Zum Buch

 

Die Kultur- und Geistesbewegung der Aufklärung im München des 18. Jahrhunderts – getragen von Gelehrten, Beamten, Geistlichen und durch den Staat unterstützt – hat tiefe, mitunter bis in die Gegenwart nachwirkende Spuren hinterlassen. Das Bestreben nach Veränderung und Verbesserung durchdrang die unterschiedlichsten Lebensfelder, die vielfachen und vielgestaltigen Maßnahmen der Modernisierer zielten auf einen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, pädagogischen und soziokulturellen Fortschritt.

Manfred Knedlik spürt der Geschichte des Aufklärungsprozesses sowie seinen Höhepunkten nach und stellt wichtige Medien und Protagonisten der Aufklärung in der kurfürstlichen Haupt- und Residenzstadt vor.

 

 

 

Zum Autor

 

Manfred Knedlik,
M. A., geb. 1961, ist freier Lektor, Autor und Lexikonredakteur; zahlreiche Buchveröffentlichungen zur bayerischen Literatur- und Kulturgeschichte vom 16. bis zum 18. Jahrhundert.

MANFRED KNEDLIK

Aufklärung in München
Schlaglichter einer Aufbruchszeit

VERLAG FRIEDRICH PUSTET

REGENSBURG

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

eISBN 978-3-7917-6050-6 (epub)

© 2015 by Verlag Friedrich Pustet, Regensburg

eBook-Produktion: Friedrich Pustet, Regensburg

Umschlaggestaltung: Martin Veicht, Regensburg

 

Diese Publikation ist auch als Printprodukt erhältlich:

ISBN 978-3-7917-2650-2

 

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»MÜNCHEN WILL GAR NICHT ERÖRTERT, MÜNCHEN WILL GELEBT UND GELIEBT SEIN.« Wer möchte Ernst Heimeran (1902–1955), dem dieses so urmünchnerisch klingende Leitmotiv zugeschrieben wird, ernsthaft widersprechen? Doch vielleicht wird man ihn ergänzen dürfen, ihn, den großen Verleger und Autor, der in Schwabing das Gymnasium besuchte und wie viele als „Zuagroaster“ in München Wurzeln schlug: Die Liebe zur ersten oder zweiten Heimat schließt die Kenntnis über sie nicht aus – und umgekehrt.

Die Geschichte einer Stadt ist ebenso unerschöpflich wie die Geschichten, die in ihr spielen. Ihre Gesamtheit macht sie unverwechselbar. Ob dramatische Ereignisse und soziale Konflikte, hohe Kunst oder niederer Alltag, Steingewordenes oder Grüngebliebenes: Stadtgeschichte ist totale Geschichte im regionalen Rahmen – zu der auch das Umland gehört, von dem die Stadt lebt und das von ihr geprägt wird.

München ist vergleichsweise jung, doch die über 850 Jahre Vergangenheit haben nicht nur vor Ort, sondern auch in den Bibliotheken Spuren hinterlassen: Regalmeter über Regalmeter füllen die Erkenntnisse der Spezialisten. Diese dem interessierten Laien im Großraum München fachkundig und gut lesbar zu erschließen, ist das Anliegen der Kleinen Münchner Geschichten – wobei klein weniger kurz als kurzweilig meint.

So reichen dann auch 140 Seiten, zwei Nachmittage im Park oder Café, ein paar S- oder U-Bahnfahrten für jedes Thema. Nach und nach wird die Reihe die bekannteren Geschichten neu beleuchten und die unbekannteren dem Vergessen entreißen. Sie wird die schönen Seiten der schönsten Millionenstadt Deutschlands ebenso herausstellen wie manch hässliche nicht verschweigen. Auch Großstadt kann Heimat sein – gerade wenn man ihre Geschichte(n) kennt.

 

 

DR. THOMAS GÖTZ, Herausgeber der Buchreihe, lehrt Neuere/Neueste Geschichte an der Universität Regensburg und forscht zu Stadt und Bürgertum in der Neuzeit.

„Platz machen dem Licht in Verstand und Herz“: Aufklärung in München – ein verkanntes Phänomen

Mit der ‚Aufklärung‘ – wie immer man dieses Phänomen definieren mag – gewann im 18. Jahrhundert eine Geistesbewegung an historischer Relevanz, die in dieser großen Umbruchphase der europäischen Geschichte nachhaltig auf die unterschiedlichsten Lebensfelder einwirkte. Das ‚Zeitalter des Lichts‘, wie sich der Begriff metaphorisch umschreiben lässt, bemühte sich um neue Wege, die unterschiedlich – evolutionär wie revolutionär – beschritten wurden. Zum leitenden Postulat erhoben wurde der Herrschaftsanspruch der Vernunft. Sie erlaube ein Urteil ‚über Gott und die Welt‘, und sie ermögliche dem ‚Erleuchteten‘ oder ‚Aufgeklärten‘, gestaltenden Einfluss auf die eigene oder die gesellschaftliche Lebenswirklichkeit zu nehmen. Einen vernunftphilosophischen Gebrauch des Wortes ‚Aufklärung‘ lässt in Deutschland bereits der erste einschlägige Beleg (Kaspar Stieler, „Teutscher Sprachschatz“, 1691) mit der Verbindung „Aufklärung des Verstandes“ erkennen. Durch die Entwicklung des geistigen Wahrnehmungs- und Reflexionsvermögens sollte ein wie immer gearteter ‚Fortschritt‘ befördert werden. Der Gewinn von neuen, klaren Erkenntnissen oder Einsichten vollzog sich über die Kritik oder im Sprachgebrauch der Zeit: den ‚vernünftigen Zweifel‘. Die Kritik griff auf vielerlei Bereiche aus: auf Religion und Theologie, auf Staat und Gesellschaft, auf Literatur und Kunst. Zuallererst ging es um die kritische ‚Prüfung‘ jeglicher Tradition und Autorität, um die Bekämpfung von Vorurteilen, Aberglauben, Schwärmerei und so weiter.

Die Frage nun, ob das Kurfürstentum Bayern oder wenigstens seine kunst- und kulturbeflissene Haupt- und Residenzstadt München an den geistigen Strömungen des (Aufklärungs-)Zeitalters teilhabe, wurde von der überwiegenden Mehrzahl der zeitgenössischen Publizisten und Reiseschriftsteller aus dem mittleren und nördlichen Deutschland vehement verneint. Ein prägnantes – und wirkungsmächtiges – Beispiel bietet Friedrich Nicolais „Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781“, die aus aufklärerischer Perspektive einen kritischen Blick auf die politischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Zustände im katholischen Süden richtete. Der Berliner Verleger erkannte in München durchaus Fortschritte in Fragen der Aufklärung, abgestoßen fühlte er sich hingegen von Bigotterie, „mechanischen Andachtsübungen“ und „katholischem Aberglauben“, überhaupt von einem zu starken Einfluss der Kirche auf Schule und Bildung. Auch Reisende wie Johann Kaspar Riesbeck oder Wilhelm Ludwig Wekhrlin zeichneten ein ähnliches Negativbild, und der 1786/87 in München lebende Schriftsteller Carl Ignaz Geiger fand im Kurfürstentum „tiefe Barbarey“ verbreitet, die er vor allem dem Wirken der Mönche anlastete. Um Objektivität bemühte Urteile bildeten die Ausnahme. Nach Meinung eines württembergischen Geistlichen, der 1789 die Eindrücke seiner „Reisen durch das südliche Teutschland“ schilderte, verdienten die Bayern „die abscheulichen Beschreibungen, und den Lärm, den neuere Reisende und Beobachter von ihnen gemacht haben, nicht ganz“, jedoch polemisierte auch er gegen das „Pfaffenvolk, die Feinde des Lichts“, die fortschrittlich gesinnten Männern „die Fackel der Aufklärung mit ihrem Unflath ausgelöscht hätten“.

Verfehlt wäre es allerdings, die Wahrnehmungen der reisenden Publizisten – mitunter entgegen ihren eigenen Ankündigungen – als Tatsachenberichte zu lesen und das komplexe Wechselverhältnis von Fremd- und Selbstwahrnehmung außer Acht zu lassen. Häufig reagieren die auswärtigen Autoren nicht vorurteilsfrei auf das Fremde, dem sie begegnen, häufig vermischen sich – aus ihrer subjektiven Sicht heraus – Fakten mit Fiktionen. Auch in Bayern selbst waren im 18. Jahrhundert kritische Stimmen über den geistigen Entwicklungsstand zu vernehmen. Wiederum aber gilt es zu bedenken, dass diesen Schilderungen gleichfalls eine subjektive Wahrnehmungsweise eingeschrieben ist. Die vorgeblichen Berichterstatter sind alles andere als unvoreingenommene Gewährsmänner, auch sie können sich nicht von stereotypen Bildern und Vorstellungen befreien; ein prominentes Beispiel bietet Johann Pezzls „Reise durch den Baierischen Kreis“ von 1784, die zu einer polemischen Generalabrechnung mit südlicher Rückständigkeit gerät. Realistischer, wenngleich in ein Spiel literarischer Fiktion eingebettet, wirkt eine Einschätzung Lorenz von Westenrieders, des bedeutendsten, produktivsten und vielseitigsten Aufklärers im alten Bayern. Eingestreut in seinen empfindsamen Roman „Geschichte der schönen Bürgerstochter von München“ (1780) sind einige Briefpassagen, die ein Bild der kulturell-intellektuellen Entwicklung der Stadt und ihrer Einwohner um 1780 zeichnen. Erwähnenswert findet Westenrieder die Spannung zwischen Verkrustung und Erneuerung: „München ist eine der prächtigsten, schönsten Städte in Deutschland, und sie wird dir gewiß eine der merkwürdigsten und lehrreichesten auf allen deinen Reisen verbleiben. Hier leben Menschen aller Arten … Du wirst darinn die kühnste Freyheit im Denken, Reden, und Schreiben, eine Freyheit, deren nur selten ein Land genüßt, und zugleich die eingeschränktesten Köpfe mit engen Herzen; Aufklärung und Unwissenheit; das hartnäckigste Verharren, und Hangen an alter Sitte, und Tracht, und das Nachäffen jeder ausländischen Mode; gesellige Lebensart der großen Welt, und blöden steifen Hauszwang wahrnehmen.“ Spürbar wird – natürlich, ist man geneigt zu sagen – in dieser Passage die Ernüchterung und Enttäuschung des Modernisierers über die allzu langsamen Fortschritte auf geistigem Gebiet, und doch gelingt die Wendung zur objektivierenden, nicht normativ wertenden Darstellung einer komplexen Wirklichkeit. Klarsichtig erfasst Westenrieder die sehr eigene Physiognomie Münchens zwischen den Polen Tradition und Innovation, zwischen Beschränkung und Freiheit – und das ohne Rückgriff auf gängige Klischees und Vorurteile.

Dass Westenrieder die sozialen, kulturellen und religiösen Verhältnisse in seiner Vaterstadt immer genau beobachtet und registriert hat, zeigen seine Tagebuchaufzeichnungen, vor allem auch seine große, zusammenhängende „Beschreibung der Haupt- und Residenzstadt München (im gegenwärtigen Zustand)“ von 1782. Zwar kann die Stadttopografie den aufklärerischen Blickwinkel nicht verleugnen, doch ist insbesondere der Versuch einer volkskundlichen Charakteristik nicht von jenem intoleranten Unverständnis für katholische Frömmigkeit geprägt, das in vielen Reisebriefen von (meist protestantischen) Besuchern Münchens begegnet. Im Gegenteil: Mit seiner Kritik an der staatlichen Einschränkung des Fronleichnamsfestes einiger „zufälliger Mißbräuche wegen“ nimmt der bayerische Aufklärer sogar eine aufklärungskritische Position ein. Gegenüber radikalen Forderungen nach einem Verbot solcher Bräuche und Feste hält er diese Erscheinungsform der Volksfrömmigkeit als unverzichtbar für die menschliche Herzensbildung; das ritualisierte, sinnliche Kirchenfest sei ein „Beweis von einer tiefen Versunkenheit des Verstands und des Gefühls“ und bringe in besonderer Weise die religiös geprägte Kultur des katholischen Bayern zum Ausdruck.

Damit ist die Frage nach dem Stellenwert der Religion aufgeworfen. Nach Kants berühmter, vielzitierter Formulierung aus seiner Abhandlung „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ von 1784 wurde die Befreiung des Menschen aus der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“, die der Gebrauch des Verstandes ermöglichen würde, insbesondere durch „Religionssachen“ behindert. Auch in der katholischen Welt gab es ein Bekenntnis zu aufgeklärten Zielen, auch hier folgerte die Anwendung der Vernunft auf Religion und Gesellschaft – die schrankenlose Autonomie der Ratio konnte jedoch nicht das Leitbild sein. Westenrieders zitierte Absage an die rationalistische Einschränkung des Menschen auf seine Verstandestätigkeit ist dafür ein signifikanter Beleg. Trotz aller Religionskritik blieb ein geistiger Bezug zum Christentum bestehen. Auch der schärfste Religionskritiker war „insofern noch immer religiös, als er die Religion wichtig genug fand, um sie zu kritisieren“ (Harm Klueting). Grundziel in Bayern und anderswo im Süden wurde, Aufklärung und Katholizismus zusammenzuführen. In der Sonderform der katholischen Aufklärung leistete der oberdeutsche Raum in einer eigenen, moderaten, oftmals auch nur rezeptiven Weise einen Beitrag zur allgemeinen Fortschrittsbewegung des 18. Jahrhunderts.

In der überregionalen (Aufklärungs-)Forschung werden diese Prozesse – noch immer – nicht in erwünschtem Ausmaß zur Kenntnis genommen, zahlreiche Überblicksdarstellungen zur deutschen Kulturgeschichte übergehen sie gänzlich, um eine vermeintliche Randerscheinung nicht überzubetonen. Dabei hat insbesondere die bayerische Landesgeschichte seit Jahrzehnten mit gründlichen Studien zu diesem Themenfeld die Voraussetzungen für eine Neubewertung geliefert und mit Nachdruck den Blick auf den gewichtigen Beitrag des Südens zur ‚modernen‘ Kulturentwicklung des 18. Jahrhunderts zu lenken versucht. Die bestimmenden Namen auf diesem Gebiet der Kulturgeschichtsforschung in Bayern wurden Max Spindler, Andreas Kraus, Ludwig Hammermayer, Richard van Dülmen und Alois Schmid.

Dass das Kurfürstentum Bayern, zumal seine Haupt- und Residenzstadt München als geistiges Zentrum des Landes, keineswegs jener finstere und abergläubische Hort der Reaktion war, wie die kritischen ‚Beobachtungen‘ der reisenden Publizisten und Literaten suggerieren, ist durch die Schrift- und Sachüberlieferung vielfach zu belegen. Freilich: Die Aufklärung als einen kontinuierlich fortschreitenden Prozess gab es nicht, weder in München noch in Kurbayern oder anderswo. Nie fehlte es an Gegnern (in Politik, Klerus, Verwaltung, Publizistik) und Widerständen; im Bild von Sisyphos, der unablässig einen Felsbrocken zur Bergspitze hinaufwälzen muss, fasste der Münchner Autor der „Pragmatischen Geschichte der Schulreformation“ (1783) das Empfinden der Neuerer zusammen: „Der grosse Körper einer gesellschaftlichen Nation ist … eine ungeheure Maschine, die von ihrem Standorte nicht fort will, und die man nur mit grosser Mühe, und nach vielen Jahren auf einen Hügel hinaufwälzt, und ist sie droben, so ist es gar wohl möglich, daß sie in weit kürzerer Zeit wiederum in das Thal herab fallen kann. Zeiten, Sitten, Leidenschaften, Vorurtheile, Macht der Gewohnheit, Regierungsart, Clima haben ihre Einflüsse in dem Fort- und Zurückgang einer gesellschaftlichen Aufklärung.“ Und doch wussten sich die Aufklärer durchzusetzen und die neuen Ideen – zur intendierten Wohlfahrt des Landes – im heimatlichen Raum zu verbreiten. Selbst skeptische Zeitgenossen sahen in der Mitte des Jahrhunderts, nach der Gründung einer wissenschaftlichen Akademie, mit der die Institutionalisierung der Bewegung gelang, eine „Morgenröthe“ heraufziehen.

Nirgends vollzog sich die Aufklärung unabhängig von Raum und Zeit, nirgends bildete sie eine einheitliche und geschlossene Kulturbewegung durch das gesamte 18. Jahrhundert. Vielmehr erfolgte ihre Durchsetzung in Phasen, oft ihrerseits einer mehrfachen Veränderung unterworfen, bedingt durch historische, politische, religiöse oder wirtschaftliche Gegebenheiten. Zu Recht hat Richard van Dülmen von einem Strukturwandel der Aufklärung in Bayern gesprochen. Demnach ist unabhängig von dem allgemein artikulierten Selbstverständnis ganz unterschiedlicher Personengruppen als ‚Aufklärer‘ stets nach der spezifischen Ausprägung aufgeklärter Haltung zu fragen. Denn auch innerhalb der Bewegung bildeten sich geistige Fronten und Fraktionen. Alte Tendenzen wurden fortgesetzt, jedoch teils abgeschwächt, teils radikalisiert; neue Ideen traten auf und bewegten die Gedanken der Handelnden. Aus diesem Grund stellt die Aufklärung in Bayern – mit München als seinem Kristallisationspunkt – eine vielschichtige, farbige und spannungsreiche Erscheinung dar, der innerhalb des europäischen Gesamtphänomens ‚Aufklärung‘ ein besonderes Eigengewicht zukommt.

Im Zuge der beabsichtigten Modernisierung entwickelte sich eine „Kultur der Aufklärung“ (Stefan Greif), die über den engen Gelehrtenstand auf das individuelle und soziale Leben breiterer Bevölkerungsschichten in den Städten und auf dem Land ausgriff. Der Versuch, eine – bewusst schlaglichtartige – Geschichte der „Aufklärung in München“ zu schreiben, sollte demgemäß nicht in erster Linie die vernunftphilosophischen oder moralischen Ideen und Leitsätze in den Fokus rücken, sondern vielmehr die unmittelbaren Auswirkungen des neuen Denkens auf die komplexe(n) Lebenswirklichkeit(en) berücksichtigen. Erst als praktisches Instrument, wie Hans Erich Bödeker und Martin Gierl jüngst formuliert haben, gewinnt Aufklärung nämlich ihre historische Bedeutung, jenseits der philosophischen Diskurse richtet sie sich gestaltend auf ihre eigene Gegenwart und erschließt sich eigene kulturelle Handlungsfelder. Aus dieser Perspektive wird auch München zu einem Wirkungsraum, wo ‚helle Köpfe‘ mit ‚dunklen‘ Vorstellungen aufzuräumen, ihren Mitbürgern ein kleines Licht aufgehen zu lassen und ihre Ideen und Erkenntnisse in praktisches Verhalten zu überführen suchten.

… eine Nation aufklären, Tag bey ihr werden lassen, will also schon im bürgerlichen Verstand noch mehr, noch weniger sagen, als, sie von denjenigen Grundwahrheiten und Maaßregeln, ohne deren Befolgung ihr wahres Wohl nicht bestehen kann, überzeugen, und ihr dieselben als liebenswürdig ans Herz legen. Daher gehört, daß man die besonderen Kräfte einer Nation untersuche, bewege, daß man den besondern Bedürfnißen nachdenke, nachhelfe; Dinge, ohne welche keine Aufklärung beginnen, noch sich erhalten kann.

(Aus: Lorenz von Westenrieder, Baierische Beyträge zur schönen und nützlichen Litteratur, 1780.)

„Daß nun dem Land ein neue Sonn geh auff …“: Die Frühaufklärung

Das bis in die jüngere Zeit ausgesprochene Urteil der vermeintlichen Rückständigkeit, wonach sich das Kurfürstentum Bayern – wie überhaupt die katholische Welt – auch den Formen aufgeklärt-wissenschaftlicher Geselligkeit eher verspätet geöffnet habe, ist kaum zu halten. Allein schon angesichts des überregionalen Ideenaustauschs, der gerade für eine Residenzstadt wie München typisch ist, musste zwangsläufig eine Berührung mit den geistigen Strömungen der Zeit erfolgen. Gelehrt-literarische Unternehmungen privater, oft kurzlebiger Zirkel lassen, zumindest in bescheidenen Ansätzen, eine Organisationsform nach aufgeklärtem Verständnis erkennen. Schon schimmerte am Horizont der Akademiegedanke auf, von dem der Universalgelehrte, Philosoph und Wissenschaftsorganisator Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) kurz vor der Wende zum 18. Jahrhundert meinte: „Es scheinet, daß anjezo ein seculum sey, da man zu societäten lust hat.“ Mit der Brandenburgischen Sozietät der Wissenschaften entstand 1700 die erste ‚staatliche‘, das heißt unter fürstlicher Protektion stehende Gesellschaft in Deutschland.

Gelehrte Geselligkeit: Die „Gesellschaft der vertrauten Nachbarn am Isarstrom“

Der bayerische Beitrag zur Akademiebewegung war zunächst bescheidener, aber auch in München reichen die Anstrengungen, eine gelehrte Sozietät zu errichten, zum Beginn des 18. Jahrhunderts zurück. Im Januar 1702 trat die „Nutz- und Lust-erweckende G[e]sellschafft Der vertrauten Nachbarn am Isarstrom“ an die Öffentlichkeit. Bis 1704 wurden unter ihrem Namen fünf Journale veröffentlicht, die über den Inhalt von 30 (fiktiven) Treffen, die „Discurse über allerhand Zeit-läuffige Begebenheiten / und dardurch veranlassende Materien“, berichten. Die „Unterredungen“ galten (tages-)politischen und religiösen Streitfragen; eine wichtige Stelle nahm zudem die Literatur ein: Abgedruckt wurden Gedichte, Dialoge, Briefe und Erzählungen, die zuweilen erbaulich, meist aber spannend daherkamen, nach dem Rezept von ‚sex and crime (and morality)‘, wie schon einige Titel verraten: „Lustig handgehabte Keuschheit“, „Tyrannisch bestrittene, doch sigende Keuschheit“. Ein zentrales Anliegen der Aufklärung, die gelehrte Kritik, erfüllten die (oft unverblümt-drastischen) Rezensionen alter und neuer Bücher. Der Vereinigung – und ihrer Zeitschrift – blieb freilich eine größere Wirksamkeit versagt, die Wirren des Spanischen Erbfolgekrieges führten zu ihrem baldigen, abrupten Ende. Die politische Widerständigkeit der ‚Macher‘ gegen die österreichische Besatzungsmacht in München mochte einer der Gründe dafür sein: Im vierten Band äußerten sie unverhohlen Kritik an der Undankbarkeit Österreichs gegenüber dem „ehrwürdigen Bayern“; obwohl alle erreichbaren Exemplare daraufhin beschlagnahmt wurden, schreckten sie dann im fünften Band nicht davor zurück, ein Siegeslied auf den großen Feldherrn Max Emanuel anzustimmen, der den verbündeten preußischen und habsburgischen Truppen in der ersten Schlacht bei Höchstädt (1703) eine empfindliche Niederlage beigebracht hatte.

Dem ersten Band ist eine Liste mit Decknamen von angeblich 20 Mitgliedern beigegeben; die Träger der gelehrten Gesellschaft sind im Umfeld des Münchner Hofes zu vermuten, namentlich bekannt sind nur die Beamten Urban Heckenstaller, das Haupt der Münchner Patrioten, Hans Georg Lüttich und Johann Kandler, der Vater von Agnellus Kandler, eines Mitbegründers des „Parnassus Boicus“. In der Vorrede an den „Wohlgeneigten Leser“ sind die Ziele und Absichten der Akteure zusammengefasst. Danach wollten sie (1.) den Ruhm des Herrscherhauses mehren, gerade auch durch die Pflege der bayerischen Geschichtsschreibung, (2.) gegen „uncatholische“ Schriften kämpfen, (3.) den Leser mit gelehrten Beiträgen gleichermaßen unterrichten und unterhalten, vor allem aber (4.) den geistigen und kulturellen Fortschritt in Bayern dokumentieren und damit gängige Vorurteile von Publizisten und Schriftstellern des protestantischen Deutschland widerlegen. Auch hoffte man, andere Patrioten zur Nachfolge bewegen zu können, um „die wackern Bayrn“ vom Verdacht zu befreien, sie könnten sich literarischer Angriffe („tadlhaffte und unzulässige narrationes“) nicht hinreichend erwehren. Obwohl die panegyrische, eindeutig bayerisch-patriotische Tendenz der Zeitschrift nicht von der Hand zu weisen ist, wollte man doch die „Chur-bayrische Glori“ – wie man gegenüber dem Widmungsträger, Kurfürst Max Emanuel, betonte – gegenüber politischen Gegnern verteidigen, so ist der reformerische Impuls unverkennbar.

Die Diskussion über das Für und Wider von Fremdwörtern, der Wille zur Sprachkritik, zeigen zumindest ein Bewusstsein für zeittypische Vorstellungen einer gereinigten Sprache, wie sie bereits die Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts entwickelt hatten. Wichtiger noch: In den „Discursen“ schickten sich die Mitglieder an, Aufklärung der Weltzusammenhänge zu leisten und den Leser mit Wissen und Bildung zu versorgen. Durch das moderne Medium der Publizistik stellte man eine Öffentlichkeit her, die auf die breite Schicht aller bürgerlichen Untertanen zielte.

In der „Nutz- und Lust-erweckenden Gesellschafft“, in der sich eine Elite aus Bürgertum (sowie aus Adel und Geistlichkeit) organisierte, fand die vielgestaltige Aufklärungs- und Sozietätsbewegung in Kurbayern – im Fokus der Residenzstadt, dem „Principal-Orth“ – einen ersten, wichtigen Ausgangspunkt. Schon die zeitgenössische Geschichtsschreibung verband den Aufbruch der Aufklärung im Kurfürstentum mit dem Wirken dieses gelehrten Zirkels. Der spätere Geheime Rat Desiderius von Schneid (geb. 1753) betonte in seinen „Patriotischen Bemerkungen über den literarischen Zustand Baierns“ (1778), die er anlässlich des Regierungsantritts von Karl Theodor veröffentlichte, die kritische Freimütigkeit und Urteilskraft jener Männer am Beginn des 18. Jahrhunderts, das genuin Neue ihrer „öffentlichen Schriften“, die vom Bestreben getragen waren, den „menschlichen Verstand zu entfesseln“.

Klösterliche Akademiepläne

Konkretere Gestalt nahm die Organisation gemeinschaftlichen Denkens und Suchens, das Projekt einer Akademie, mit dem 1720 vorgelegten Plan einer „Academia Carolo-Albertina“ (benannt nach dem damaligen Kronprinzen Karl Albrecht) an. Erste Anregungen lieferte der Münchner Augustiner-Eremit Gelasius Hieber (1671–1731), der in seinen Mitbrüdern Agnellus Kandler (1692–1745), Johann Baptist Inninger und Corbinian Mauerer sowie vor allem dem Augustiner-Chorherrn Eusebius Amort (1692–1775) aus Polling, einem der bedeutendsten katholischen Theologen seiner Zeit, tatkräftige Unterstützer und Organisatoren fand. Die gelehrte Vereinigung hatte nach den entworfenen Statuten neben der Bewahrung des katholischen Glaubens vor allem die Förderung aller theologischen und profanen, darunter auch naturwissenschaftlich-technischen Wissenschaften zum Ziel. Fraglos war mit der Initiative ein patriotischer Anspruch verbunden, sollte doch die gelehrte Anstrengung insbesondere „die hohe Nutzbarkeit von denen vornehmsten Wissenschaften und Künsten in bayerischen Landen“ erweisen sowie den Ruhm des Hauses Wittelsbach heben. In regelmäßigen Publikationen, die von der Zensur ausgenommen bleiben sollten, hatten die akademischen Mitglieder neue Erkenntnisse der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Selbst einige Münchner Jesuiten erklärten sich zur Mitarbeit bereit, darunter P. Josef Falk, der Beichtvater des Kronprinzen. Trotz eines kurfürstlichen Schutzbriefes, der dann aber womöglich gar nicht ausgehändigt wurde, zerschlug sich das weitgespannte, wohldurchdachte Projekt. Über die Gründe konnten schon die Zeitgenossen nur spekulieren; womöglich hatte man in München letztendlich doch Bedenken wegen der Befreiung von der Zensur und der daraus entstehenden mangelnden Aufsicht über eine gelehrte Gesellschaft in der Hauptstadt, die mit einigen Rechten ausgestattet sein wollte und einen potentiellen Unruheherd darstellte.

Wichtiger für die heutige Beurteilung des Unternehmens ist das erkennbare Interesse für neue Geistesentwicklungen, die aufgeklärtem Verständnis entsprachen. Zielbewusst suchte man den Anschluss an die Akademiebewegung – und diese Bewegung wird in der ersten Jahrhunderthälfte wesentlich bestimmt von Mönchsgelehrten, die zu den Großen der europäischen Aufklärung in Verbindung traten. So unterhielt Eusebius Amort freundschaftliche Beziehungen zu den Brüdern P. Bernhard (1683–1735) und P. Hieronymus (1685–1762) Pez aus dem Stift Melk, die 1717 auf ihren Archiv- und Forschungsreisen auch nach Polling und München gekommen waren. Im direkten Anschluss an die benediktinische Gelehrsamkeit des frühen 18. Jahrhunderts reifte in dem Kreis von Pollinger und Münchner Augustinern der Gedanke einer aufklärerisch-überkonfessionellen „Societas doctorum“. Wie die Brüder Pez Briefwechsel auch zu Gelehrten aus den protestantischen Teilen des Reichs unterhielten, wie die 1746 in Olmütz gegründete „Societas incognitorum“, die Gesellschaft der Unbekannten, als erste gelehrte Sozietät in einem katholischen Reichsland auch protestantische Mitglieder aufnahm, so suchte das Projekt der „Academia Carolo Albertina“ ebenfalls Angehörige verschiedener Konfessionen zusammenzuführen. In dieser (programmatisch verankerten) weltanschaulichen Offenheit scheint geradezu eine der Leitideen der Aufklärung, die Forderung nach Toleranz, anzuklingen.

Publizistische Bildung und Wissenschaft: Der „Parnassus Boicus“

Das Scheitern der Akademiepläne von 1720 ließ freilich die aufklärerisch-wissenschaftlichen Aktivitäten der Initiatoren nicht erlahmen. Im Sommer 1722 riefen Amort, Hieber und Kandler die Zeitschrift „Parnassus Boicus, Oder Neu-eröffneter Musen-Berg“ ins Leben, gleichsam als Ersatz für die gelehrte Sozietät. Bis 1727 erschienen bei Johann Lukas Straub in München vier starke Bände zu je sechs „Unterredungen“, die in der gelehrten Welt des In- und Auslandes bald lebhafte Resonanz hervorrief. Selbst der Leipziger Sprach- und Literaturpapst Johann Christoph Gottsched (1700–1766) zollte den Akteuren, vor allem ihren für Bayern unerwarteten Bemühungen auf (mutter-)sprachlichem Gebiet, in den „Beyträgen zur critischen Historie der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit“ zunächst seine Anerkennung; etliche Jahre später hingegen äußerte er sich in einem Brief an Johann Georg von Lori (1723–1783) spöttisch-herablassend über den „Parnassus Boicus“, den er nun – aufgrund der sprach- und literarästhetischen Unzulänglichkeiten – aus dem gelehrten Gedächtnis zu streichen empfahl.

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Abb. 1:
Titelblatt des „Parnassus Boicus“, 1. Bd., Erste Unterredung, 1722.

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