach innen. In einem Brief an den Bruder Maurus wird das Zuhause noch im Jahr 1929 als »Zanknest« beschrieben, geprägt von einem »gehässige[n] Kleinkrieg, der in der Familie Graf so zu Hause ist«.

Drei Geschwister Grafs starben früh. Die anderen folgten dem von der Familie vorgezeichneten Weg. Max, der Älteste, übernahm den Betrieb des Vaters, die Schwester Therese wurde Schneiderin, Eugen Buchhalter und Maurus Konditormeister. Letzterer eröffnete in der heutigen Grafstraße 18 in Berg das Café Maurus. Emma, die bereits mit 28 Jahren starb, war Schneiderin. Lorenz, genannt Lenz, wählte wie der Vater den Beruf des Bäckers, Anna, genannt Nannderl, wurde Friseurin. Eugen und Lorenz wanderten – wie auch die Schwester des Vaters – noch vor dem Ersten Weltkrieg in die Vereinigten Staaten aus. Anfang der 1920er-Jahre folgte die Schwester Anna, die bis zu ihrer Emigration mit dem Bruder Maurus und der Mutter in Berg wohnen geblieben war.

 

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Abb. 2:
Gruppenbild der Mutter Therese mit (v. l.) Maurus, Anna (Nanndl), Oskar (sitzend), Lorenz (stehend) und Emma, um 1902

 

Graf prägten vor allem die drei älteren Brüder Max, Maurus und Lorenz. Es waren ungleiche Brüder: Max, »nüchtern, grob und herrschsüchtig«, wurde für Graf zum Symbol des Militarismus und Wilhelminismus. An ihm lernte der junge Graf geradezu intuitiv die Grundlagen der Gesellschaftskritik seiner Zeit. Sie wurde ihm buchstäblich eingeprügelt: »Zehn Jahre war ich alt, als einer in mein Leben trat, erzogen von Soldaten, Unteroffizieren und Offizieren, und meine Erziehung in die Hand nahm. Zehn Jahre als einer zu befehlen begann, mich anschrie, prügelte und noch mehr prügelte.« Lorenz, der »wildeste«, schrieb abenteuerliche Geschichten in Notizbüchern auf und erfand eine eigene Sprache. Maurus war der Leser und Literaturliebhaber in der Familie. Er las dem jüngeren Bruder Oskar immer wieder vor, verprügelte ihn allerdings auch manchmal, wenn dieser das Vorgelesene nicht verstand. Die Rivalität zwischen den beiden Brüdern in Fragen der Literatur scheint zeitlebens bestanden zu haben. Maurus hatte allerdings das Nachsehen. Er konnte lediglich einmal, 1929 im Simplicissimus, eine Geschichte veröffentlichen.

Kindheit und Jugend wurden von den Spannungen zwischen den Geschwistern durchzogen, gleichwohl bezeichnete Graf seine Kindheit später als »wundervoll«. Die 1932 erschienenen Erzählungen Dorfbanditen. Erlebnisse aus meinen Schul- und Lehrlingsjahren schildern Streiche aus dieser Zeit, die aus den Konflikten zwischen strengem Wertesystem und individueller Reaktion darauf entstehen. Die Art und Weise wie Graf die kindliche Phantasie als spielerische Einübung in das Leben beschreibt, zeigt eine selbstbewusste, gleichwohl aggressive Haltung auf. Die Kinder revoltieren gegen ein autoritäres Erziehungssystem, gegen den wilhelminischen Geist der Zeit mit einem eigenen Gerechtigkeitsempfinden. Offener als Ludwig Thoma in den Lausbubengeschichten beschreibt Graf in seinen Erlebnissen aber auch die Nöte und Ängste, aus denen Handlungen entstehen, bis hin zu schambesetzten basalen körperlichen Reaktionen.

Lehrjahre

Grafs erste Berufsziele lauteten Tierarzt, Erfinder oder »irgendetwas mit Universität«, jedoch konnte er sich dem Zugriff des Bruders Max, der von ihm die Mithilfe in der Bäckerei erwartete, zunächst nicht entziehen. Auf der anderen Seite standen die Lektüreerfahrungen, die Graf mit seinem Bruder Maurus, später auch mit der Schwester Nanndl machte. Die Anzahl und die Qualität der Werke, die er auf diese Weise in einer bürgertumsfernen Umgebung kennenlernte, überstiegen den Kanon bürgerlicher Sozialisation bei weitem. Nicht nur Shakespeare, Lessing, Schiller, Mörike und Lenau standen auf dem Programm, auch die moderne französische, skandinavische und russische Literatur sowie die wichtigsten Philosophen. Vieles hatte Graf auswendig gelernt und vor dem Zugriff des Bruders versteckt, denn Lesen war innerhalb der Familie starken Spannungen ausgesetzt. Der Bruder Max schätzte Bücher nicht und drohte Prügel für den Fall an, dass solche angeschafft und gelesen würden. Das Lesen, überhaupt der Umgang mit Literatur kann deshalb als Frontstellung gegen Max’ wilhelminisches Weltbild aufgefasst werden. Literatur wurde zum Medium der Individuation, der Selbstwerdung. Tatsächlich wird der Konflikt um die Literatur auch der Anlass für Graf sein, die Familie in Berg zu verlassen.

Graf arbeitete bereits als 11-Jähriger in der Bäckerei mit, seit 1905 unter dem Regiment des ältesten Bruders, bei dem er seit 1907 eine Bäckerlehre absolvierte. Als Max ein Versteck mit Bongs Klassiker-Ausgaben fand und seinen Bruder daraufhin verprügelte, nahm Graf seinen bereits gepackten Koffer, holte das Ersparte seiner Mutter für ihn, 300 Mark, von der Bank und zog im September 1911 mit 17 Jahren nach München. Die Verbundenheit mit dem Bäckerhandwerk blieb, die Trennung vom Bruder aber war endgültig.

 

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Abb. 3:
Oskar (3. Reihe v. o., links) mit seinen Schulkameraden in Aufkirchen

 

Gedichte sind in der Pubertät häufig eine Form der Selbstverständigung. Für Graf waren sie – wie auch die gelesenen Texte – ein Lebenselixier. Er entdeckte das Glück der Selbstfindung in der Literatur. Im Band Dorfbanditen erzählt er auch von abendlichen Lektürestunden, vor allem in den Wintermonaten, bei denen er mit seinem Vater gemeinsam in der Küche saß und las. Es sind aber nicht nur Bücher, die das Gespräch mit dem Vater ermöglichten. »Die Weltgeschichte griff in unser Dorf ein«, schreibt Graf im Leben meiner Mutter, und zwar in Form von illustrierten Zeitungen und Zeitschriften, darunter der Starnberger Land- und Seebote, Über Land und Meer, Gartenlaube, Jugend oder Simplicissimus.

 

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Abb. 4:
Oskar Maria Graf, um 1911

 

Im Umgang mit der Literatur entwickelte sich bei Graf ein autodidaktischer Impuls. Sein Talent wurde von keinem Pfarrer oder Lehrer gefördert, auch wenn er gute Schulleistungen vorzuweisen hatte. In der Erzählung Der Lehrer Männer hält er eine einzige Situation fest, in der dieser zumindest stillschweigend die Interessen des damals Elfjährigen anerkannte: Als der Lehrer anlässlich von Schillers 100. Todestag in der Klasse nach den Lektüregewohnheiten fragte, antwortete Graf, 19 Bücher besitze er, drei davon von Schiller: »Der Männer musterte mich, und ich glaube, alles was er bisher gegen mich hatte, verflog in diesem Augenblick.« Bemerkenswert ist in der Erzählung das wortlose Einverständnis ohne die Möglichkeit eines Gesprächsanschlusses. Wie bei einer Tangente, die einen Kreis streift, wird die Anerkennung kurz sichtbar, um dann wieder im Alltag unterzugehen. Eine der wenigen Bestätigungen erfuhr Graf als 16-Jähriger vom Reclam-Verlag Leipzig, bei dem er für eine Besprechung von Turgenevs Gedichte in Prosa einen Preis gewann: die Grashalme von Walt Whitman.

2   Bohemien in München, Ascona und Berlin

Von Beruf Schriftsteller

Als Graf in München ankam, brachte er das Selbstbewusstsein eines jungen Menschen mit, dessen Familie gesellschaftlich aufgestiegen war und die soziale Schicht gewechselt hatte. Und er brachte sein Selbstverständnis mit, das aus dem Umgang mit Büchern entstanden war. Das erste, was er drucken ließ, war eine Visitenkarte: »Oskar Graf Schriftsteller München«. Als Autodidakt wird er auf der sozialen Bühne der Schriftsteller und Intellektuellen länger brauchen, um seinen Platz zu behaupten. Eine seiner Strategien wird es später sein, von seiner anfänglichen Unwissenheit, von seinen Fehltritten, von der Scham und den Tollpatschigkeiten zu erzählen und sich auf dem literarischen Markt als derjenige zu behaupten, der vom Land kommt. Das Lachen der anderen darüber wird ihn, der sich zum Schelm macht, integrieren.

Graf fand in München eine ausdifferenzierte Literaturlandschaft vor. Es gehörte immer noch zu den führenden Kunststädten Europas. Kunstakademie, Bohemekultur, liberale Strömungen und die Entwicklung Münchens zu einem Verlags- und Zeitschriftenzentrum begünstigten die Entfaltung eines vielfältigen kulturellen Lebens. Karl Wolfskehl spricht in einem 1930 erschienenen Rückblick vom kulturellen Leben in der Stadt als einer »Produktivkraft«, der konservative Literaturkritiker Josef Hofmiller von einer »Treibhauskultur«. Hans Brandenburg schreibt in seinen Erinnerungen: »Schwabing war etwas Neues. Uns Jungen, unserem Heute, unserer Gegenwart war es wirklich ein Zustand, der uns als selbstverständlich und ewig erschien und in den wir uns streitbar und schmerzvoll-heiter einfügten, Spieler und Zuschauer zugleich. Es war neben den Cliquen, Schreiern und Mitläufern ein feinster geistiger Zellenbau, ein lebendiger Organismus aus Kreisen, die sich willkürlich und unwillkürlich, willig und unwillig berührten, anzogen und abstießen, überschnitten und durchkreuzten.«

Zunächst aber lebte Graf »alleine«. Er ging dem Beruf des Schriftstellers nach, wie er die Berufsausübung von zu Hause gewohnt war: Er produzierte Dramen und Gedichte, eins nach dem andern, und schickte die Texte an die potentiellen Abnehmer, die Verlage. Die Ablehnungen führten zur Neuausrichtung der Strategie. Graf änderte die Gattung, schrieb Aphorismen und oberbayerische Schrullen und schickte Texte an Zeitungsredaktionen. Noch zwei Jahre später wird er sich in Ascona als Witzeschreiber vorstellen. Einer Bewerbung um ein Stipendium fügte er 1912 Aphorismen (vermutlich aus der Münchener Allgemeinen Zeitung) und unveröffentlichte Gedichte an. Die Wahl der Formen mag der Bruder Maurus mitgeprägt haben, der selbst Gedichte und aphoristische Sentenzen in Notizbüchern festgehalten hatte.

Die Gruppe »Tat«

Nachdem das Ersparte aufgebraucht war, lebte Graf von Aushilfsarbeiten und kam durch Zufall über einen Zimmernachbarn 1912 in Kontakt mit der 1909 von Erich Mühsam gegründeten Gruppe »Tat«, einer Sektion von Gustav Landauers »Sozialistischem Bund«. Graf wurde Schriftführer in der Gruppe und mit dem Vertrieb von Landauers Der Sozialist beauftragt.

In den Schriften, die in der Gruppe »Tat« gelesen wurden, erfuhr Graf eine zumindest theoretische Erklärung für seinen bisherigen Werdegang. Aus Berg vor seinem Bruder geflohen, brachte er im Marschgepäck die Glückserlebnisse im Umgang mit der Literatur mit. Analog dazu waren Gesellschaftskritik und die befreiende Funktion der Kunst und Literatur auch für die Vordenker der Gruppe »Tat« zentrale Kennzeichen ihres anarchistisch verstandenen Sozialismus. Graf schrieb später, er habe den Sozialismus durch Mühsam und Landauer kennengelernt. Sie prägten seine Lebenshaltung bis in die 1920er-Jahre.

Beide hatten sich bereits 1899 in der »Neuen Gemeinschaft« in Berlin getroffen, in der das genossenschaftliche Prinzip einer Kommune in die Praxis umgesetzt werden sollte. Beide vertraten einen anarchistischen Sozialismus ohne Marx. Für beide war der Zusammenhang von Kunst und Politik von entscheidender Bedeutung für gesellschaftliche Veränderungen. Sie setzten auf die Selbstbefreiung der Individuen in den freien Künsten, aus der dann gesellschaftliche Veränderungen folgen sollten.

Gustav Landauer entwarf das Bild des »Neuen Menschen« in einer noch zu schaffenden Gesellschaft, indem er unablässig den »lebensdurchglühten und sich seiner Individualität bewußten Einzelnen« einforderte. Sein Aufruf zum Sozialismus