Inhaltsverzeichnis

Zum Buch

 

Das Bild des Bayernherzogs Tassilo III. (748–788) ist in der Geschichte ein Beispiel dafür, dass der Sieger in der Erinnerung Recht behält und der Besiegte eben Unrecht hatte. Selbst für die wissenschaftliche Geschichtsschreibung blieb Tassilo bis vor kurzem der „kleine Geist“, „Treubrüchige und Verräter“ oder „talentlose Politiker“, der seinen Vetter ersten Grades, Karl den Großen, mutwillig provozierte, bis es zur Katastrophe kam.

Nur zu leicht wird dabei vergessen, dass Tassilo gegen das expansive Großreich der Franken seinem Bayern eine derart starke und dauerhafte Struktur verlieh, dass Land und Leute von seinem eigenen und dem Untergang seiner Familie nicht mehr beschädigt werden konnten. Die Nachwelt sollte ihm dafür nicht bloß in Bayern danken.

Herwig Wolfram schildert eindrücklich das Schicksal des Bayernherzogs.

 

 

 

Zum Autor

 

Herwig Wolfram,
geb. 1934, ist em. o. Professor für Geschichte des Mittelalters und Historische Hilfswissenschaften, Universität Wien; 1983–2002 Direktor des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung.

Biografien machen Vergangenheit lebendig: Keine andere literarische Gattung verbindet so anschaulich den Menschen mit seiner Zeit, das Besondere mit dem Allgemeinen, das Bedingte mit dem Bedingenden. So ist Lesen Lernen und Vergnügen zugleich.

Dafür sind gut 100 Seiten genug – also ein Wochenende, eine längere Bahnfahrt, zwei Nachmittage im Café. Wobei klein nicht leichtgewichtig heißt: Die Autoren sind Fachleute, die wissenschaftlich Fundiertes auch für den verständlich machen, der zwar allgemein interessiert, aber nicht speziell vorgebildet ist.

Bayern ist von nahezu einzigartiger Vielfalt: Seinen großen Geschichtslandschaften Altbayern, Franken und Schwaben eignen unverwechselbares Profil und historische Tiefenschärfe. Sie prägten ihre Menschen – und wurden geprägt durch die Männer und Frauen, um die es hier geht: Herrscher und Gelehrte, Politiker und Künstler, Geistliche und Unternehmer – und andere mehr.

Das wollen die KLEINEN BAYERISCHEN BIOGRAFIEN: Bekannte Personen neu beleuchten, die unbekannten (wieder) entdecken – und alle zur Diskussion um eine zeitgemäße regionale Identität im Jahrhundert fortschreitender Globalisierung stellen. Eine Aufgabe mit Zukunft.

 

DR. THOMAS GÖTZ, Herausgeber der Buchreihe, geboren 1965, lehrt Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Regensburg. Veröffentlichungen zu Stadt und Bürgertum in der Neuzeit.

HERWIG WOLFRAM

 

 

 

Tassilo III.

 

 

Höchster Fürst und niedrigster Mönch

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag Friedrich Pustet
Regensburg

Impressum

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

 

eISBN 978-3-7917-6091-9 (epub)

© 2016 by Verlag Friedrich Pustet, Regensburg

eBook-Produktion: Friedrich Pustet, Regensburg

Umschlaggestaltung: Martin Veicht, Regensburg

 

Diese Publikation ist auch als Printprodukt erhältlich:

ISBN 978-3-7917-2792-9

 

Weitere Publikationen aus unserem Programm

finden Sie auf www.verlag-pustet.de

Informationen und Bestellungen unter verlag@pustet.de

 

 

 

Dem Andenken an Friedrich Prinz und Wilhelm Störmer gewidmet

Vorwort

Mit einer Lebensbeschreibung des fürstlichen, ja königgleichen Agilolfingerherzogs Tassilo III. (748–788) greift die so verdienstvolle Reihe »kleine bayerische biografien« weit über die Süd- und Südostgrenzen des heutigen Freistaats hinaus. Die gegenwärtigen österreichischen Bundesländer zwischen den Flüssen Lech und Enns und vom Arlberg bis zu den steirischen Fischbacher Alpen und den Kärntner Karawanken zählten ebenso zu Tassilos Bayern wie der Großteil Südtirols und der slowenischen Untersteiermark. So ist es kein Wunder, dass man sich diesseits wie jenseits von Salzach und Inn heute noch, wenn auch in regional unterschiedlicher Stärke, gerne an diesen Fürsten erinnert, zumal er ein tragisches Ende gefunden hat. Und Historiker, die sich in zunehmender Zahl diesseits wie jenseits des Atlantiks mit dem mitteleuropäischen Frühmittelalter beschäftigen, kommen an Tassilo ohnehin nicht vorbei, wie der Autor seit seiner in den 1960er-Jahren verfassten Habilitationsschrift aus eigener Erfahrung weiß. Er hat daher sehr gerne das Angebot des Verlegers und des Herausgebers angenommen, eine biografische Annäherung an die Person Tassilos III. zu versuchen.

Es ist aber nicht bloß Fritz Pustet und Thomas Götz, sondern vor allem der Lektorin Christiane Abspacher und der Bildredakteurin Elena Marie Meyer zu danken, dass das eingereichte Manuskript samt Bildvorschlägen die Form eines druckfertigen Buches erhielt. Zu danken ist der Bibliothekarin der Erzabtei St. Peter, Sonja Führer, und dem Bibliothekar des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Paul Herold. Ebenso seien Karl Brunner und Max Diesenberger für wertvolle Ratschläge und willkommene Korrekturen bedankt.

 

Eugendorf bei Salzburg im Frühjahr 2016

Herwig Wolfram

Einleitung oder das biografische Problem

Tassilo III. muss eine ganz außerordentliche Persönlichkeit gewesen sein, wenn es der Überlieferung, die zum Großteil die des feindlichen Vetters Karls des Großen ist, nicht gelingt, seine Gestalt hinter einer Wand von Vorwürfen und Vorurteilen verschwinden zu lassen. Auch sind die Quellen nicht alle so wortkarg wie etwa die ältesten Salzburger Annalen, die sogar über die Katastrophe von 788 nur mit den sechs Wörtern Tassilo tonsus est et captus Tassilo, »Tassilo wurde geschoren und gefangen (wurde) Tassilo«, berichten. Tatsächlich hat die Überlieferung auch andere, dramatischere Aussagen zu bieten, von denen hier einige vorweg genommen werden sollen. Tassilo beherrschte 40 Jahre lang, von 748 bis 788, ein königliches Fürstentum Bayern, das die Zeitgenossen ein Regnum nannten. Er galt den Bayern als »unser höchster Fürst«, nachdem er 763 seinem Onkel Pippin, dem mächtigen Frankenkönig, die Treue aufgesagt hatte und dennoch unbehelligt geblieben war. Er wurde als ein neuer Konstantin der Große gefeiert, als er 772 den hartnäckigsten Aufstand der heidnischen Karantanen niederwarf. All das waren Taten, die Zeitgenossen bewerteten, meist ohne lange über Motive zu berichten. Wenn dies aber geschieht, stammen Tassilos Beweggründe von seinen Gegnern.

Als er 787 auf dem Lechfeld vor Karl dem Großen kapitulieren und eine vasallitische Bindung eingehen musste, hat ihm diese Demütigung, heißt es, das Leben unerträglich gemacht. Danach wollte er zehn Söhne und nicht bloß seinen vergeiselten ältesten Sohn Theodo verlieren, bevor er die Abmachungen mit dem fränkischen Vetter einhielte. Als in Ingelheim die Katastrophe über ihn hereinbrach, soll er selbst seine Mönchung als Konfliktlösung vorgeschlagen, aber gebeten haben, den Rechtsakt nicht vor der Reichsversammlung zu vollziehen. Und nach seinem Sturz war Tassilo für Karl den Großen »der bösartige Mensch, unser Blutsverwandter, der uns das Herzogtum Bayern treulos entzogen hatte«.

Der zu Jahresende 741 geborene Bayernherzog Tassilo III. war ein Agilolfinger, und er wusste auch, dass er diesem Geschlecht angehörte. Es galt wie das der königlichen Merowinger als eine gens, als eine militärisch-politische Gemeinschaft, die einem Volk gleichwertig war. Beides kam auf dem europäischen Kontinent nicht häufig vor. Geschlechternamen wurden für gewöhnlich nach einem Spitzenahnen gebildet und zumeist als Fremdbezeichnungen verwendet. Nur selten sind sie auch schriftlich überlieferte Selbstbezeichnungen geworden. In diesen Fällen handelte es sich zumeist um hochrangige Königsfamilien, wie die vandalischen Hasdingen Geiserichs, die fränkischen Merowinger Chlodwigs, die gotischen Balthen Alarichs I. und wahrlich nicht zuletzt die gotischen Amaler Theoderichs des Großen, der für die bayerischen Ursprünge von großer Bedeutung war. In dessen überlangen Stammbaum nimmt nach drei Götternamen ein Amal den vierten Platz als Spitzenahn des Geschlechts ein, »von dem sich die Herkunft der Amaler herleitet«. Obwohl für Tassilo kein vergleichbarer Stammbaum bekannt ist, darf man mit Sicherheit annehmen, dass ein Agilulf der Spitzenahn der Agilolfinger war. Da es mehrere historische Träger des Namens gab, wurden zahlreiche »originalistische« Versuche unternommen, einen von ihnen als Ahnherrn der Agilolfinger zu bestimmen. Abgesehen davon, dass die dabei entworfenen Theorien und Hypothesen einander aufheben, lässt sich mit keinem dieser Agilulfe eine bayerische Geschichte erzählen.

Die Agilolfinger waren ursprünglich ein fränkisches oder franko–burgundisches Geschlecht, das einzige neben den Merowingern, das bereits im 7. Jahrhundert einen Namen hatte. Als in den frühen 620er-Jahren Chrodoald »aus dem edlen Geschlecht der Agilolfinger« bei König Dagobert I. (621–639) in Ungnade fiel und ermordet wurde, geschah dies nicht zuletzt auf Betreiben des »überaus heiligmäßigen« Bischofs Arnulf von Metz und des Hausmeiers Pippin I., die beide als Ahnherren der Karolinger verehrt wurden. Chrodoalds Sohn Fara fand 640/41 den Tod, weil er sich dem Thüringerherzog Radulf anschloss, der erfolgreich seine Eigenständigkeit gegenüber dem Frankenkönig Sigibert III. (633/34–656/57) behauptete. Und auch für diesen Totschlag war ein Vorfahre der Karolinger verantwortlich.1 Der agilolfingisch-karolingische Gegensatz hatte eine lange Geschichte und begann nicht erst mit dem Skandal um Tassilos Geburt. Die Agilolfinger besaßen jedoch nicht bloß einen hohen adeligen Status im Frankenreich, sondern stellten zugleich auch über 100 Jahre die Könige der italienischen Langobarden.

Tassilo verlor mit etwa sechs Jahren den Vater Odilo und mit 13 Jahren die Mutter Hiltrud. In welcher Weise wurde er dadurch geprägt? Es ist heutzutage eine Binsenweisheit, dass Kindheit und Jugend das Leben eines Menschen maßgeblich bestimmen. Man mag mit Curt Goetz darüber räsonieren, dass »die Jugend das schönste Alter« sei, aber in der Tassilozeit hätte niemand dieses Bonmot verstanden. Die Jugend galt nicht als eigener Lebensabschnitt. Sie war von so geringem Wert und Interesse, dass selbst der sorgfältige Biograf Einhard wohl wider besseres Wissen und dennoch unwidersprochen behaupten konnte, er habe über Karls des Großen Kinder- und Jugendjahre keine Informationen besessen. Aber es ist wenigstens bekannt, dass Karl fünf Geschwister hatte, von denen drei, zwei Schwestern und ein Bruder, im Kindesalter starben.2 Blieb dagegen Tassilo ein Einzelkind? Die Ehe seiner Eltern dauerte doch noch gut sechs Jahre nach seiner Geburt. Wir wissen es nicht.

Nach dem Tode Odilos übernahm dessen Witwe Hiltrud auf Befehl ihres Bruders Pippin die Vormundschaft über den kleinen Buben, der jedoch nach außen sogleich als vollberechtigter Herzog der Bayern auftrat. Trotzdem verhinderten die Bayern nicht, dass Tassilo mit seiner Mutter in die Gewalt seines Onkels Grifo geriet. Daraus musste er erst durch seinen anderen Onkel Pippin befreit werden, wurde jedoch keineswegs frei. Tassilo blieb unter der Vormundschaft seiner Mutter, nach deren Tod im Jahre 754 der Frankenkönig der unmittelbare Vormund der Vollwaisen wurde. Möglicherweise hat Tassilo seine Mutter geliebt, deren Bruder Pippin sicher nicht. Mehr ist nicht zu sagen.

Tassilo hat seinen Onkel Pippin wahrscheinlich erst auf dem Maifeld von 755 kennen gelernt. Wer hat sich nach dem Tod der Mutter um Tassilo gekümmert? Männer wie der Graf Machelm und sein Bruder Wenilo dürften die Geschäfte geführt haben. Aber welche Personen standen dem Heranwachsenden wirklich nahe? Überliefert werden nur Haupt- und Staatsaktionen, wie etwa seine Teilnahme an Pippins Feldzug 756 gegen den Langobardenkönig Aistulf. Hatte Tassilo, der Sohn von nichtbayerischen Eltern, Verwandte im Land, etwa aus der Familie Swanahilds, der Geburtshelferin seiner Mutter? Im Jahre 772 bezeichnet sich ein Hiltiprant als Verwandter Tassilos, und noch viel mehr Verwandtschaft sucht man unter den bayerischen Genealogien der Huosi, Fagana und Feringa. Hatte der junge Mann und wenn ja, ab wann eine Friedl, eine Jugendgefährtin, vor der Ehe mit Liutpirc gehabt? Die späte Gründungssage von Kremsmünster kennt einen Tassilo-Sohn Gunther, der auf der Jagd von einem Eber getötet wurde, demnach um einiges älter als Tassilos ältester bekannter Sohn Theodo gewesen sein muss. In der Überlieferung des 8. Jahrhunderts findet sich jedoch kein wie immer gearteter Hinweis auf einen Herzogssohn Gunther. Dessen um 1300 entstandenes, sehr qualitätvolles Hochgrab ist in der Guntherkapelle der Stiftskirche zu bewundern. Da auch Wessobrunn seine Gründung auf ein Jagderlebnis Tassilos zurückführte, dürfte es sich um eine Wandersage gehandelt haben. Allerdings war der Nibelungen-Name Gunther sowohl Teil der karolingischen wie der agilolfingischen Tradition.3

Tassilo heiratete eher 764 als 763 mit etwa 22 oder 23 Jahren die langobardische Königstochter Liutpirc. Sie war eine starke Frau, die ihre königliche Abkunft betonte und an der Politik Tassilos tatkräftig mitwirkte. Das Ehepaar hatte vier Kinder, zwei Söhne und zwei Töchter. Theodo war der Älteste und kam wohl schon 765 zur Welt, weil er 777 bereits an der Gründung von Kremsmünster rechtsverbindlich mitwirkte, Theodebert war der Jüngste der Kinder. Im Salzburger Verbrüderungsbuch fehlt sein Name. War er im Herbst 784 noch nicht auf der Welt? Dann wäre Theodebert an die 20 Jahre jünger als sein Bruder und beim Sturz des Vaters ein Kleinkind von kaum mehr als drei Jahren gewesen. Eine derartige »Familienaufstellung« ist zwar möglich. Aber wahrscheinlicher wirkt, dass Theodebert deswegen nicht in die Salzburger Verbrüderung aufgenommen wurde, weil er noch nicht volljährig war und die darin festgelegten Verpflichtungen nicht erfüllen konnte. Zwischen den Söhnen, die wie der Vater alte agilolfingische Namen trugen, hatte das Ehepaar die Töchter Cotani und Hrodrud. Auch Karl der Große hatte eine Hrodrud; sie war sogar seine Lieblingstochter und sollte nach Byzanz heiraten. Wahrscheinlich liebten Tassilo und Liutpirc einander, was von Tassilos Eltern Odilo und Hiltrud mit Sicherheit anzunehmen ist. Ohne Zweifel war Hiltrud eine starke Persönlichkeit und gute Politikerin, da es ihr gelang, Bayern ihrem Sohn zu erhalten, obwohl sie ihr Bruder Pippin bloß aus der Ferne unterstützte. Sie starb als Äbtissin von Nonnberg, doch ist nicht bekannt, ab wann und wie sie dieses Amt ausgeübt hatte.4

Wer aber war Tassilo wirklich? Die Antworten auf diese Frage, die die Quellenlage erlaubt, sind karg und lückenhaft. Daher ist nicht nur den Ereignissen seines Lebens nachzugehen, sondern auch die Geschichte seiner Herrschaft, seines Landes und seiner Leute zu erzählen.

1   Die schriftliche Überlieferung

Wer Fragen an die schriftliche Überlieferung stellt, muss wissen, was sie zu bieten hat, woraus sie im Allgemeinen und im Besonderen besteht. Systematisch wird unterschieden zwischen intentionalen und funktionalen Quellen. Intentional sind grob gesprochen alle Quellen, die in der Absicht verfasst wurden, Gegenwart und Nachwelt eine Geschichte im Sinne des Verfassers zu erzählen, wie dies etwa Chroniken, Annalen, Biografien und Heiligenlegenden tun. Die fränkischen Annalenberichte über das Verhältnis Tassilos zu Pippin und Karl dem Großen sind dafür gute Beispiele. Die intentionalen gelten auch als historiografische Quellen. Und dann gibt es die funktionalen oder administrativen Quellen, allen voran die Urkunden und ihre Bearbeitungen, die gerade im Bayern des 8. und 9. Jahrhunderts eine besondere Blüte erlebten. Urkunden wollen ein Rechtsgeschäft für Zeit und Ewigkeit regeln, aber keine Geschichte erzählen. Sind sie echt und datiert, vermitteln sie dem Historiker verlässliche Daten für seine Aufgabe, daraus Fakten zu machen.5

Chroniken, Annalen, Heiligenlegenden

Aus dem 7. Jahrhundert reicht in unsere Epoche die sogenannte Fredegar-Chronik, deren Überarbeitungen und Fortsetzungen bis zum Tode Pippins I. im Jahre 768 geführt wurden. Dann sind die vielfältigen fränkischen Annalen mit den späteren offiziösen Reichsannalen an der Spitze zu nennen, die das Bild Tassilos in den schwärzesten Farben malen und es für die Nachwelt nahezu bis heute verdunkeln. Gegenüber der karolingischen sind die bayerischen, besonders die in Salzburg und Regensburg entstandenen Annalen quantitativ und qualitativ von geringerer Bedeutung. Wie Ian Wood und Max Diesenberger gezeigt haben, richteten sich die Legenden dreier bayerischer Gründerheiliger gegen Bonifatius und sein Werk, ohne ihn namentlich zu nennen: Die verlorene Urfassung einer Vita Hrodberti dürfte wahrscheinlich schon 746/47 auf Betreiben Virgils von Salzburg entstanden sein. Nachweisbar regte der Ire seinen Amtsbruder Arbeo von Freising zur Abfassung des Lebens Corbinians an. Nachdem der Bischof die Reliquien des Heiligen um 769 für Freising mit Hilfe Tassilos erworben hatte, entstand dessen Vita entweder noch 769 oder wenig später. Darauf ließ Arbeo die Leidensgeschichte Emmerams, des Regensburger Gründerheiligen, folgen. Die Entstehung beider Heiligenlegenden wird demnach zwischen 769 und 772 angenommen.6

Der 1517 zum bayerischen Hofhistoriografen bestellte Johannes Aventin(us) kannte und benützte offensichtlich heute verlorene Quellen zur bayerischen Frühgeschichte, darunter angeblich auch die Schrift eines tassilonischen Hofkaplans namens Creontius/Crantz, der eine Vita Tassilonis ducis verfasst haben soll. Wenn diese Information auf Wahrheit beruht, wäre dieses Werk die älteste frühmittelalterliche Biografie, und zwar noch deutlich älter als Einhards Vita Karoli Magni, gewesen. Mehr ist dazu nicht zu sagen, weil die Schrift des Creontius, wenn überhaupt Aventin als letzter nachweisbar gesehen hat.

Urkunden

Von ganz großer Bedeutung sind die in Freising erhaltenen Urkundenschätze. Darunter befinden sich die Gründungsurkunden für die Klöster Scharnitz und Innichen, während die für Kremsmünster außerhalb der Freisinger Sammlung überliefert ist. Dazu kommen die Urkundensammlungen der Klöster Mondsee und Niederaltaich (Breviarius Urolfi) sowie die der Bistümer Passau und Regensburg. Die große Zahl der für Salzburg ausgestellten Urkunden ist in den voneinander unabhängigen Bearbeitungen der Notitia Arnonis (788/90) und der Breves Notitiae (798/800) überliefert. Die Güterverzeichnisse nennen zumeist nur den Schenker sowie den Rechts- und Sachinhalt der einstigen Schenkungsurkunde. In bestimmten Fällen wichen die Bearbeiter jedoch von ihrem System ab und begannen eine Geschichte zu erzählen, so dass sie intentionale und funktionale Elemente mischten. Obwohl so gut wie keine Originalurkunden erhalten blieben, wäre es ohne diese Überlieferung nicht möglich, eine Geschichte Bayerns im 8. und 9. Jahrhundert zu schreiben.7

 

Wolfram_Abbildung

 

Abb. 1: Die Namen der lebenden Herzöge und Könige sowie der verstorbenen Herzöge und Könige im ältesten Verbrüderungsbuch der Erzabtei St. Peter. – Salzburg, 784.

 

Drei Diplome Karls des Großen beschäftigen sich nach dem Sturz Tassilos mit Bayern: die Verleihung Herrenchiemsees an den Bischof von Metz im Sommer 788, die Bestätigung der tassilonischen Stiftungsurkunde von 777 für Kremsmünster Anfang Januar 791 und eher Ende 793 als 791 die Bestätigung aller Schenkungen, die »Könige und Königinnen, Herzoge und andere gottesfürchtige Menschen« zugunsten Salzburgs getätigt hatten. Das zuletzt genannte Diplom spezifizierte wohl für Salzburg die generelle königliche Anerkennung des Besitzstandes der bayerischen Kirchen im Jahre 793.8

Unter den Rechtsquellen sind zu nennen: die Lex Baioariorum und ihre Zusätze, die Decreta Tassilonis, erlassen auf den Synoden von Neuching im Oktober 771 oder 772 und Dingolfing, wahrscheinlich 776/77. Die Frage nach Zeit wie Art der Entstehung des Bayernrechts – als Einheit oder in verschiedenen Entwicklungsstufen – gehört zu den schwierigsten Problemen der germanistischen Rechtsgeschichte. Wahrscheinlich hat der Frankenkönig Dagobert I. (623–639) auf die Kodifizierung der »Volksrechte« der Alemannen und Bayern Einfluss genommen; doch gab es wohl ältere fränkische Vorstufen. Die Schlussredaktion des Bayernrechts, wie es heute vorliegt, erfolgte im Wesentlichen erst vor der Mitte des 8. Jahrhunderts. Eine Quelle ganz besonderer Art ist das Salzburger Verbrüderungsbuch.

 

Das Salzburger Verbrüderungsbuch

Der Liber confraternitatum Salisburgensis ist der Liber vitae, das »Verzeichnis der Lebenden und Toten«, mit denen sich Kloster und Bistum Salzburg im Gebet verbrüdert hatten. Der Grundstock wurde im Todesjahr Bischof Virgils 784 angelegt, ist die drittälteste datierbare Handschrift in karolingischer Minuskel und liegt als anerkanntes Weltkulturerbe heute noch im Archiv der Erzabtei St. Peter zu Salzburg. Das Verbrüderungsbuch enthält die Namen von geistlichen und weltlichen Großen, von Königen und Königinnen, von Herzogen und Herzoginnen, Bischöfen, Äbten und Äbtissinnen.

 

 

Obwohl erst 870 verfasst, bringen die Kapitel 2 bis 6 der Conversio Bagoariorum et Carantanorum, der in Salzburg entstandenen Bekehrungsgeschichte der Bayern und Karantanen, die so gut wie einzigen Informationen über die Frühgeschichte der alpenslawischen Karantanen und die Salzburger Missionen in Karantanien, die zum Großteil in der Tassilozeit erfolgten.

2   Der Aufstieg Tassilos

Der Skandal um Tassilos Geburt und die Folgen: 740/41–748

Eine vornehmlich agilolfingische Gruppe von Herzögen im Osten des Frankenreichs verweigerte um 700 der Zentralgewalt den Gehorsam. Sie begründeten ihre Haltung mit der Entmachtung der Merowinger durch die karolingischen Hausmeier. Diese würden den unmittelbaren Dienst der Herzöge für ihre angestammten Könige verhindern. Der Sprecher der Gruppe war der alemannische Herzog Gotfrid, Tassilos III. Großvater väterlicherseits.9 Gotfrids viertem Sohn Odilo, dem Vater Tassilos, scheint es jedoch gelungen zu sein, das Vertrauen des Hausmeiers Karl Martell zu gewinnen, so dass er ihn nach dem Aussterben der bayerischen Agilolfinger als Bayernherzog einsetzte. Sicher hat ihm der Umstand geholfen, dass Karl Martell, der tatsächliche Herrscher des Frankenreichs, eine Verwandte Odilos namens Swanahild in zweiter Ehe geheiratet hatte. Odilo (736/37–748) erfüllte die Anforderungen des Bayernrechtes, wonach den Agilolfingern das Herzogtum zustehe, und dürfte in den Augen Karl Martells der für die Regierung im Augenblick geeignetste Angehörige des Geschlechts gewesen sein.