image

Georg Steins / Egbert Ballhorn

Und es wurde Morgen

Die biblischen Lesungen der Osternacht

Mit Beiträgen von
Heinz-Günter Bongartz
Paul Deselaers
Theodor Hausmann
Marianne Heimbach-Steins
Albert Schmidt
Klemens Teichert

image

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

ISBN (Print) 978-3-7917-3144-5

© 2020 by Verlag Friedrich Pustet, Regensburg

Umschlaggestaltung: Martin Veicht, Regensburg

Umschlagmotiv: Ausschnitt aus einem Buntglasfenster

der St. Mungo’s Cathedral, Glasgow; Stock Photo

Satz: Vollnhals Fotosatz, Neustadt a. d. Donau

Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg

Printed in Germany 2020

eISBN 978-3-7917-6178-7 (epub)

Weitere Publikationen aus unserem Programm finden Sie auf
www.verlag-pustet.de

Informationen und Bestellungen unter verlag@pustet.de

Inhalt

Die Osternacht – eine einzigartige Feier … und viele Fragen

„Dies ist die Nacht!“

Größe und Herausforderung der Osternachtfeier

Egbert Ballhorn

Licht und Dunkel

Biblische Symbole in der Osternacht

Georg Steins

Frohbotschaft von Anfang an

Die Schlüsselrolle der alttestamentlichen Lesungen

Die vier heiligen Nächte des Gottesvolkes

Der innere Zusammenhang der alttestamentlichen Lesungen

„Hört, und ihr werdet leben!“

Die Osterbotschaft der Schriftlesungen

Georg Steins / Egbert Ballhorn

Die sieben alttestamentlichen Lesungen

Gen 1,1–2,2: Am Anfang – Licht und Leben

Gen 22,1–18: Gottes Volk – gefährdet und gesegnet

Ex 14,15–15,1: Gottes Volk – aus Todeswassern gerettet

Jes 54,5–14: Unerschütterliche Treue

Jes 55,1–11: Eine neue Welt

Bar 3,9–15.32–4,4: Weisheit – Weg des Lebens

Ez 36,16–17a.18–28: Neu geboren

Georg Steins

Das Alte Testament, die christliche Osterfeier und die Würde Israels

Über Zeit, Erinnerung und Erlösung

Egbert Ballhorn

Die neutestamentliche Lesung

Röm 6,3–11: Wie Christus, so auch wir

Das österliche Halleluja

Die Evangelien der Osternacht

Mt 28,1–10: Verwandelte Menschen, verwandelte Welt

Mk 16,1–7: Erschüttert vom neuen Leben

Lk 24,1–12: Sich erinnern und das Neue begreifen

„Es werde Licht!“

Die Feier der Osternacht

Egbert Ballhorn

Impulse für die Gestaltung der Feier

Theodor Hausmann

Gott bahnt einen Weg

Eröffnung der Osternacht und Einführung zu den Lesungen

Klemens Teichert

Gott handelt an uns

Einführung in den Wortgottesdienst

Egbert Ballhorn

Die Frohbotschaft von Ostern

Kurzeinführungen zu den Lesungen

Heinz-Günter Bongartz

Österliche Lichtspuren

Einleitungen zu den alttestamentlichen Lesungen

Georg Steins

Das Geheimnis dieser heiligen Nacht

Einleitungen zu allen Lesungen der Osternacht

Albert Schmidt

Gottes Blick

Predigt zu den Lesungen der Osternacht

Theodor Hausmann

Der Erde vermählt und Gott anvertraut

Predigt zu Jes 54

Paul Deselaers

Geschmack am Leben

Predigt zu Jes 55

Georg Steins

Die Vigil neu entdecken

Überlegungen und Anregungen für die Gottesdienstkultur

„Deine uralten Wunder in unseren Tagen“

Leben aus dem Osterglauben

Georg Steins

Vor dem Osterfest

Eine Karsamstagsmeditation

Die zwei unterwegs

Abraham, Isaak und die Emmausjünger

Marianne Heimbach-Steins / Georg Steins

Liturgie und Diakonie

Impulse aus der Feier des Ostertriduums

Nicht zuletzt: Ein Wort wie Brot

Zum Weiterlesen

Autorin und Autoren

Zu dieser Ausgabe

Die Osternacht – eine einzigartige Feier … und viele Fragen

Am Abend – Weinen
am Morgen aber – klingender Jubel

In der Osternacht, einer großen gottesdienstlichen Nachtwache, einer Vigil, feiern auf der ganzen Erde Jahr für Jahr Christinnen und Christen diesen glücklichen Umschwung, den der 30. Psalm in äußerster Kürze beschreibt: von der Nacht zum Morgen, von der Klage zur Freude, vom Tod zum Leben.

Die Feier spricht alle Sinne an. Feuer und Licht, Wasser und Wort sind ihre wichtigsten Medien. In Gebeten, Lesungen, Liedern und Symbolhandlungen wird die Osterbotschaft vielfältig mit immer neuen Bildern umkreist.

Man könnte meinen, es gehe vorrangig um die Feier der wunderbaren Auferstehung des Gekreuzigten, um den Ostersieg Jesu Christi. Wer jedoch genau schaut und hört, erfährt, dass es vor allem um die Taufe geht. Von der Taufe ist in fast jedem Text die Rede, der Tauffeier oder Tauferneuerung ist sogar ein eigener Gottesdienstteil gewidmet.

In der römisch-katholischen Kirche, aber auch in vielen Kirchen der Reformation, die die Osternacht wiederentdeckt haben, hat diese Feier eine besondere, eine einmalige Form; dadurch unterscheidet sie sich von gewohnten Gottesdiensten, etwa der sonntäglichen Messfeier:

Nach einer kurzen Eröffnung am Osterfeuer folgt ein langer Lesungsteil mit sieben Lesungen aus dem Alten Testament. Sie erzählen von der Schöpfung, von Abraham und Isaak, von Israels Durchzug durch das Rote Meer und von den Visionen der Propheten.

Diese Texte aus dem Alten Testament sind für viele unverständlich oder sogar anstößig:

Ein Gott, der von Abraham das Opfer des eigenen Sohnes fordert!?

Ägypter, die sterben müssen, damit Israel in die Freiheit ziehen kann!?

Warum werden gerade diese Texte der Bibel ausgewählt?

Warum kommt das Alte und nicht das Neue Testament so ausführlich zu Wort?

Häufig sucht man einen Ausweg, indem man die Zahl der Lesungen kürzt. Das ist jedoch keine Lösung des Problems. Die biblischen Lesungen, vor allem die auf den ersten Blick schwierigen aus dem Alten Testament, sind der Weg zum Verständnis von Ostern. Erst im Zusammenspiel von Altem und Neuem Testament wird deutlich, was die Kirche an Ostern feiert.

Der Schlüssel zur Feier der Osternacht ist ihre Tauftheologie. Hier wird das Geheimnis von Ostern zugänglich. Mit der Taufe kommt Ostern in unser Leben. Ostern ist keine ferne Erfahrung – Ostern ist lebensbestimmende Wirklichkeit!

Alle sieben alttestamentlichen und ebenso die neutestamentlichen Lesungen werden in diesem Buch erschlossen:

durch eine Arbeitsübersetzung, die nahe am hebräischen oder griechischen Originaltext bleibt und so hilft, die vertrauten Texte neu zu hören – gewissermaßen ein fremder „Sound“, der aufhorchen lässt und zu neuer Aufmerksamkeit führt

und durch Auslegungen, die thematische Schwerpunkte des Textes herausarbeiten, die Verständnisschwierigkeiten aufgreifen und die österliche Theologie der Texte erhellen.

Dieses Buch bietet noch mehr:

Es ist ein bibeltheologisches und liturgisches Lesebuch für alle,

die die Osterbotschaft, das Zentrum des christlichen Glaubens, tiefer verstehen wollen

die Wege zu einem christlichen Verständnis des Alten Testaments suchen.

Es ist auch ein Arbeitsbuch mit Materialien für Einzelne und für Gruppen,

die als liturgisch Verantwortliche die Osternacht gestalten

die Impulse für die Vorbereitung der Gemeinde auf das Osterfest suchen

die in Glaubensgesprächen und in der Katechese zum Zentrum des christlichen Glaubens finden wollen

die Anregungen für Predigten in der Osterzeit suchen.

Das österliche Geheimnis dieser „Nacht der Nächte“ – von den biblischen Lesungen her erschlossen!

„Dies ist die Nacht!“

Größe und Herausforderung der Osternachtfeier

Licht und Dunkel

Biblische Symbole in der Osternacht

Egbert Ballhorn

Die Osternacht ist der Höhepunkt des Kirchenjahres. Kein Gottesdienst des Jahres ist so dicht mit Wort- und Zeichenhandlungen gefüllt. Keine andere Liturgie ist so durchwoben von biblischen Texten und Symbolen. Die Ursymbole des menschlichen Lebens, Licht und Dunkel, Feuer und Wasser, prägen diese Nacht, und zugleich stehen sie für die eine menschliche Grundpolarität schlechthin: ausgespannt zu sein zwischen Tod und Leben. Daher kann das Mitfeiern der Osternacht zu einer existenziellen Grunderfahrung werden, in der der einzelne Gläubige sich mit seinen Lebenserfahrungen in die Wirklichkeit Gottes und seiner Kirche eingeborgen erfährt.

Das umgekehrte Erleben kann jedoch genauso der Fall sein. Gerade weil dieser Gottesdienst so sehr von der gewohnten Struktur der sonntäglichen Eucharistiefeier abweicht und mit Symbolen so dicht gesättigt ist, fehlt manchmal den Mitfeiernden der rote Faden, der die einzelnen Elemente zu einem Ganzen werden lässt. Die Symbolik von Licht und Finsternis bietet sich als eine Möglichkeit an, die Einheit der Osternachtfeier verstehbar und erlebbar zu machen.

Osterlicht und Osterlob

Die Osternachtfeier besteht aus vier Teilen, von denen jeder schon für sich und auf seine Weise das ganze Festgeheimnis von Tod und Auferweckung Christi feiert:

Lichtfeier

Wortgottesdienst

Tauffeier

Eucharistiefeier

Zur ersten Feier, der Lichtfeier, versammelt die Gemeinde sich gewissermaßen dort, wo sie sich ohne Christus befindet: vor der Kirche, in der Dunkelheit. Und gleich im ersten Gebet, der Segnung des Osterfeuers, wird das große Thema der Nacht benannt: das Licht der göttlichen Herrlichkeit, das in Christus allen Gläubigen geschenkt ist. Damit ist deutlich, dass es in der Feier der Osternacht nicht allein um die Feier eines „Damals“, sondern um das Heute geht, das von dem einen-einmaligen Heilsereignis geprägt ist. Und ebenso geht es nicht um die Feier Christi allein, sondern darum, dass dieses Licht Christi allen leuchtet, die sich zum Glauben an ihn bekennen. Diesen Bekenntnissatz setzt die Liturgie bereits in ein Ereignis um. Hinter der Osterkerze her ziehen alle Gläubigen in die Kirche ein, und ein jeder erhält das Licht der Osterkerze, so dass der dunkle Kirchenraum festlich erleuchtet wird. Und nirgends wird wie an diesem Punkt sinnenhaft erfahrbar, dass die vielen einzelnen Lichter, die die Gläubigen hüten, von dem einen großen Licht stammen, das Christus selbst ist. Die Osterkerze des Einzelnen ist zugleich seine Taufkerze. Dieses österliche Christuslicht ist in seinem Zeichencharakter und seiner Ausdrucksstärke nicht mehr steigerbar. Deshalb lässt es der Symbolcharakter dieses Lichtes kaum zu, dass zu irgendeinem Zeitpunkt des Gottesdienstes zusätzlich elektrisches Licht eingeschaltet wird. Das Licht der Osterkerze und der vielen Kerzen im Raum ist das Licht Christi, und dazu kann es kein weiteres, kein stärkeres Licht geben. Zumindest sollte also die elektrische Kirchenbeleuchtung nicht zu einer Form der Steigerung des Effektes eingesetzt werden.

Wenn sich die Gemeinde in der Kirche um die Osterkerze versammelt hat, singt der Diakon das große Osterlob, das Exsultet. Im Schein des einen Christuslichts wird die gesamte Heilsgeschichte Gottes mit seinem Volk Israel und mit der Kirche gedeutet. Wie schon am Osterfeuer wird auch dieses Damals zu einem lebendigen Heute. Daher heißt es immer wieder: „Dies ist die Nacht …“ Dies ist die einmalige Ausdeutung von Ostern, die so augenfällig wird: Beim Handeln Gottes an den Menschen geht es nicht um eine lange Kette von vergangenen Ereignissen, sondern immer wieder um das eine Ereignis des Heils. Gott hat seinen Sohn nicht im Tod gelassen, sondern ihn auferweckt. Durch ihn wird die Menschheit aus dem Dunkel des Todes in das Leben geholt. Das führt das Licht der Osterkerze vor Augen. Daher kann die Kirche auch in den vielen Ereignissen der Heilsgeschichte das eine Osterereignis wiedererkennen. Und weil es in der Gestalt hymnischen Gotteslobs die Sinnspur in die Osternacht legt, ist das Exsultet der Deutetext dieser Nacht schlechthin, ein regelrechtes Hochgebet, wie es auch die strukturellen Elemente deutlich machen. Das Exsultet ist nichts anderes als „Eucharistie“ – Danksagung.

Nächtliche Vigil im Osterlicht

Auf das Osterlob folgt der Wortgottesdienst, der ebenfalls seine ganz eigene Prägung hat. Er besteht aus einer Reihe von neun biblischen Lesungen. Auf jede alttestamentliche Lesung folgen ein Psalm sowie eine Oration. Schon diese Dreierstruktur macht deutlich, dass der Wortgottesdienst nicht allein eine „Durchgangsstation“ zur Eucharistiefeier der Osternacht ist, sondern großes Eigengewicht hat. Er ist eine Vigil, Nachtwache. Die Bezeichnung „Wortgottesdienst“ ist also eigentlich irreführend, weil sie die besondere Gestalt nicht deutlich genug ausdrückt.

Bereits die erste Lesung von der Erschaffung der Welt setzt mit dem Thema Schöpfung/Anfang eine deutliche Zäsur. Zugleich aber wird der Bogen thematisch zurückgeschlagen zur Lichtfeier. Das erste Schöpfungswort Gottes in Chaos und Finsternis hinein lautet: „Es werde Licht.“ Sodann entfaltet die Lesung in der feierlichen Rhythmisierung des Siebentagewerkes die Struktur der Schöpfung als von Gott gewirkter Lebensraum. Den Abschluss bildet der siebte Tag, die Ruhe Gottes, der königliche Sabbat.

Dieser Schöpfungstext ist kein Rückblick auf den Anbeginn der Schöpfung, sondern vielmehr ein Blick auf die Welt, wie sie von Gott her als Haus des Lebens eingerichtet ist, und ein Blick auf die Vollendung der Welt. Deshalb ist diese Lesung, wie alle anderen Lesungen der Osternacht, nicht einfach ein Vorbereitungstext auf das Osterevangelium, sondern auf eigene Weise selbst schon Osterevangelium: Zeugnistext von Gott, der inmitten von Todesdunkel Leben schafft.

Auf die Lesung folgt Psalm 104, der auf eigene Weise das Schöpfungsthema entfaltet und ihm meditierend nachgeht. Den Abschluss bildet die Oration, die von der Schöpfung auf die Vollendung der Schöpfung, die Erlösung, schaut.

Schon anhand dieser Struktur zeigt sich, dass die mitunter geübte Praxis, den Wortgottesdienst zeitlich vor die Lichtfeier zu ziehen, um ihn „mit den eindrucksvollen Texten des Alten Testaments in der dunklen Kirche“ (wie es mancherorts heißt) abzuhalten, dem Charakter der Osternacht und der Aussage der Lesungen vollkommen widerspricht. Die Worte „Gott sprach: Es werde Licht. Und es wurde Licht“ können einfach nicht in eine dunkle Kirche hinein verkündet werden! Jeder Text der Osternacht ist ein echter Ostertext, so dass eine Dramatisierung der Liturgie im Sinne einer vermeintlichen Stufung von Dunkelheit und Licht dem Charakter der Feier nicht gerecht wird. Es gibt nicht jenen einen „Umschlagspunkt“ in der heiligen Nacht, ab dem erst von der Auferstehung Christi gesprochen werden kann.

Im Grunde entspricht die liturgische Struktur der Kar- und Osterfeier genau dem biblischen Zeugnis, das sowohl Leiden und Tod Jesu Christi als auch die Begegnung mit dem Auferstandenen schildert, aber nicht den Vorgang der Auferweckung Christi selbst darstellt. Die Jüngerinnen und Jünger kommen zum Grab und erfahren, dass Christus am Ostermorgen bereits auferstanden ist. Für die Bibel mit ihren Osterzeugnissen ist klar: „Der Auferstandene lässt sich als der Lebendige von den Jüngern erfahren.“ Gefeiert und geglaubt wird das, was schon längst Tatsache ist. Genau das ist aber auch das Thema der Liturgie.

Und in diesem Sinne ist jeder Teil der Osternachtfeier für sich und auf seine Weise Feier der Auferweckung Christi und des Übergangs vom Tod zum Leben. Dem trägt gleich zu Beginn schon die Lichtfeier Rechnung, indem es beim Entzünden der Osterkerze heißt: „Christus ist glorreich auferstanden vom Tod.“

So sind auch die Lesungen aus dem Alten Testament Zeugnis von dem einen Heilshandeln Gottes. Denn jedes Handeln Gottes bezieht sich auf die eine Nacht: diese Nacht, in der die Kirche die Auferstehung Christi feiert, in der Gott der Finsternis des Todes und der Sünde die Macht nimmt und in seinem Sohn der Menschheit das Leben schenkt.

Die weiteren Lesungen führen das Geheimnis der Fest-Nacht fort. Die Lesung von der Erprobung Abrahams spricht nicht allein von dem aus dem Tod geretteten Sohn, sondern auch vom Plan Gottes für Abraham, ihm so zahlreiche Nachkommen zu schenken „wie die Sterne am Himmel und den Sand am Meer“. Hierauf folgt wieder ein meditierender Psalm sowie ein Gebet, das von der Taufe spricht und sie in den Horizont der Einlösung dieser göttlichen Verheißung stellt. Gen 22 stellt also in doppelter Hinsicht ein österliches Evangelium dar: Indem der Sohn aus dem Tod gerettet wird, wird den vielen Nachkommen das Leben ermöglicht.

Jede Lesung mit ihrem Dreischritt von Verkündigung des Gotteswortes, meditativem Bedenken und Aktualisierung auf die Ostern feiernde Kirche in Gestalt einer Oration stellt im Grunde genommen einen kleinen, in sich geschlossenen Gottesdienst dar. Die Lesungen, deren jede auf je eigene Weise das Geheimnis der Osternacht bedenkt, deutet und preist, bilden also eine Reihe von kleinen Gottesdiensten, die sich zu einer nächtlichen Vigilfeier untrennbar zusammenfügen. Nur in der Zusammenschau dieser vielen Perspektiven ist die Kirche in der Lage, dem Geheimnis dieser Nacht näher zu kommen. Hier bedeutet jeder Verzicht auf eine der Lesungen den Verlust einer Sinndimension.

Den Kern der Osterverkündigung bildet die Exodus-Lesung: Gott errettet sein Volk aus der Todesgefahr. Mitten im nächtlichen Chaos der Meereswasser und der Ägypterflut lässt Gott einen Raum des Lebens für sein Volk entstehen. Dieser Text korrespondiert mit allen Festgeheimnissen der Osternacht. Osterkerze und Feuersäule stehen für die Anwesenheit Gottes/Jesu Christi in der Nacht der tödlichen Gefährdung des Lebens und für das Prinzip göttlichen Lebens. Meerwasser und Taufwasser gehören zusammen, denn sie vernichten die Macht des Todes; und das Volk Israel ist ebenso das gerettete und neu geschaffene Volk wie das Volk der Gläubigen, die Kirche. Vergangenheit und Gegenwart gehören zusammen und berühren einander. Entsprechend heißt es in der Oration: „Gott, deine uralten Wunder leuchten noch in unseren Tagen …“

Es ist dasselbe Gotteslicht, das die Schöpfung erleuchtet, das die Israeliten auf ihrem Weg durch die Todeswasser führt und das den Gläubigen in der Osterkerze und dem Morgenlicht der Osterevangelien entgegenleuchtet. In allen diesen Ereignissen und Texten wirkt Gott – in liturgischer Lesart – durch seinen Sohn sein Heil zugunsten der erlösungsbedürftigen Menschheit: in Israel und in der Kirche.

Die übrigen Lesungen spinnen den theologischen Faden weiter. In Jes 55 ist vom wirksamen Wort Gottes die Rede (vgl. Gen 1 und Ex 14), aber auch vom Bund Gottes mit den Völkern der Erde, wie er schon in Jes 54 zum Ausdruck kam. Während die Baruch-Lesung zur österlichen Lichtthematik zurückkehrt, spricht Ez 36 vom lebenspendenden Wasser. In allen biblischen Lesungen verdichten sich die Grundsymbole der Menschheit: Licht und Finsternis, Tag und Nacht, Wasser des Todes und Wasser des Lebens. Sie alle stehen für die Rettung aus dem Tod. Diese Grundsymbole werden aber nicht einfach allgemein erwähnt, sondern anhand der Haltepunkte der Heilsgeschichte zusammengeführt, die Gott an Israel und den Völkern gewirkt hat und wirken wird. Und so wird aus jedem Ereignis der Vergangenheit ein seliges Heute. Für die Aktualität des Heilshandelns Gottes ist die Taufe der Schlüssel, auf den sich alle Orationen der Lesungen beziehen.

Nach diesen Lesungen folgen das Gloria, die Epistel sowie das Osterevangelium. Diese Struktur ist aus sich heraus leider missverständlich. Das Gloria setzt eine sehr deutliche Zäsur, und die Römerbrief-Lesung besitzt keine eigene Oration und setzt sich so von den vorhergehenden Lesungen ab. Hier wird ein Bruch spürbar, was so wirken muss, als ob ab dem Gloria der Zeitpunkt wäre, an dem erst die Auferstehung Christi gefeiert würde, und alle anderen Lesungen nur vorangehende Vorbereitungstexte gewesen seien. Dieses Missverständnis entsteht dadurch, dass die Liturgiereform die Wort-Gottes-Feier der Ostervigil mit ihren alttestamentlichen Lesungen übergangslos vor den Wortgottesdienst der Eucharistiefeier gesetzt hat, der eben mit der Epistel beginnt. Das Gloria markiert also schlicht den Beginn des „normalen“ Wortgottesdienstes der Eucharistiefeier, bewirkt aber ungewollt eine Dramatisierung, die dem Eigengewicht der je in sich geschlossenen Einzelfeiern der Osternacht nicht gerecht wird.

Todeswasser – Lebenswasser: Die Taufsymbolik der Osternacht

An den Wortgottesdienst mit seiner expliziten Verkündigung des Osterevangeliums schließt sich die Tauffeier an; und dies hat höchste Bedeutung für die Feier der Osternacht. Was Gott als Heil an seinem Volk Israel gewirkt hat und was sich in der Auferstehung Christi ereignet hat, das vollzieht sich existenziell an jedem Gläubigen in der Taufe. Auch auf diese Weise wird aus dem Damals ein Heute, in das alle Gläubigen einbezogen sind. So gehört zur Tauffeier auch die Tauferneuerung hinzu.

Dabei ist die Tauffeier nicht eine geschlossene Einheit innerhalb der Osternachtfeier, sondern auf vielfältige Weise thematisch vernetzt. Das Motiv des Wassers spielt in vielen Lesungen eine entscheidende Rolle, so dass man es durch den gesamten Wortgottesdienst verfolgen kann.

Die erste Lesung, Gen 1, beginnt mit Chaos, Dunkel und Urflut. Hier taucht das Wasser zu Anfang als lebensfeindliches Element auf. Das schöpferische Handeln Gottes besteht darin, dass er das Himmelsgewölbe entstehen lässt und so dem gefährlichen Wasser eine Grenze setzt, so dass das Trockene sichtbar werden kann. Damit erst kann Lebensraum entstehen. Dann aber verbannt Gott nicht das Wasser aus dem Lebensraum, sondern gibt ihm zugleich mit der Grenze die Aufgabe, vom Todeswasser zum Lebenswasser zu werden. Als „Meer“ hat es seinen guten Ort in der Schöpfung und wird selbst zum Lebensraum. Wenn man mit diesen Leseerfahrungen aus dem ersten Schöpfungstext der Bibel die Lesung vom Exodus, vom Durchzug Israels durch das Schilfmeer, anschaut, kann man erstaunliche Entdeckungen machen. Denn dieselbe Geschichte vom Todeswasser und vom Lebenswasser findet man dort wieder. Wenn Israel, von Ägypten gejagt, an den Rand des Schilfmeeres kommt, dann hat es hinter sich die Todesgefahr der Feinde und vor sich die Todesgefahr des Wassers, dann steht es zwischen Tod und Tod. Und was tut Gott? Die Wasser treten zur Seite. Gott schafft mitten im Tod einen Lebensraum; es heißt wörtlich: „Er machte das Meer zu trockenem Land“ (Ex 14,21) – die gleiche Formulierung wie in der Schöpfungsgeschichte. Mit diesem Blick verändert sich die gesamte Exodus-Lesung. Nun ist ein anderer Schwerpunkt gesetzt, und es geht nicht nur um eine Rettungs-, sondern geradezu um eine Schöpfungserzählung: Mitten im Tod erschafft Gott neues Leben. Plötzlich haben beide Texte etwas miteinander zu tun. Auch die Propheten sprechen vom Wasser: Jes 55 lädt alle Durstigen zum Wasser des Lebens, und in Ez 36 sprengt Gott Wasser über sein unreines Volk, und sie werden rein und erhalten ein lebendiges Herz, ein Herz von Fleisch.

Auch die den Lesungen zugeordneten Antwortpsalmen lassen das Motiv von Todes- und Lebenswasser vielfältig aufklingen. So heißt es beispielsweise: „Ich will dich rühmen, Herr, denn du hast mich aus der Tiefe gezogen“ (Ps 30,2), oder Psalm 42 spricht: „Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, so lechzt meine Seele, Gott, nach dir.“

Selbst dabei bleibt die Osternacht nicht stehen. Ein weiterer sehr prominenter Text ist die neutestamentliche Lesung aus dem Römerbrief. Darin erinnert Paulus die Gläubigen: „Wisst ihr nicht, dass wir alle, die wir auf Christus Jesus getauft wurden, auf seinen Tod getauft worden sind? Wir wurden mit ihm begraben durch die Taufe auf den Tod; und wie Christus durch die Herrlichkeit des Vaters von den Toten auferweckt wurde, so sollen auch wir als neue Menschen leben. Wenn wir nämlich ihm gleich geworden sind in seinem Tod, dann werden wir mit ihm auch in seiner Auferstehung vereinigt sein“ (Röm 6,3–5). Paulus spinnt den Faden fort, den die beiden bisher angesprochenen Lesungen begonnen hatten. Das Wasser steht für die Gefährdung des Menschen durch den Tod. Christus ist jedoch in den Tod gegangen und von den Toten auferweckt worden. Getauft zu werden bedeutet daher, mit Christus identifiziert zu werden, also auch symbolisch mit ihm in seinen Tod einzutauchen. Aber wie Christus von den Toten auferweckt wurde, so werden auch wir zu neuen Menschen und werden auferweckt werden.

Wenn man so die Texte der Osternacht liest, dann enthüllt sich ihr innerer Zusammenhang. Und dann geht es in ihnen nicht allein um ein vergangenes Damals, sondern dann zeigt sich darin das Geheimnis des eigenen Lebens, der eigenen Todesbedrohtheit und der eigenen Rettung durch die Gemeinschaft mit Christus. Die ganze Liturgie der Osternacht ist keine reine Erinnerung an die Auferweckung Christi, sondern eine große Feier der Taufe und des TaufgedächtnissesExsultetAlle