image

Peter Engels

Darmstadt

Kleine Stadtgeschichte

image

UMSCHLAGMOTIVE

Vorderseite: Das Ludwigsmonument auf dem Luisenplatz. – Postkarte, um 1900 (Stadtarchiv Darmstadt); Rückseite: Orangerie in Bessungen (lapping | pixabay.com)

BIBLIOGRAFISCHE INFORMATION DER DEUTSCHEN NATIONALBIBLIOTHEK

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

ISBN 978-3-7917-3085-1

© 2019 by Verlag Friedrich Pustet, Regensburg

Reihen-/Umschlaggestaltung und Layout: Martin Veicht, Regensburg

Satz: Vollnhals Fotosatz, Neustadt a. d. Donau

Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg

Printed in Germany 2019

eISBN 978-3-7917-6164-0 (epub)

Weitere Publikationen aus unserem Programm finden Sie auf www.verlag-pustet.de Kontakt und Bestellungen unter verlag@pustet.de

Inhalt

Vorwort

Vor- und Frühgeschichte des Darmstädter Raumes

Von der Steinzeit zur Römerzeit / Die Anfänge der Darmstädter Geschichte / Der Name »Darmstadt« / Königshöfe

Darmstadt als Nebenresidenz der Grafen von Katzenelnbogen (13.–15. Jahrhundert)

Burgenbau und Burgmannensiedlung / Die Ritter von Darmstadt / Das mittelalterliche Stadtbild / Erhebung zur Stadt und katzenelnbogischen Residenz / Die Rechnung von 1401 / Verwaltung und städtisches Leben im Spätmittelalter

Landstadt in der Landgrafschaft Hessen (1479–1567)

Niedergang und wirtschaftliche Not / Belagerungen und Zerstörungen / Die Reformation / Darmstadt als Residenz Landgraf Ludwigs IV. / Die Doppelehe Philipps des Großmütigen

Haupt- und Residenzstadt der Landgrafschaft Hessen-Darmstadt

Residenzgründung und Stadtausbau unter Georg I. / Wirtschaftsförderung und Landesausbau / Hexenverbrennung / Erste kulturelle Blüte unter Ludwig V.

Dreißigjähriger Krieg, Franzosenkriege und die Folgen (1618–1714)

Heimsuchung Darmstadts im Mansfeldischen Einfall 1622 / Mansfeldisches Schadensverzeichnis und Zeugenverhör / Erbschaft Oberhessen und Ausbau der Stadt (1623–1630) / Krieg, Pest und Verwüstung (1631–1648) / Keine Zeit zur Erholung: Franzosenkriege und Spanischer Erbfolgekrieg / Der Brauertunnel / Gründung einer jüdischen Gemeinde

Das kurze 18. Jahrhundert – fürstliche Bauwut und höfische Kultur

Barock und Bankrott – vergebliches Streben nach Versailles / Das Schloss im ausgehenden 18. Jahrhundert / Jagdleidenschaft und höfische Feste / Ein höfisches Fest in der Bessunger Orangerie / Landgräfliche Theaterleidenschaft / Die Vergnügungen der Bürgerschaft / Alltag im absolutistischen Darmstadt / Abwendung des Staatsbankrotts – Darmstadt unter Ludwig IX. / Die Große Landgräfin und der Kreis der Empfindsamen / Das Goethehäuschen

Das lange 19. Jahrhundert – Darmstadt im Großherzogtum Hessen (1806–1914)

Von der Landgrafschaft zum Großherzogtum / Georg Moller und der Ausbau Darmstadts / Darmstadt zu Beginn des 19. Jahrhunderts / Soziale Krise und politische Reformen / Louise Büchner und die deutsche Frauenbewegung / Auf dem Weg zur modernen Stadt: Industrialisierung und Infrastruktur / Stadtausbau und Wohnungsnot / Kunst und Kultur im 19. Jahrhundert

Vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg – Weimarer Republik und Nationalsozialismus

Das Ende der Residenz – Darmstadt im Ersten Weltkrieg / Kriegsende und Novemberrevolution / Hauptstadt des Volksstaates Hessen / Die »Goldenen Zwanziger«: Theaterkunst und Stadtkultur / Wirtschaftskrise und Aufstieg des Nationalsozialismus / Diktatur, Widerstand, Verfolgung, Judenpogrome / Untergang des alten Darmstadt im Zweiten Weltkrieg

Nach 1945: Darmstadt als Ort der Künste und der Wissenschaft

Besatzung, Mangelernährung und Trümmerräumung / Wiederaufbau von Kultur und Schulwesen / Rauchlose Industrie, Wirtschaftswunder, Wohnsiedlungen / Das neue Darmstadt / Das Hundertwasserhaus

Anhang

Literatur / Stadtplan / Register / Bildnachweis

Vorwort

Zusammen mit dem Hoftheater symbolisiert das Darmstädter Schloss – an der Stelle der frühmittelalterlichen Wasserburg gewissermaßen die Keimzelle des alten Darmstadt – die einstige kulturelle Tradition und die politische Bedeutung der Haupt- und Residenzstadt. Deren in weiten Teilen erhaltene historische Bausubstanz haben die Bomben des Zweiten Weltkriegs fast vollständig vernichtet. Darmstadt verlor 1944/45 nicht nur seine historische Stadtgestalt, sondern auch seine politische Bedeutung, als das lange Zeit preußische und damit von den Darmstädtern schief angesehene Wiesbaden Hauptstadt des neuen Bundeslandes Hessen wurde und die Regierungsbehörden dorthin abwanderten. Die Darmstädter, für die damit ein Verlust ihrer historischen Identität einherging, kompensierten das fehlende politische Gewicht durch neue Zielsetzungen, machten aus Darmstadt eine Stadt der Künste und der Wissenschaft, begründeten seinen Ruf als Digitalstadt und Schwarmstadt.

Die Einwohnerzahl hat 2018 erstmals die Marke von 160.000 überschritten. Darmstadt beherbergt gut 30 wissenschaftliche Einrichtungen, darunter die Europäische Behörde für Weltraumforschung (ESOC), die Organisation für Wettersatelliten (Eumetsat), die Gesellschaft für Schwerionenforschung, mehrere Fraunhofer-Institute, die Technische Universität und nicht zuletzt das Haus der Geschichte im ehemaligen Großherzoglichen Hoftheater mit Archiven und weiteren geschichtsforschenden Einrichtungen.

Die Kleine Stadtgeschichte zeichnet die Entwicklung von der unbedeutenden Ackerbürgerstadt zum politischen und kulturellen Zentrum des Großherzogtums Hessen-Darmstadt und weiter zum modernen Oberzentrum im Rhein-Main-Gebiet nach. Sie kann nur die wesentlichen Strukturen erfassen, die Darmstadt in seiner Geschichte ausmachen, denn der vorgegebene Rahmen fordert Beschränkung, Konzentration und Wertung. Die Darstellung nimmt die Höhepunkte der politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung ebenso in den Blick wie die Katastrophen, die Fürsten und ihren Hof ebenso wie Bürgertum und Arbeiterschaft, fürstliche Bauwut und städtische Bauplanungen, Zerstörung und Niedergang ebenso wie Wiederaufbau und Aufschwung. Alle diese Aspekte haben zur geschichtlichen Entwicklung Darmstadts beigetragen und damit ihren Platz in dieser Kleinen Stadtgeschichte verdient.

image

Altes Rathaus am Marktplatz, erbaut 1599–1601 an der Stelle eines Vorgänger baus aus den Jahren 1566–1568. – Aufnahme um 1900

Vor- und Frühgeschichte des Darmstädter Raumes

Von der Steinzeit zur Römerzeit

Grundsätzlich war der Darmstädter Raum aufgrund seiner überwiegend sandigen Böden für Ansiedlungen nicht günstig. Wir wissen nicht, wann die ersten Menschen unsere Gegend durchstreiften. Aus der Steinzeit haben sich nur wenige Spuren ihrer Existenz erhalten. Erst aus dem späten 3. Jtd. v. Chr. stammen die frühesten Funde menschlicher Artefakte, die verstreut in Darmstadt und Umgebung zum Vorschein kamen und darauf hindeuten, dass die Menschen einige Zeit zuvor zu Ackerbau und Viehzucht übergegangen und sesshaft geworden waren. Hierzu gehören zwei geschliffene Steinbeile und ein Steinmeißel, die bei Bauarbeiten im Westen Bessungens entdeckt wurden. Eine weitere Fundstelle befindet sich in der Nähe des Bessunger Forsthauses.

Zentren der jungsteinzeitlichen Besiedlung von Menschen der sog. »Glockenbecherkultur« (um 2000 v. Chr.), benannt nach den von ihnen genutzten glockenförmigen Bechern, waren das Modautal zwischen Nieder-Modau und Nieder-Ramstadt, der Pfungstädter Raum und die Sandgebiete um Gräfenhausen und Wixhausen. Einer ihrer Vertreter ist der »Älteste Darmstädter«, ein männliches Skelett, das man 1926 in einem Hockergrab am Wasserwerk zwischen Griesheim und Pfungstadt fand. Dem Toten, einem jungen Mann von 1,72 cm Größe, wurden ein Keramikgefäß, ein abstraktes Frauenfigürchen, eine steinerne Armschutzplatte sowie Pfeil und Bogen mit ins Jenseits gegeben. Das restaurierte Grab ist heute im Hessischen Landesmuseum zu sehen.

Aus der Bronzezeit (1600–1300 v. Chr.) stammen einige Grabhügel im Darmstädter und Bessunger Wald. 1939 wurde ein bronzezeitlicher Grabhügel mit mehreren Bestattungen zwischen Bernhardsackerschneise und Scheftheimer Wiesen untersucht, der in der frühen Eisenzeit noch einmal mit einem Grab belegt wurde. Man stieß auf eine große Zahl wertvoller Funde, darunter vier Bronzenadeln, die die Gewänder der beiden dort bestatteten Frauen zusammenhielten. In der späten Bronzezeit (1200–800 v. Chr.) – nach dem namengebenden österreichischen Fundort Hallstattzeit genannt – zog sich eine Kette von Grabhügeln fast im Halbkreis von der Koberstadt (zw. Langen und Wixhausen) an Messel und Kranichstein (Grabhügel in der Fasanerie) vorbei über das Bessunger Forsthaus bis in den Bessunger Wald und nach Traisa. Man kann geradezu von einer Gräberstraße sprechen, die vielleicht eine Hauptverkehrsroute des 1. Jtds. v. Chr. bildete. In den Hügeln, die zum Teil heute noch zu erkennen sind, wurden die Toten mit ihrer Tracht und Bewaffnung beigesetzt. Den Frauen gab man Nadeln und Ringschmuck aus Bronze mit.

image

Zwei Radnadeln aus einem bronzezeitlichen Hügelgrab an der Bernhardsackerschneise. Die beiden Nadeln hielten einst ein Frauengewand zusammen.

In der Koberstadt fanden Archäologen Ende des 19. Jhs. auch Spuren von runden und viereckigen Hütten. Im Winkel zwischen Alter Ober-Ramstädter Straße und Traisaer Weg (in der Nähe des heutigen Traisaer Sportgeländes) entdeckte Friedrich Soldan nach eigenen Angaben im Jahr 1903 zwischen Grabhügeln ein ganzes Gehöft der Hallstattzeit mit zwei lang gestreckten nebeneinanderliegenden Pfostenhäusern sowie einem dritten, schmaleren Bau. Die neuere Forschung zieht Soldans Befunde und ihre Interpretation jedoch in Zweifel. Die meisten Funde aus den Grabhügeln sind leider 1944 im Hessischen Landesmuseum verbrannt.

Aus den häufigen, wenn auch lückenhaften Funden der Stein-, Bronze- und Eisenzeit kann man eine ununterbrochene Besiedlung unserer Gegend mindestens seit Beginn des 2. Jtds. v. Chr. erschließen. Erst in den letzten Jahrhunderten vor der Zeitenwende lassen sich jedoch die Funde bestimmten Völkern und Stämmen zuweisen. So siedelten zur Zeit Caesars elbgermanische Sueben zusammen mit bereits länger ansässigen Kelten in unserem Raum. Keltischen Ursprungs ist vielleicht die 1966 entdeckte Menhir-Anlage ganz im Osten der Darmstädter Gemarkung neben der Scheftheimer Wiese am Ruthsenbach. Ein keltisches Kriegergrab entdeckte man 1854 an der Rosenhöhe östlich der Erbacher Straße. Begraben war hier ein 40–50-jähriger Mann, ausgestattet mit Wehrgehänge, Schwert, Lanze und Schild. Zu seinen Füßen stand eine Flasche aus dunklem Ton. Ende des 19. Jhs. stieß man bei Ausgrabungen am Weißen Turm auf ein suebisches Brandgräberfeld. Bei Enttrümmerungsarbeiten am benachbarten Marktplatz kamen 1950 weitere Grabbeigaben zum Vorschein. Das bekannteste Fundstück war neben zwei Keramikgefäßen und einem Ring eine aus einer braunkohleartigen Masse hergestellte Hundefigur, genannt »Spitz vom Weißen Turm« (1944 zerstört).

In der ersten Hälfte des 1. Jhs. n. Chr. versuchten römische Legionen mehrfach, in die germanischen Siedlungsgebiete östlich des Rheins vorzudringen. Nachdem die Operationen keinen Erfolg zeitigten, zogen sich die Römer hinter den Rhein zurück. In der Ebene westlich von Darmstadt sind in den letzten Jahren durch systematische Feldforschungen frühe Römerlager bei Groß-Gerau, Wallerstädten und am »Kornsand« entdeckt worden. Im Zuge der Chattenkriege unter Domitian (81–96 n. Chr.) begannen die Römer erneut, die Grenze nach Osten und Nordosten vorzuschieben, um künftigen Übergriffen der Germanen besser begegnen zu können. Kastelle, z. B. in Groß-Gerau, Gernsheim und Ladenburg, sicherten seit etwa 75 n. Chr. den Vormarsch. Nach dem Bau des Limes wurde das Gebiet nördlich und südlich des Mains endgültig in die neu gegründete Provinz Germania Superior mit der Hauptstadt Mainz einbezogen. Odenwald und Ried bildeten innerhalb dieser Provinz eine römische Verwaltungseinheit (civitas), deren Zentrum vermutlich das um 120 n. Chr. erbaute Dieburg war. Um die Kastelle bildeten sich Lagerdörfer teilweise recht großen Umfangs. Im Hinterland des Limes entstanden landwirtschaftliche Einzelhöfe, zum Teil von Veteranen angelegt, vermutlich auch auf dem Gebiet des heutigen Darmstadt. Die verstreuten römischen Funde lassen keine genaueren Aussagen zu, aber römische Brandgräber und Mauerreste am Eberstädter Steigertsweg deuten auf einen solchen Gutshof hin.

image

Der »Spitz vom Weißen Turm« mit Keramikgefäßen und Ring.

Die Römer erschlossen ihr rechtsrheinisches Herrschaftsgebiet durch neu angelegte Verkehrswege. Der Raum südlich Darmstadts wurde zum Schnittpunkt mehrerer Straßen. Etwa dort, wo heute der Bessunger Forstmeisterplatz liegt, kreuzten sich die römische Bergstraße, die frühestens Ende des 1. Jhs., vermutlich aber unter Kaiser Hadrian (117–138 n. Chr.) angelegt wurde, und die Straße, die vom Kastell Groß-Gerau am späteren Gehaborner Hof vorbei nach Bessungen, etwa in Höhe des Marienhospitals in den Wald und südlich am Herrgottsberg vorbei auf der Trasse der Alten Ober-Ramstädter Straße nach Traisa und weiter nach Dieburg führte. Nördlich von Traisa vereinigte sie sich mit der Straße vom römischen Hafen Gernsheim an Eberstadt vorbei nach Dieburg. In der Nähe des Gehaborner Hofes fand man 1868 den Grabstein eines römischen Kaufmanns, der an der Straße von Groß-Gerau nach Bessungen von Räubern erschlagen worden war. Die Bergstraße, eine vermutlich schon in keltischer Zeit benutzte Nord-Süd-Verbindung, von den Römern ausgebaut zur besseren Erschließung der Grenzprovinz, war keine römische Hauptstraße (diese verlief linksrheinisch zw. Worms und Mainz), aber das Rückgrat der Siedlungsentwicklung im Darmstädter Raum. Ob sie in römischer Zeit schon bis Frankfurt zog, muss fraglich bleiben. Im Wesentlichen dürfte die Trasse von Süden bis Zwingenberg der heutigen Verkehrslinie entsprochen haben. Über den weiteren Verlauf weiß man nicht genau Bescheid.

Trotz der guten Verkehrsanbindung ist es im Darmstädter Raum nicht zum Bau römischer Militäranlagen und zur Gründung von Ansiedlungen gekommen. Vereinzelte Landgüter und Gehöfte, etwa am Mathildentempel, in Nieder- und Ober-Ramstadt, Roßdorf und Gundernhausen, sind archäologisch nachgewiesen worden. 1971 wurde in der Nähe des Bessunger Forsthauses in einer Wiese eine Quelle gefunden, die zu einem kleinen römischen Gutshof gehört hat. Ausgrabungen ergaben, dass sie bereits in der Hallstattzeit um 1000 v. Chr. genutzt, aber erst um 100 n. Chr. gefasst worden war. Der Hof stammte also aus der ersten römischen Besiedlungsphase des Odenwaldraumes und stand in Verbindung zur römischen Straße von Gernsheim bzw. Groß-Gerau nach Dieburg. Insgesamt wurden fünf villae rusticae an dieser römischen Straße festgestellt.

Die Anfänge der Darmstädter Geschichte

Zu Anfang des 3. Jhs. begann für das südliche Hessen nach fast 200-jähriger Zugehörigkeit zum Römischen Reich mit dem Eindringen elbgermanischer Krieger vom Stamm der Alamannen eine unruhige Zeit. Als kurz nach 230 und v. a. 259/260 alamannische Heere auf breiter Front den Limes überwanden, verlegten die Römer die Grenze wieder an den Rhein zurück. Der Limes wurde aufgegeben. Der Rückzug ging anscheinend geordnet vor sich, nicht fluchtartig, denn es fanden sich an den römischen Siedlungsplätzen in Südhessen keine Brandschichten und Versteckfunde (Horte). Das Land zwischen Main und Neckar sowie im Odenwald wurde von Alamannen besiedelt. Während man früher annahm, dass den wiederholten Feldzügen durch Tod oder Flucht ein Großteil der eingesessenen Bevölkerung zum Opfer fiel, geht aus neueren Forschungen hervor, dass romanische und auch germanische Bevölkerungsteile vor Ort blieben und sukzessive von den Alamannen assimiliert wurden. Aus den wenigen erhaltenen Funden kann man schließen, dass die Neusiedler zusammen mit den Resten der alten Bevölkerung die vorhandenen römischen Siedlungen und Villen weiternutzten oder in der Nähe ansässig wurden, man also von einer Siedlungskontinuität ausgehen kann. Alemannische Aufsiedlungen hat man ab den 330er-Jahren festgestellt. Siedlungen und Gräber fanden die Archäologen bei Trebur, Groß-Gerau und Groß-Rohrheim. Neu angelegte Siedlungen sind im südlichen Hessen bisher nur in Groß-Gerau nachgewiesen worden. Hier konnte in der Flur »Auf Esch« im Rahmen mehrerer Grabungen seit 1978 eine alamannische Siedlung des 5. Jhs. (Datierung aufgrund von Münzfunden) in unmittelbarer Nachbarschaft zum römischen Kastell und der Zivilsiedlung aufgedeckt werden. Auch das 1859 an der Windmühle im Winkel zwischen Gräfenhäuser und Pallaswiesenstraße freigelegte Gräberfeld soll einige alamannische Bestattungen enthalten haben. Schon Ende des 19. Jhs. wurde in Groß-Umstadt ein alamannisches, von den Franken weiter belegtes Gräberfeld entdeckt und seitdem mehrfach angeschnitten.

Seit dem frühen 5. Jh. stürmten die Franken vom Mittelrhein- und Lahngebiet aus gegen die Alamannen an; 496 besiegte Chlodwig aus dem fränkischen Königshaus der Merowinger die alamannischen Stämme bei Zülpich in der Nähe von Köln. Letztere zogen sich auf eine Linie südlich des mittleren Neckars zurück, wo sie ein Stammesherzogtum bildeten. Das geräumte Gebiet zwischen Taunus und mittlerem Neckar wurde von den Franken zunächst militärisch besetzt und anschließend planmäßig besiedelt. Zugleich setzte auch die Christianisierung ein. Es scheint ein Bruch in der Besiedlung am Ausgang des 5. Jhs. stattgefunden zu haben. Die vorher angelegten Friedhöfe setzen sich im Allgemeinen im 6. Jh. nicht weiter fort. Es entstanden zahlreiche neue Siedlungen, die Vorläufer der heutigen Dörfer und Städte. Durch die Siedlungskontinuität zwischen fränkischer und heutiger Zeit erklärt sich die geringe Dichte fränkischer Funde in Südhessen: Die alten Wohnplätze liegen unter den heutigen Ortskernen. Durch das Fehlen schriftlicher Quellen für die Geschichte der fränkischen Siedlung sind wir jedoch – neben namenkundlichen – auf archäologische Belege angewiesen. Als Indizien gelten die Reihengräberfriedhöfe, so genannt wegen der gleichartigen Ausrichtung der Gräber und ihrer Anlage in Reihen. Sie deuten auf in der Nähe befindliche Siedlungen hin. Trotz hoher Beraubungsquoten bilden sie durch ihre reichen Grabbeigaben – Kleidung, Waffen, Schmuck – für die Frühmittelalterforschung die wichtigste Quelle. 1975–77 wurde bei Griesheim ein großes fränkisches Gräberfeld mit 484 Bestattungen ausgegraben. Man fand sogar den Grundriss einer kleinen hölzernen Kirche, den ältesten bisher bekannten Kirchenbau Südhessens (Ende 7. oder Anfang 8. Jh.). Auch in Büttelborn gibt es ein gerade in jüngster Zeit ergrabenes Reihengräberfeld aus dem späten 6. Jh. mit rund 420 Gräbern. In Wallerstädten, Dornheim, »Auf Esch« (alle bei Groß-Gerau) und in Riedstadt-Wolfskehlen fanden in den 1980er- und 1990er-Jahren Ausgrabungen statt, die reichhaltige Ergebnisse zu Tage förderten.

Auch auf dem heutigen Darmstädter Stadtgebiet konnten mehrere Gräberfelder entdeckt und teilweise ausgegraben werden, so um 1775 beim Bau des Kollegiengebäudes am Luisenplatz, 1894 erneut unter dem Kollegiengebäude und 1859 an der bereits genannten Windmühle. Als man im Jahr 1860 zur Auffüllung des Geländes für den Bau der Artilleriekaserne in der Heidelberger Straße den Vollhardsberg östlich des Forstmeisterplatzes in Bessungen abtrug, stieß man ebenfalls auf ein fränkisches Reihengräberfeld mit 17 geborgenen Gräbern. Leider sind die meisten der reichhaltigen Grabfunde – Schwerter, Lanzen, Messer, Scheren, Halsketten – 1944 im Hessischen Landesmuseum verbrannt. Dieses Gräberfeld stellt wohl den ältesten Beleg für die Existenz des Dorfes Bessungen dar. Hier ist vermutlich im 7. oder 8. Jh. auch die erste Pfarrkirche unserer Gegend errichtet worden. Der Name »Bessungen« bedeutet »zu den Leuten des Bezzo«, ist also eine personengebundene Namensgebung, anders als die ebenfalls fränkischen »-heim«-Namen, die einen Ort, eine Wohnstätte bezeichnen. Die frühesten fränkischen Siedlungen erhielten durchweg Namen auf »-ingen« und »-heim«. Die erste Kolonisationsphase beschränkte sich auf die fruchtbarsten Böden und die besten Lagen. Da das Land zwischen Main und Modau fast vollständig mit Wald bedeckt war, gab es in der frühen fränkischen Siedlungsphase wenige Gründungen; beide Namensformen sind folglich hier selten (Sprendlingen, Bessungen, Griesheim, Seeheim, Jugenheim; eine Ausnahme bildet wohl Arheilgen). Als die Bevölkerung anwuchs, wurden auch weniger günstige Lagen für Siedlungen erschlossen.

image

Pferdetrense aus dem fränkischen Reihengräberfeld vom Forstmeisterplatz.

Dieser zweiten Phase gehören die in unserer Gegend häufigen »-stat«-Namen an. Einen wichtigen Hinweis auf das Alter einer Siedlung liefert auch die Gemarkung. Meist besitzen ältere Orte größere Gemarkungen als die jüngeren Siedlungen derselben Gegend, die sich zwischen schon vorhandene Gemarkungen drängen mussten. Auch von daher ist anzunehmen, dass Bessungen mit seiner großen waldreichen Dorfgemarkung älter ist als das etwa 2 km entfernte Darmstadt. Bessungen und das nördlich angrenzende Arheilgen mit seiner ebenfalls umfangreichen Gemarkung waren bis ins 14. Jh. hinein bedeutender als Darmstadt. Beide nannten Pfarrkirchen ihr Eigen, während in Darmstadt nur eine fränkische Friedhofskapelle bestand. Erst mit der Residenzgründung in der Darmstädter Wasserburg kehrte sich dieses Verhältnis um. In Personen wie Bezzo (s. o.), dem Darmstädter Darimund, dem Eberstädter Eberhard, dem Weiterstädter Wido und Gerold, dem Gründer des bald wieder wüst gewordenen Geroldshausen bei Pfungstadt, dürfen wir wohl fränkische Adlige sehen, die nach dem Sieg über die Alamannen die neu gewonnenen Gebiete dem Frankenreich erschlossen und zusammen mit ihren Gefolgsleuten die nach ihnen benannten Orte gegründet haben. In welchen Formen sich Ansiedlung und Namengebung vollzogen, ist im Einzelnen völlig unbekannt.

Die Gründung Darmstadts in fränkischer Zeit dürfte auf eine befestigte Wohnstätte eines fränkischen Adligen namens Dar(i)mund zurückgehen, der sich mit seinem – üblicherweise unfreien – Gefolge hier niederließ. In älteren stadtgeschichtlichen Darstellungen ist gewöhnlich zu lesen, er sei ein Wildhübner gewesen, ein im königlichen Auftrag handelnder Forstverwalter, der einen Abschnitt des Wildbanns Dreieich zu überwachen hatte. Dieser Wildbann, ein ausgedehnter Waldbezirk, der sich von Bad Vilbel im Norden bis nach Eberstadt südlich von Darmstadt erstreckte und in welchem dem König alleine das Jagd- und Fischereirecht sowie weitere Nutzungen zustanden, soll, so nahm man früher an, in der Karolingerzeit (9. Jh.) entstanden sein. Die meisten Wildbanngründungen im deutschen Reich erfolgten jedoch erst im 10. oder 11. Jh. Urkundlich erwähnt wurde der Wildbann Dreieich erstmals 1069, also lange nach der Gründung Darmstadts, und die älteste Quelle für die Organisation dieses Wildbanns, das Weistum Kaiser Ludwigs des Bayern, stammt sogar erst aus dem Jahr 1338.

HINTERGRUND

DER NAME »DARMSTADT«

Die erste Erwähnung Darmstadts als »darmundestat« findet sich in einer Handschrift des späten 11. Jhs., die heute in der Stadtbibliothek Mainz aufbewahrt wird. Die Bedeutung ist nicht sicher. »Wohnstätte des Darmund oder Darimund« liegt aufgrund des häufigen Vorkommens der Endungen »-heim« oder »-stat« in Verbindung mit einem Personennamen nahe. Der gegen diese Vermutung vorgebrachte Einwand, der Name »Darimund« sei nirgendwo sonst belegt, kann angesichts der kaum vorhandenen schriftlichen Quellen der Zeit nicht verwundern, ist bisher aber auch nicht durch Studien untermauert worden. Die Herleitung vom Darmbach (über idg. »Taram« = »starkes Wasser«) kommt nicht in Frage, weil der den Ort durchfließende Bach erst im 18. Jh. so bezeichnet wird. Abzulehnen ist die vom früheren Oberbürgermeister Heinz Winfried Sabais erdachte Lösung, nach der »dar-munde-stat« »Siedlung am befestigten Durchgang« bedeute, eine sprachwissenschaftliche Konstruktion, die der weitgehend illiteralen Welt des Frühmittelalters nicht gerecht wird. Man muss davon ausgehen, dass die ersten Generationen im neu besiedelten Darmstadt weder lesen noch schreiben konnten.

Mit größerer Wahrscheinlichkeit können wir die Gründung Darmstadts in Zusammenhang bringen mit der 772 erstmals als »strata publica« (Landstraße) erwähnten Bergstraße, die vermutlich schon im 8. Jh. als Handelsweg diente, der reisende Kaufleute zur Kaiserpfalz nach Frankfurt und weiter in die fruchtbaren Gebiete der Wetterau leitete. Von Süden kommend führte sie über Eberstadt und Bessungen auf einem Höhenweg durch das spätere Darmstädter Stadtgebiet und über Arheilgen nach Norden. Es ist daher denkbar, dass die Gründung Darmstadts auf eine Zoll- oder Wachstation an diesem bedeutenden Handelsweg zurückgeht. In Anlehnung an diese vermutlich befestigte Anlage bildete sich im Osten jenseits der Straße auf einem hochwassersicheren, 400 x 250 m großen Plateau eine kleine dörfliche Siedlung heraus. Der unterhalb der Kuppe in einer feuchten Niederung fließende spätere Darmbach versorgte die befestigte Anlage und die Siedlung mit Wasser. Der Friedhof mit einer kleinen Kapelle, aus der später die Stadtkirche hervorgehen sollte, lag nach fränkischer Gewohnheit ein wenig außerhalb jenseits des Baches.

Das Darmstädter Umland war seit fränkischer Zeit in königlichem Besitz und Bestandteil des Königshofes Groß-Gerau. Hier befand sich schon in frühfränkischer Zeit eine große Siedlung, wie die vielen dort entdeckten fränkischen Reihengräber belegen. Noch zu Beginn des 15. Jhs. war das knapp 10 km nordwestlich gelegene Groß-Gerau größer und steuerkräftiger als Darmstadt. Über den Umfang und die Größe des Königshofes liegen aus dem 11. Jh. keine Nachrichten vor. Ausweislich späterer Urkunden gehörten dazu u. a. Dornberg, Groß- und Klein-Gerau, Büttelborn, Worfelden, Wixhausen, Arheilgen, Darmstadt, Bessungen, Klappach und Nieder-Ramstadt.

Am 21.6.1013 übertrug Kaiser Heinrich II. den Königshof Groß-Gerau an das Bistum Würzburg, und in einer zweiten Urkunde vom selben Tag fügte er dieser Schenkung das Grafengericht in Bessungen hinzu. Der Königshof hatte eine eigene Gerichtsbarkeit, Angehörige mussten sich bei Vergehen vor dem Bessunger Gericht verantworten. Die Bischöfe von Würzburg blieben nun nominell bis 1803 Bessunger und Darmstädter Oberherren, obwohl man von dieser Oberherrschaft schon bald nichts mehr wahrnahm.

HINTERGRUND

KÖNIGSHÖFE

Ein Königshof war ein Hofverband mit einem Haupthof und mehreren Nebenhöfen in umliegenden Ortschaften, denen wiederum die Hofstätten abhängiger Bauern zugeordnet waren. Der Hofverband konnte einige hundert Personen umfassen. Königshöfe stellten die wirtschaftliche Versorgung des Königs und seines Hofstaates sicher, der im Früh- und Hochmittelalter noch keine feste Residenz besaß, sondern sich auf einem dauernden Umritt durch das Reich befand und meist von Pfalz zu Pfalz reiste, aber sich manchmal auch auf den Königshöfen aufhielt, die für solche Zwecke entsprechende Unterkünfte vorhielten. Die Höfe besaßen meist auch eigene Pfarrkirchen für die Gottesdienste der Hofleute und der Gäste. Sie lagen deshalb verkehrsgünstig, z. B. an alten Römerstraßen wie im Falle von Groß-Gerau, das vermutlich die Versorgung der Pfalzen in Trebur und Frankfurt sicherstellte.

image

Gehaborner Hof. – Luftaufnahme, 1956