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Martin Clauss / Frank-Lothar Kroll

Chemnitz

Kleine Stadtgeschichte

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UMSCHLAGMOTIVE

Vorderseite: Chemnitz, Königstraße Ecke Brückstraße; historisch Postkarte, um 1900 (Stade-Auktionen). Rückseite: Chemnitzer Karl-Marx-Monument, genannt »Nischl«, nach einem Entwurf von Lew Kerbel (Alamy Stock Foto; Fotograf: Gunter Kirsch)

BIBLIOGRAFISCHE INFORMATION DER DEUTSCHEN NATIONALBIBLIOTHEK

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

ISBN 978-3-7917-3028-8

© 2019 by Verlag Friedrich Pustet, Regensburg

Reihen-/Umschlaggestaltung und Layout: Martin Veicht, Regensburg

Satz: Vollnhals Fotosatz, Neustadt a. d. Donau

Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg

Printed in Germany 2019

eISBN 978-3-7917-6149-7 (epub)

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Inhalt

Einleitung

12. und 13. Jahrhundert: Anfänge der Stadtgeschichte

Das Benediktinerkloster im 12. Jahrhundert / Die Urkunde König Konrads III. von 1143 / Die Anfänge der Stadt / Reichsstadt im 13. Jahrhundert / Zwischen Kloster, Königtum und Wettinern

Chemnitz im 14. und 15. Jahrhundert

Landstadt der Wettiner / Chemnitzer Urkundenbuch / Das Bleichen im mittelalterlichen Chemnitz / Bier und Bierkrawalle / Stadt und Kloster: Wirtschaft, St. Jakobi, Gerichtsrechte / Chemnitzer Brauereigeschichte

Die Stadt am Ende des 15. Jahrhunderts: eine Zwischenbilanz

Der Rote Turm / Paulus Niavis

Chemnitz im 16. und 17. Jahrhundert

Sächsische (Stadt-)Geschichte vor der Reformation / Reformation in Chemnitz / Im Schmalkaldischen Krieg / Georgius Agricola / Die Stadt im Dreißigjährigen Krieg / Die Schlacht bei Chemnitz

Frühe Weichenstellungen: Das 18. Jahrhundert

Krieg, Zerstörung, Neuaufbau / Städtisches Leben im 18. Jahrhundert / Literarisches Chemnitz / Blütezeit der Manufakturen und Beginn des Fabrikzeitalters

Im Zeitalter der Industrialisierung: 1800–1870

Das Stadtbild verändert sich / Anfänge kommunaler Selbstverwaltung / Neue Impulse für Bildung und Kultur / Musik in Chemnitz / Forcierte Industrialisierung / Chemnitzer Industrielle / Soziale Wandlungen und Formierung der Arbeiterbewegung

Großstadt im neuen Reich: 1870-1914

Chemnitzer Gründerjahre / Industrie – Architektur – Stadtbild / Juden in Chemnitz / Urbanisierung und kommunale Leistungsverwaltung / Der Kaßberg / Kultur, Bildung, Wissenschaften / Vorkriegswelten / Autos in Chemnitz

Im Zeitalter der Weltkriege: 1914–1945

Weltkrieg, Revolution, Neubeginn / Politik und Gesellschaft zwischen Demokratie und Diktatur / Stadt der Moderne / Chemnitzer Autoren / Weltwirtschaftskrise, Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg / Bombenkrieg und Vernichtung der Stadt

Im Zeitalter des Kalten Krieges: 1945–1989

Neuanfang im Zeichen des Sowjetsterns / Gesellschaft und Wirtschaft im Sozialismus / Fremde und Fremdsein in Chemnitz / Eine neue Stadt / Das Karl-Marx-Monument – »Der Nischel« / Auf dem Weg zur »allseits entwickelten sozialistischen Persönlichkeit«? / Die Bezirksstadt als sozialistische Industriemetropole

Chemnitz im vereinigten Deutschland: 1990–2018

Politische Wende und demokratischer Neubeginn / Vom »Plan« zum »Markt«: Aufschwung Ost? / Gegenwart und Zukunft

Anhang

Zeittafel / Literatur / Register / Stadtplan / Bildnachweis

Einleitung

Im Jahr 2018 feierte die Stadt Chemnitz ein Jubiläum: Es bezog sich auf die vor 875 Jahren erfolgte Ersterwähnung des ›locus kameniz dictus‹ in einer Urkunde, die auf König Konrad III. und das Jahr 1143 ausgestellt ist. Dieses war indes nicht das erste Jubiläum in der Geschichte der Stadt: 1893 feierte man 750 und 1965 dann 800 Jahre Chemnitz.

Historiker haben ein vielschichtiges Verhältnis zu Jubiläen. Betrachtet man die Jahre, in denen in Chemnitz Jubiläum gefeiert wurde, wird schnell deutlich, wie variabel sich Bezugnahmen auf historische Ereignisse im Sinne der Traditionsstiftung gestalten können: Mal nahm man 1143 als Bezugspunkt, mal 1165. Dies hatte weniger mit dem jeweiligen Stand der geschichtswissenschaftlichen Forschung zu tun als vielmehr mit den politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen.

1893, anlässlich der 750-Jahr-Feier, wurde in einem Jubiläumsband korrekterweise darauf verwiesen, dass 1143 zwar nicht das Gründungsjahr der späteren Stadt Chemnitz gewesen sei, die erstmalige urkundliche Erwähnung des Ortes eine entsprechende Jubiläumsfeier jedoch vollauf rechtfertige. Hingegen bezog sich die im Juni 1965 mit großem Aufwand zelebrierte 800-Jahr-Feier unter dem Motto »800 Jahre alt – und doch so jung« auf eine zweifelhafte historische Legitimation. Maßgeblich war hier allein der politisch motivierte Wille der Karl-Marx-Städter SED-Bezirksleitung, eine Festwoche mit Massenumzügen zum 20. Jahrestag der »Befreiung vom Faschismus« zu inszenieren – und bei dieser Gelegenheit die städtebaulichen und infrastrukturellen »Errungenschaften des Sozialismus« zu präsentieren.

Solche Beobachtungen verweisen auf die gemeinschaftsstiftende Bedeutung von Geschichte und belegen, dass die professionelle Geschichtswissenschaft nicht die alleinige Deutungshoheit über die Vergangenheit besitzt. Im Sinne einer wissenschaftlichen Hermeneutik verfügen »runde« Jahreszahlen über kein besonderes Erkenntnispotenzial, sondern unterliegen den Zufälligkeiten des Dezimalsystems. Jubiläen sind nicht an sich, sondern als Ausdruck eines gesellschaftlichen Sich-Besinnen-Wollens unter Bezug auf Geschichte interessant und gehören damit zur Kernkompetenz der Geschichtswissenschaft. Deswegen müssen wir uns zu Jubiläen positionieren und mit der gesellschaftlichen Suche nach sinnbehafteter Tradition umgehen. Dann werden Jubiläen zum Anlass des Nachdenkens über die Vergangenheit und die Geschichten, die wir über sie erzählen. Der Deutungsprozess, aus dem Geschichte entsteht, ist beständigem Wandel unterworfen und bringt immer neue Sichtweisen und Interpretationen hervor.

In diesem Sinne präsentieren wir mit diesem Buch unsere Sicht auf die Chemnitzer Stadtgeschichte und nehmen das Jubiläum zum Anlass, diese einer interessierten Öffentlichkeit vorzustellen – fundiert und gut lesbar. Wir möchten dabei einen Zugang zur Vergangenheit der Stadt eröffnen, der verschiedene Facetten ihrer Geschichte und deren Erforschung beinhaltet.

Chemnitz entwickelte sich von einer Ansiedlung am Fuß des Klosterbergs zu einer blühenden Industriestadt. Eingefügt in die Landesherrschaft der Wettiner war die Stadt ein wichtiger Bestandteil der Mark Meißen, des Herzogtums, Kurfürstentums und Königreichs Sachsen. Durch die Industrielle Revolution entwickelte sie sich zu einem der bedeutendsten Wirtschaftsstandorte des Landes.

Die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs und die städtebaulichen Veränderungen in der DDR sowie im vereinigten Deutschland prägen heute das Stadtbild. Ohne Einblicke in die Vergangenheit und deren Ausdeutung zur Geschichte kann man dieses nicht verstehen. Chemnitz birgt die verschiedenen Epochen seiner Geschichte noch immer in sich und zeigt sie demjenigen, der hinzusehen versteht, in unterschiedlicher Deutlichkeit: Das Mittelalter scheint an wenigen Punkten auf, der Jugendstil prägte ganze Straßenzüge und Stadtviertel ebenso wie die sozialistische Architektur und postmoderne Glasbauten. Wiederaufbau und Zerstörung stehen eng nebeneinander und verweisen auf Probleme und Möglichkeiten.

Der Ort, der ›Chemnitz genannt wurde‹, hat sich zu einer lebhaften Großstadt entwickelt und steht vor zahlreichen Herausforderungen, die sich – auch – historisch erklären lassen. Daher versteht sich das Buch, im »Jahr Eins« nach dem Stadtjubiläum, nicht zuletzt als Anregung dazu, Reflexionen über Vergangenheit und Geschichte nicht an »runde« Jahreszahlen zu binden, sondern sie zu einem stetigen Bestandteil einer aufgeschlossenen Stadtöffentlichkeit werden zu lassen.

Als Autoren zeichnen wir für je einen Teil des Buches verantwortlich: Martin Clauss hat den Abschnitt von den Anfängen bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges (S. 10–61), Frank-Lothar Kroll den vom ausgehenden 17. Jahrhundert bis heute (S. 62–158) geschrieben. Zu beiden Teilen haben wir Seminarveranstaltungen an der Technischen Universität Chemnitz, an der wir lehren, durchgeführt. Einige der studentischen Arbeiten sind als kleine Exkurse in dieses Buch eingeflossen. Die Namen der Autorinnen und Autoren sind an entsprechender Stelle jeweils vermerkt. Gefördert wurde die Abfassung des Buches durch die Chemnitzer Wirtschaftsförderungs- und Entwicklungsgesellschaft (CEW), der wir herzlich danken.

Dank gebührt darüber hinaus unseren Chemnitzer Mitarbeiterinnen Antonia Krüger, Antonia Sophia Podhraski, Stefanie Reinholt sowie Herrn Sebastian Schaarschmidt.

Chemnitz, im Januar 2019

Martin Clauss

 

Frank-Lothar Kroll

12. und 13. Jahrhundert: Anfänge der Stadtgeschichte

Im ersten Abschnitt dieses Buches geht es zunächst um das mittelalterliche Chemnitz vom 12. bis zum 15. Jh., anschließend um das 16. und 17. Jh. bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges. Dabei wird nicht nur die Stadtgeschichte nachgezeichnet, sondern immer wieder auch auf die Grundlage unseres Wissens eingegangen. Dieser Zugang bietet sich für das Mittelalter umso mehr an, als uns mitunter nur wenige Quellen vorliegen und wir uns oftmals schwer tun, lückenlose Entwicklungslinien zu entfalten. Daher soll im Folgenden auch deutlich gemacht werden, wo wir auf Annahmen zurückgreifen und eher Schlaglichter setzen müssen, ohne die ganze Bühne der Stadtgeschichte ausleuchten zu können.

Das Benediktinerkloster im 12. Jahrhundert

Im Norden des Chemnitzer Stadtkerns erhebt sich der Schlossberg mit dem stadtgeschichtlichen Museum. Der Ort ist gut gewählt: Das Museum befindet sich in den Räumen des ehemaligen Benediktinerklosters. Dieses ist älter als die Stadt und für deren Geschichte von großer Bedeutung. Wenn wir die Anfangsphase der Stadtgeschichte verstehen wollen, müssen wir uns zunächst ihm zuwenden.

Dreh- und Angelpunkt der frühen Chemnitzer Kloster- und Stadtgeschichte ist eine Urkunde aus dem Jahr 1143. Aussteller war König Konrad III. (reg. 1138–1152) aus der Dynastie der Staufer. Der Rechtskern ist die Verleihung eines Marktprivilegs, das den Leitern des Klosters die Errichtung eines öffentlichen Marktes (forum publicum) erlaubt und den Einwohnern des Ortes die Abgabenfreiheit auf diesem Markt und beim Handel in allen Regionen des Reiches garantiert. Hinzu kommen Regelungen zur Vogtei und zur Ausstattung des Klosters.

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Urkunde, in der die Gründung des Benediktinerklosters von Chemnitz bestätigt wird, ausgestellt auf Konrad III. und das Jahr 1143. Die Echtheit ist zweifelhaft.

Diese Urkunde ist die erste Erwähnung der Ortsbezeichnung ›Chemnitz‹ (locus Kameniz dictus) und des Benediktinerklosters. Wir greifen damit die Anfänge des Klosters, nicht aber der Stadt. Die Urkunde führt aus, dass das Kloster vom Vorgänger Konrads III., von Kaiser Lothar III. (Kg. 1125, Ks. 1133, † 1137,) gegründet und mit einer Ausstattung von zwei Meilen Land der römischen Kirche übertragen worden ist. Klosterpatronin war die Gottesmutter Maria, das Kloster folgte der Regel des hl. Benedikts und unter stand einem Abt. Dies sind die wichtigsten Informationen über die Anfänge des Chemnitzer Klosters.

HINTERGRUND

DIE URKUNDE KÖNIG KONRADS III. VON 1143

Wir sehen auf Seite 11 eine hochmittelalterliche Königsurkunde, geschrieben auf Pergament; ihre auffälligsten Äußerlichkeiten sind das Monogramm im unteren Drittel in der Mitte, das Siegel unten rechts und die langgezogene Schrift der ersten Zeile, die sog. Gitterschrift. Während diese ästhetische Zwecke verfolgte, dienten das aus Buchtstaben der Ausstellertitulatur zusammengesetzte Monogramm und das den Aussteller zeigende Siegel als Beglaubigungsmittel. Durch sie wurden die Authentizität der Urkunde und der Wille des Ausstellers deutlich gemacht, für den Rechtsinhalt einzustehen.

In diesem Fall verweist das Siegel aber auf die Schwierigkeiten, welche die geschichtswissenschaftliche Forschung mit dieser Urkunde hat: Ihre Echtheit ist von der Lokalgeschichte und der Urkundenforschung (Diplomatik) wiederholt angezweifelt worden. Wurde sie wirklich im Jahr 1143 von Konrad III. ausgestellt? Oder handelt es sich um eine Fälschung aus späteren Zeiten?

Einige Aspekte sind unbestritten: Das Siegel ist eine spätere Fälschung, und eine schlechte dazu. Größe und Gestaltung entsprechen nicht den Siegeln Konrads III.; auf der Abbildung erkennt man, dass der ursprüngliche Siegelabdruck größer gewesen ist. Ebenfalls unbestritten ist eine Verfälschung in Zeile elf: Hier wurde ein Teil des ursprünglichen Textes entfernt und überschrieben – Schrift und Tinte unterscheiden sich vom Rest des Textes.

Die Beurteilung anderer Besonderheiten ist komplex: Die Wortwahl der Urkunde passt nicht zu dem, was wir von anderen Urkunden Konrads kennen; die Schrift ist für die Mitte des 12. Jhs. zumindest ungewöhnlich. Die derzeit maßgebliche Edition (Monumenta Germaniae Historica) kategorisiert die Urkunde als in Teilen verfälscht und im Kern echt; sie erklärt die ungewöhnlichen Formulierungen damit, dass der Text nicht von einem Schreiber am Hof des Königs, sondern von einem Schreiber aus dem Umfeld des Bischofs von Naumburg stammte. Aktuelle Forschungen gehen von einer Fälschung aus dem frühen 13. Jh. aus.

Die ersten Klosterbauten aus der Mitte des 12. Jhs. waren zunächst aus Holz; der älteste Steinbau war die romanische Klosterkirche, deren früheste Teile aus den 1160er-Jahren stammen. Diese ältesten Baureste finden sich im ehemaligen Chorraum der Kirche. Mittelalterliche Kirchen waren in der Regel mit dem Altar nach Osten ausgerichtet – hin auf das Paradies und den Sonnenaufgang. Der wichtigste Teil jeder Kirche war der Chor rund um den Altar, der das Zentrum der liturgischen Handlungen darstellte. Um so schnell wie möglich in einer Kirche die Messe lesen zu können, baute man Kirchen von Ost nach West, schloss den Chorraum noch im Bauprozess provisorisch gegen den Rest der Baustelle ab und hatte so einen funktionierenden Sakralraum, wenn auch noch keine vollständige Kirche. So müssen wir uns die Situation in Chemnitz um die Mitte des 12. Jhs. vorstellen: Einige Mönche lebten in Holzbauten auf dem Klosterberg, und die erste Klosterkirche entstand. Diese Informationen werden durch spätere Schriftquellen und archäologische Funde bestätigt und behalten ihre Gültigkeit, auch wenn die Urkunde von 1143 eine Ganzfälschung sein sollte.

Gleiches gilt auch für das, was wir zur Stadt Chemnitz erfahren. Die Urkunde spricht von locus Kameniz dictus; an keiner Stelle lässt der Text auf eine Stadt oder eine stadtähnliche Siedlung schließen. Ab der Mitte des 12. Jhs. können wir neben dem Kloster eine Ansiedlung von Klosterhörigen annehmen. Diese Hörigen unterstanden der Gerichtsbarkeit des Klosters; diese wurde von einem Vogt als weltlichem Richter umgesetzt. Die Urkunde von 1143 benennt den Markgrafen von Meißen, Konrad (reg. 1123–1156/57) aus dem Haus der Wettiner, in dieser Funktion.

Warum gründete Kaiser Lothar ein Kloster in Chemnitz? Unsere Quelle gibt hierzu keine direkte Antwort – mit Ausnahme des Offensichtlichen: Durch die Gründung eines Klosters wollte er sein und seiner Familie Seelenheil befördern. Neben den religiösen vermutet die Forschung herrschaftspolitische Gründe für die Stiftung: Er wollte das sog. Pleißenland (terra plisnensis) für das Königtum erschließen. Die Gründung eines Klosters beförderte die Urbarmachung von Land durch Rodung, die Erschließung von Ackerland und Abgaben für das Königtum. Es ist nicht davon auszugehen, dass es in Chemnitz vor der Klostergründung eine nennenswerte Ansiedlung weltlicher oder geistlicher Natur gegeben hat. Die Benediktinermönche dienten hier als Kolonisatoren und Zivilisatoren im Auftrag des Königs. Dessen Mitteleinsatz zur Gründung des Klosters war dabei überschaubar: Er stattete die Gründungsmönche lediglich mit Rechten und Land aus, das erst urbar gemacht werden musste.

Die Anfänge der Stadt

Die ältesten archäologischen Funde im heutigen Stadtgebiet von Chemnitz datieren auf die Zeit um 1200. Die Entwicklung der Stadt nach der Wende 1989/90 machte ungewöhnliche umfangreiche Ausgrabungen im mittelalterlichen Siedlungskern möglich, so dass wir recht gut über das Alter der ersten Bebauung im heutigen Stadtgebiet informiert sind.

Diese Funde fügen sich harmonisch zu den schriftlichen Zeugnissen. Der erste Hinweis auf die Stadt Chemnitz findet sich in einem Zinsregister des Klosters; auch dieses wird in die Zeit um 1200 datiert.

In dieser Liste, die vielleicht unvollständig ist, sind Orte und ihre Zahlungen an das Kloster aufgeführt, wie z. B. Klaffenbach, Gablenz oder Stelzendorf. Die Abgaben sind in Geldform oder als Naturalabgaben – etwa Hühner – zu leisten und verweisen damit auf eine Übergangsphase in der mittelalterlichen Grundherrschaft von der Natural- zur Geldwirtschaft. Es findet sich auch der Eintrag de civitate, auf den 13 Personennamen mit den zu leistenden Abgaben folgen. Dieser Abschnitt bezieht sich auf das, was wir im Laufe des 13. Jhs. als Stadt Chemnitz greifen können. Nicht die Siedlung als Ganzes, sondern nur einzelne Bewohnerinnen und Bewohner waren zu Zahlungen verpflichtet. Dadurch unterschied sich die civitas deutlich von den Klosterdörfern, die als Ganzes abhängig waren. Einige der Zahlungen waren in Wachs zu leisten, eine bei kirchlichen Grundherren übliche Abgabenform, die auf die liturgische Bedeutung von Bienenwachskerzen verweist. Die 13 Personen, zwölf Männer und eine Frau, sind die ersten Einwohner und die erste Einwohnerin von Chemnitz, die wir kennen.

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Im Zinsregister des Benediktinerklosters aus dem frühen 13. Jh. wurden Abgaben für das Kloster notiert; hier findet sich erstmals die Bezeichnung ‚civitas‘ (Stadt) für Chemnitz.

Reichsstadt im 13. Jahrhundert

Der erste namentlich bekannte Bürger der Stadt begegnet uns in einer Urkunde aus dem Jahr 1296, der ältesten Königsurkunde im Stadtarchiv. Er hieß ›Godefrid bei der Mauer‹ und stand offenbar in guten Beziehungen zu König Adolf von Nassau (reg. 1292–98), der mit dieser Urkunde Godefrids Schenkung an die Pfarrkirche bestätigte. Damit steht Godefrid beispielhaft für die ganze Stadt, die wir im ausgehenden 13. Jh. als Reichsstadt greifen, erstmals in einer Urkunde von 1290 oder 1291. Auf Befehl König Rudolfs von Habsburg (reg. 1273–1291) schlossen sich zu dieser Zeit die Städte Altenburg, Chemnitz und Zwickau zu einem Städtebund zusammen, versprachen sich gegenseitig Schutz und gelobten Treue zum Königtum. Die drei Städte bezeichnen sich in der entsprechenden Urkunde als ›zum Reich gehörig‹, was auf ihre Rechtsstellung verweist: Als Reichsstädte unterstanden sie direkt dem jeweiligen König als Stadtherren.

Die Frühphase der Chemnitzer Stadtgeschichte spielte sich zwischen Kloster, Königtum und Markgrafen ab und wird durch eine sehr dünne Quellenlage von wenigen – und mitunter zweifelhaften – Urkunden und archäologischen Funden geprägt. Wir sehen, dass im Kontext eines im Anfang des 12. Jhs. gegründeten Benediktinerklosters eine Siedlung entsteht, welche ab dem 13. Jh. als ›Stadt‹ bezeichnet wird. Diese Siedlung stand nicht in direkter Abhängigkeit vom Kloster und erscheint im Ausgang des 13. Jhs. als Reichsstadt, ohne dass wir diesen Prozess zuverlässig erklären können.

Zwischen Kloster, Königtum und Wettinern

Blicken wir auf die ersten Texte, die uns zur Geschichte der Stadt selbst überliefert sind: Zwischen 1254 und 1294 wurden insgesamt vier Urkunden zum Patronatsrecht über die Chemnitzer Pfarrkirche St. Jakobi ausgestellt. Im ersten Stück überträgt Papst Innozenz IV. das Patronatsrecht dem Kloster. In den 1250er-Jahren muss die Stadt mithin schon eine solche Größe erreicht haben, dass die Patronatsrechte zur Pfarrkirche bedeutungsvoll genug für eine päpstliche Intervention waren.

1264 folgt eine Urkunde der Landgräfin von Thüringen und Pfalzgräfin von Sachsen, Margarete: Sie überträgt dem Kloster zu Chemnitz die Patronatsrechte über die Johanniskirche und die Marktkirche. Wir erhalten hier Einblicke in die Pfarrstruktur der Stadt, die aus mindestens zwei Kirchen bestand. Erstere lag nach der Urkunde ›außerhalb der Mauern‹; das ist der erste Beleg für eine Stadtmauer. Bei Letzterer handelt es sich um die in der Stadt gelegene Jakobikirche.

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Luftbild von den Ausgrabungen Chemnitzer Rathauspassage (1995). Gut zu erkennen ist links die Stadtmauer mit einem Turm.

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Detail aus dem ältesten Nekrolog des Benediktinerklosters in Chemnitz (13. Jh.). Hier sind die Verstorbenen notiert, für welche die Mönchsgemeinschaft betete, darunter Kaiser Lothar, der in einem späteren Zusatz über der Zeile als Klostergründer bezeichnet wird.

Diese Urkunde ist der erste direkte Beleg für die Verbindung der Stadt Chemnitz mit dem Adelsgeschlecht der Wettiner und dem Königshaus der Staufer. Die Wettiner waren seit 1089 im Besitz der Markgrafschaft Meißen, seit der Mitte des 13. Jhs. waren sie auch Landgrafen von Thüringen, seit 1423 Herzöge von Sachsen und Kurfürsten. Von Anfang an waren Kloster und Stadt Chemnitz mit den Herrschaftsinteressen dieser Adelsdynastie konfrontiert; weite Strecken der Stadtgeschichte im Mittelalter wurden von den wettinischen Landesherren bestimmt.

Die Landgräfin verfügte über das Patronatsrecht innerhalb und außerhalb der Stadt, was die Urkunde ausdrücklich betont. Sie agierte hier gleichsam in einer Doppelfunktion. Sie firmierte als Land- und Pfalzgräfin und urkundete im Einvernehmen mit ihrem Ehemann Markgraf Albrecht (1240–1315). Margarete war nicht nur die Gemahlin des Wettiners, sie war auch die Tochter Kaiser Friedrichs II. aus dem Haus der Staufer (Kg. im deutschen Reich 1212–1250, Ks. 1220–1250). Dieser hatte dem Wettiner bei der Hochzeit 1243 als Mitgift das Pleißenland und damit Chemnitz verpfändet und war zeit seines Lebens nicht in der Lage, dieses wieder auszulösen. Margaretes Urkunde ist Ausdruck dieser politischen Konstellation. Auf der einen Seite erkannte Albrecht die Herkunft der wettinischen Rechte über die Stadt an, indem er seiner Frau aus dem Haus der Staufer den Vorrang ließ; auf der anderen Seite urkundete Margarete nicht als Stauferin und Kaisertochter, sondern als Wettinerin und Pfalzgräfin. Mitspracherechte der Stadt sind nicht erkennbar. Wir sehen Chemnitz und seine Pfarrkirche hier im Schnittpunkt königlich-staufischer und markgräflich-wettinischer Interessen.

In diesem Zusammenhang stehen auch die nächsten drei Urkunden zur Stadtgeschichte: 1290/91 bezeugen die Reichsstädte Altenburg, Chemnitz und Zwickau einen Städtebund, den sie auf Geheiß König Rudolfs von Habsburg geschlossen haben. Der Bund der drei wichtigsten Städte des Pleißenlandes war gegen die Wettiner gerichtet; Rudolf war es gelungen, die Pfandschaft seines Vorgängers auszulösen, und er versuchte, das Pleißenland unter seine Kontrolle zu bringen. Sein Nachfolger König Adolf von Nassau ging in die gleiche Richtung. Von ihm stammen die beiden nächsten Urkunden zum Patronatsrecht: 1293 beauftragte er den zuständigen Diözesanbischof von Meißen, das Kloster wieder in den Besitz des Patronatsrechtes zu setzen; 1294 stellte der König in gleicher Angelegenheit eine Urkunde für das Kloster selbst aus. In diesem Stück bezeichnet Adolf Chemnitz als ›unsere Stadt‹, also als Reichsstadt. Hier versucht der König, seine Zugriffsrechte auf die Stadt deutlich zu machen und sich gegen die Wettiner zu positionieren.

Der Rechtsinhalt aller vier Urkunden zum Patronatsrecht ist im Grunde der gleiche: Patronatsherr soll das Kloster, nicht die Stadt sein. Chemnitz erscheint hier nicht als Akteur, sondern als Objekt der Politik. Es ist wohl kein Zufall, dass es genau in der Phase seiner Stadtgeschichte erstmals als Reichsstadt bezeichnet wird, in der die Ansprüche auf das Pleißenland zwischen der Krone und den Wettinern umstritten waren. 1296 folgt dann die Urkunde Adolfs von Nassau, die die Schenkung des Bürgers Godefrid und den ersten Aufenthalt eines mittelalterlichen Königs in Chemnitz belegt. Die Bemühungen Adolfs um die Stadt könnten erklären, warum ein König die Schenkung eines Bürgers an seine Pfarrkirche bezeugt.

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Die Figur des Roland am Rathaus repräsentierte im Mittelalter den Anspruch auf städtische Freiheit. Aufgestellt in Chemnitz 1910.

Auf Adolf folgte 1298 Albrecht I. von Habsburg auf dem Königsthron (Kg. 1298–1308). Er hatte sich gegen seinen Vorgänger erhoben und diesen in der Schlacht bei Göllheim besiegt, in der Adolf gefallen war. Nach diesem Staatsstreich ließ er sich sein Königtum durch eine erneute Wahl der Kurfürsten bestätigen, die er teuer erkaufen musste: König Wenzel von Böhmen erhielt territoriale Zugeständnisse und wurde zum Statthalter des Pleißenlandes erhoben. 1298 gelobten die Bürger von Chemnitz ihm in dieser Funktion Treue.

Anfang des 14. Jhs. schwand der Einfluss des Königtums im Pleißenland und in Chemnitz; 1306 schlossen die drei Städte Altenburg, Zwickau und Chemnitz ein Schutz-Bündnis mit Friedrich von Schönburg, einem der lokalen Adelsgeschlechter, das sich gegen die Wettiner behaupten konnte. Wenig später datiert ein Schreiben der Stadt Zwickau an die Stadt Chemnitz mit der Bitte um Rat, wie beim Einfall des Markgrafen Friedrich verfahren werden solle. Im Mai 1307 hatten wettinische Truppen bei Lucka in der Nähe von Leipzig die Streitkräfte König Albrechts I. besiegt und so die Auseinandersetzungen um das Pleißenland zugunsten der Markgrafen entschieden. Folgerichtig nahm Friedrich Chemnitz 1308 auf Bitten der Bürger, die die politische Situation erkannt hatten, in seinen Schutz. 1324 verpfändete König Ludwig IV., der Bayer (Kg. 1314–1347), das Pleißenland mit den drei Städten an Friedrich; diese Pfandschaft, die von den Königen nicht ausgelöst werden konnte, bildete die juristische Grundlage für die dauerhafte Unterordnung der Stadt unter die Herrschaft der Markgrafen von Meißen. Chemnitz war ab diesem Zeitpunkt eine wettinische Landstadt.

Chemnitz im 14. und 15. Jahrhundert

Landstadt der Wettiner

Was bedeutete es für Chemnitz, eine Landstadt der Wettiner zu sein? Helmut Bräuer spricht von der Bürgerschaft, »deren partielle Autonomie sich im wettinischen Rahmen bewegen konnte« (Bräuer, 2005, S. 21). Dies umschreibt treffend das Nebeneinander verschiedener Akteure: Wir sehen die Bürger von Chemnitz, die Teile ihrer Geschicke eigenständig regeln, unter und neben den Markgrafen von Meißen aus dem Haus der Wettiner, die immer wieder in die Regierung der Stadt eingreifen. Sie sind die Herren des umgebenden Landes und zugleich die Stadtherren. Sie waren die höchste und letzte rechtssetzende Instanz für alle innerstädtischen Belange und die Beziehungen der Stadt zu ihrem Umland. Das Verhältnis der Stadt zu ihrem Herrn wurde in Huldigungszeremonien und den Anreden in städtischen Schreiben symbolträchtig sichtbar gemacht. Die Stadt adressiert die Markgrafen durchweg als »unser herren« oder »unser gnedigen herren«.