Inhaltsverzeichnis

 

Zum Buch

 

 

Max von Pettenkofer (1818–1901) gehörte zur wissenschaftlichen Elite des 19. Jahrhunderts. Als Prototyp eines modernen Forschers hat er den Ruf Münchens und Bayerns als Wissenschaftsstandort mitbegründet.
Sein kraftvolles Lebenswerk erstreckt sich von Chemie – dem Dreh- und Angelpunkt seiner wissenschaftlichen Denkstruktur – und Pharmazie über die Stoffwechselforschung bis zur Epidemiologie, in deren Rahmen er sich intensiv mit Entstehung und Ausbreitung der Cholera beschäftigte. Sein Fokus lag jedoch auf der Hygiene, die er zu einem bayerischen Exportschlager machte. Als Vordenker in der Gesundheitspflege schuf er Trends in Public Health. Man kann in Deutschland, Europa und der Welt nicht über Hygiene sprechen, ohne auf Max von Pettenkofer, den „Begründer der wissenschaftlichen Hygiene“, zu stoßen.

 

 

 

Zum Autor

 

 

Wolfgang Locher, Prof. Dr. med., M. A., geb. 1951, unterrichtet nach seiner Tätigkeit als Chirurg seit 1983 als Medizinhistoriker am Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin an der LMU München.

 

 

Biografien machen Vergangenheit lebendig: Keine andere literarische Gattung verbindet so anschaulich den Menschen mit seiner Zeit, das Besondere mit dem Allgemeinen, das Bedingte mit dem Bedingenden. So ist Lesen Lernen und Vergnügen zugleich.

 

Dafür sind gut 100 Seiten genug – also ein Wochenende, eine längere Bahnfahrt, zwei Nachmittage im Café. Wobei klein nicht leichtgewichtig heißt: Die Autoren sind Fachleute, die wissenschaftlich Fundiertes auch für den verständlich machen, der zwar allgemein interessiert, aber nicht speziell vorgebildet ist.

 

Bayern ist von nahezu einzigartiger Vielfalt: Seinen großen Geschichtslandschaften Altbayern, Franken und Schwaben eignen unverwechselbares Profil und historische Tiefenschärfe. Sie prägten ihre Menschen – und wurden geprägt durch die Männer und Frauen, um die es hier geht: Herrscher und Gelehrte, Politiker und Künstler, Geistliche und Unternehmer – und andere mehr.

 

Das wollen die KLEINEN BAYERISCHEN BIOGRAFIEN: Bekannte Personen neu beleuchten, die unbekannten (wieder) entdecken – und alle zur Diskussion um eine zeitgemäße regionale Identität im Jahrhundert fortschreitender Globalisierung stellen. Eine Aufgabe mit Zukunft.

 

 

DR. THOMAS GÖTZ, Herausgeber der Buchreihe, geboren 1965, lehrt Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Regensburg. Veröffentlichungen zu Stadt und Bürgertum in der Neuzeit.

 

WOLFGANG G. LOCHER

 

 

 

Max von Pettenkofer

 

 

Pionier der wissenschaftlichen Hygiene

 

 

unter Mitarbeit von Ilona Zubrod und Hans-Joachim Hecker

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag Friedrich Pustet
Regensburg

 

Impressum

 

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

 

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

 

 

eISBN 978-3-7917-6140-4 (epub)

© 2018 by Verlag Friedrich Pustet, Regensburg

Einbandgestaltung: Martin Veicht, Regensburg

eBook-Produktion: Friedrich Pustet, Regensburg

 

 

Diese Publikation ist auch als Printprodukt erhältlich:

ISBN 978-3-7917-2978-7

 

 

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Kontakt und Bestellungen unter verlag@pustet.de

 

 

Die Kunst zu heilen kann viel Leiden lindern,

Doch schön ist auch die Kunst, die es versteht,

Viel Leiden im Entstehen schon zu verhindern.

 

(Pettenkofers Eintrag in das

»Goldene Buch der Stadt München«, 1900)

Vorwort

 

 

»Mit Geheimrat von Pettenkofer ist ein mächtiges Gestirn am medizinischen Himmel verblichen; das Licht aber, das von ihm ausging, wird fortleuchten und seinen Namen verklären als den eines gewaltigen Geistes und eines der verdienstvollsten Wohltäter der Menschheit für alle Zeiten.«1 Diesen stolzen Nachruf widmete die Universität München ihrem bedeutendsten Mitglied Max von Pettenkofer, als dieser im Februar 1901 starb.

Wem Zeitgenossen ein solches Abschiedswort nachsenden, muss wohl ein außergewöhnliches Stück Leben vollbracht haben. Und fürwahr gehörte Max von Pettenkofer im 19. Jahrhundert national und international zur absoluten wissenschaftlichen Elite. Er ist nicht nur des »Donaumooses größter Sohn«, wie die Neuburger Rundschau 1968 einmal befand.2 Der Mann, der im Donaumoos laufen lernte, ist auch als eine der bedeutendsten Persönlichkeiten in die Geschichte eingegangen – gleichermaßen in die Medizingeschichte wie in die Bayerns und der Stadt München. Sein ganzes Leben spielte sich in Bayern ab, und 75 Jahre lang blieb er durch Leben, Erziehung und Beruf mit München aufs Engste verbunden. Er hat mitgeholfen, aus München eine weltoffene Metropole mit hoher Lebensqualität zu machen, und er hat den Ruf dieser Stadt als Wissenschaftsstandort mitbegründet.

Pettenkofers Wirken fiel in eine Zeit, in der die Städte infolge der Industrialisierung stark wuchsen, was zu hygienischen und gesundheitlichen Problemen führte. Auch München galt als ungesundes Pflaster und Reisende verbanden mit der Hauptstadt des bayerischen Königreiches die Vorstellung von einer kranken Stadt. Pettenkofer half an prominenter Stelle mit, die Sterblichkeit in den Städten zu senken und für hygienische Verhältnisse zu sorgen. Er war der Prototyp eines modernen Forschers. Sein kraftvolles Lebenswerk erstreckt sich über die verschiedenen Zweige der Chemie und der Stoffwechselforschung. Im Rahmen der Epidemiologie beschäftigte er sich intensiv mit der Entstehung und Ausbreitung der Cholera, die im 19. Jahrhundert schlimmen Schrecken verbreitete. Programmiert jedoch war Pettenkofer v. a. auf die Hygiene, die er von einem akademischen Aschenbrödel zu einer modernen Wissenschaftsdisziplin umformte. Sie wurde zum Herzstück seiner wissenschaftlichen Arbeit, das von ihm aufgebaute Institut zu einer Hygiene-Instanz und sein Name zum Synonym für Hygiene.

Der 200. Geburtstag Max von Pettenkofers am 3. Dezember 2018 ist ein willkommener Anlass, an diesen Mann zu erinnern, der in seiner fundamentalen Bedeutung für die Hygiene und für das öffentliche Gesundheitswesen der Gesellschaft sowie den Menschen viel gegeben hat und der zu Recht als eine der großen medizinischen Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts gilt. Bei alledem verstand er sich selbstbewusst als Botschafter einer modernen bayerischen Wissenschaft, zu deren höchstem Repräsentanten er am Ende aufstieg. Von dieser bayerischen Karriere im Dienste der Wissenschaft will dieses Buch kurz, kompetent und unterhaltsam erzählen.

1   Kindheit und Jugend

Herkunft und Erziehung

Max von Pettenkofers Herkunft aus dem ländlichen Raum und seine Kindheit in einem von Sparsamkeit geprägten Milieu bot keine idealen Startbedingungen, um die Karriereleiter bis zu einem Wissenschaftler von Weltruf emporzusteigen. Als Spross einer kinderreichen Kolonistenfamilie wurde er am 3. Dezember 1818 in Lichtenheim, einer zum Gerichtsbezirk Neuburg an der Donau gehörenden Einöde am Rande des Donaumooses, geboren. Die Napoleonischen Kriege (1792–1815), die auch in Bayern zu einer generellen Verarmung der Bevölkerung geführt hatten, lagen nur wenige Jahre zurück. Als Max zur Welt kam, herrschte wieder Friede im Land. Seine Eltern waren Johann Baptist (1786–1844) und Barbara (1786–1837) Pettenkofer. Die Entbindung erfolgte zu Hause, und noch am selben Tag wurde das Neugeborene auf den Namen Maximilian Josef getauft.

Die Wurzeln der Pettenkofers, von denen es etliche zu Wohlstand und Titeln brachten, liegen in der Oberpfalz und in Niederbayern.3 In der zu Max von Pettenkofer führenden Verzweigung des Stammbaumes hatte sich eine Beamtentradition entwickelt. Sein Großvater, Johann Baptist Pettenkofer sen. (1746–1825), war ein Repräsentant des bayerischen Kurfürstentums im Donaumoos gewesen. Als kurfürstlichem Mautner war ihm die Bedienung der Zollschranken zwischen Pfalz-Neuburg und Kurbayern anvertraut. Zunächst – 1794 – war er »Beymautner« in Pobenhausen, bei der Verlegung des Zollhauses nach Lichtenheim zog er mit. Als die Zollschranken mit dem Regierungsantritt des Kurfürsten und späteren Königs (1806) Max Joseph um 1800 fielen, erwarb der in den Ruhestand versetzte Mautner um 800 Gulden das Zollhaus samt den dazugehörenden fünfeinhalb Tagwerk Grund und wurde Landwirt.4

Als gewissenhafter Familienvater schenkte er der Ausbildung seiner Söhne große Beachtung. Franz Xaver (1783–1850) ließ er zum Apotheker ausbilden. Als solcher begleitete er die bayerischen Truppen im Napoleonischen Feldzug nach Russland. Später machte er als kgl. Hof- und Leibapotheker in München Karriere und spielte in der Erziehung seines Neffen Max eine maßgebliche Rolle. Zwei weitere Söhne, Michael (1781–1825) und Josef (1785–1853), wurden Finanzbeamte und lebten später in Eichstätt und in Friedberg bei Augsburg. Der jüngste Sohn, Johann Baptist jun., übernahm 1806 das elterliche Anwesen in Lichtenheim. Aus seiner Ehe mit Barbara Hermann ging Max hervor.

 

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Abb. 1:
Das Geburtshaus Pettenkofers in Lichtenheim mit der Straße nach Pobenhausen. – Fotografie, 1936

 

Zunächst wies in Max’ Leben nichts auf eine wissenschaftliche Laufbahn hin. Die Einöde Lichtenheims und die Weite des Donaumooses dienten dem Knaben als erster Lebens- und Erlebnisraum. In seinen »Chemischen Sonetten« erinnerte er sich später in Versform an dieses Kindheitsidyll. Allerdings musste er, wie alle Kinder zur damaligen Zeit, von klein auf mit anpacken. Die Kinder halfen bei der ländlichen Arbeit oder im Haus, hüteten das Vieh oder erledigten Gartenarbeiten. Doch manchmal, wenn Zeit übrig blieb, streifte der kleine Max durch die einsamen Biotope der moorigen Ebene. Wenn seine Augen den vorbeiziehenden Wolken folgten, konnte er träumen.

 

»In der Heimat«

»Erblick ich deinen stillen, öden Grund,
Wo ich geboren, weit gedehntes Moor!
Dann drängen selt’ne Bilder sich hervor,
Wie ich als Knab auf deinen Steppen stund.
Oft trat ich mir die nakten Füße wund,
Wenn ich der Heerde nach durch tiefes Rohr
Mich in Nomadeneinsamkeit verlor.
Doch heiter klang das Lied aus meinem Mund.«

 

(M. v. Pettenkofer: Chemische Sonette aus den Jahren 1844 und 1845. München 1886, S. 13.)

 

Bald kreiste das Leben des jungen Max v. a. um die Schule. Seit 1802 gab es im aufklärungsfreundlichen Bayern die allgemeine Schulpflicht. Jedes Kind musste vom sechsten bis zum zwölften Lebensjahr Lesen, Schreiben und Rechnen lernen, um einen angemessenen Bildungsstand zu erreichen. Wie sich mit dem Schuleintritt im Herbst 1825 zeigte, verfügte der Junge über eine grundsätzliche Lust zu lernen. Dies ließ die Hoffnung keimen, dass es der aufgeweckte Bub zu etwas bringen würde.

Der Wunsch der Eltern nach einer besseren Zukunft für das begabte Kind erfüllte sich unter der Obhut des Onkels Franz Xaver. Dieser hatte seit 1823 an der Residenz in München die Leitung der Hofapotheke inne und ermöglichte seinem Neffen in München eine höhere Schulbildung. Die Ehe des Onkels war kinderlos geblieben, und so nahm er sukzessive einige Kinder seines Bruders bei sich auf.

Im Herbst 1827 wurde der achtjährige Max Pettenkofer nach München verpflanzt und in die Aufsicht des Onkels übergeben. Zur selben Zeit beendete gerade Carl Spitzweg (1808–1885) seine Lehrzeit in der kgl. Hofapotheke. Er wurde später als Maler berühmt. Nicht ohne Wehmut entwuchs Max in der königlichen Haupt- und Residenzstadt seinen ländlichen Wurzeln.

 

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Abb. 2:
Der kgl. Hof- u. Leibapotheker Franz Xaver Pettenkofer (1783–1850), porträtiert 1825 von Rhomberg. – Fotografische Reproduktion

 

Elementarschule

Wissbegier, Fleiß und Intelligenz machten Max zu einem Musterschüler, der in allen Schuljahren zu den besten seiner Klasse gehörte. Ab Oktober 1827 besuchte er die zweite Klasse der Metropolitan-Pfarr-Schule, die als Elementar-Schule für Knaben ausgelegt war. Im Jahresbericht 1827/28 erfahren wir Genaueres über das den Basisfächern übergeordnete Erziehungsziel dieser Schule: Für die Kinder war Disziplin das Hauptmittel aller Erziehung mit dem höchsten Ziel der »Begründung und Erhaltung eines tugendhaften und frommen Sinnes«. Gefordert wurden »Reinheit der Sitten, Gewöhnung an Regelmäßigkeit und Ordnung, Pünktlichkeit, Ehrlichkeit, Gehorsam gegen die Oberen, Freundlichkeit, natürliche Höflichkeit, Liebe zum Regenten und Vaterland«. Am Ende eines jeden Schuljahres wurden die besten Schüler namentlich im Jahresbericht erwähnt; der kleine Max, inzwischen neun Jahre alt, gehörte regelmäßig zu den Schülern, die sich »vorzüglich hervorgetan haben«. Damit hatte er den Ortswechsel vom Land in die Großstadt in schulischer Hinsicht mit Bravour gemeistert und konnte dem neuen Schuljahr entspannt entgegensehen. In der dritten Klasse war er nicht zu schlagen und fand sich auf Platz eins der Bestenliste wieder.

Lateinschule

Mit dem Übertritt in die Höhere Schule brachte das Schuljahr 1829/30 eine neue Herausforderung. Aufgrund einer aktuellen Bestimmung für die Lateinischen Schulen durften ab 1829 »die zum Studieren fähigen Knaben« schon mit Vollendung des achten Lebensjahres in die lateinische Vorbereitungsklasse wechseln.5 Diese Möglichkeit nutzte auch Max. Das höhere Schulwesen gliederte sich damals in einen vierjährigen Vorkurs, die sog. Lateinische Schule, als Unterbau und das darauf aufbauende ebenfalls vierjährige Gymnasium.

In den beiden ersten Klassen entfiel die Hälfte des wöchentlichen Unterrichts mit 12 Schulstunden auf Latein. In der Lateinschule wurden die sprachlichen Grundlagen für die anschließende Lektüre wichtiger klassischer Autoren im Gymnasium gelegt.6 Ab der dritten Klasse kam Griechisch als neues Unterrichtsfach hinzu. Des Weiteren standen auf dem Stundenplan: Religion, Deutsch, Arithmetik, Kalligraphie und Tachygraphie, Geschichte und ab der vierten Klasse Geographie.

Während in den Jahresberichten der Elementarschule nur die besten Schüler Erwähnung fanden, wurden in den Berichten der Lateinschule und des Gymnasiums alle Schüler nach einem sog. Fortgangsverzeichnis gelistet. So hatte man einen guten Überblick über die Leistungen eines Schülers in seiner Klasse und den Fortgang oder Rückschritt in einzelnen Fächern. Die Platzziffer für den sog. »Allgemeinen Fortgang« ergab sich aus der Berechnung nach einem bestimmten Schlüssel7, demzufolge die Fortgangsnummern der einzelnen Fächer addiert wurden, wobei die Sprachen und Mathematik mehrfach in die Wertung eingingen.

Pettenkofer hat die Lateinschule bravourös gemeistert. Jedes Schuljahr stand sein Name wieder auf Platz eins mit *, nicht nur in der Liste des allgemeinen Fortgangs, auch in Latein und Griechisch. Sein erfolgreichstes Schuljahr war das letzte in der Lateinschule, in dem er noch zwei erste Plätze mit * abschloss: Deutsch und Geschichte/Geographie. Neben dem vorgeschriebenen Klassenunterunterricht wurde den Lateinschülern Gesangs- und Zeichenunterricht als Wahlfach angeboten. Schüler, die freiwillig am Gesangsunterricht teilnahmen, fanden ebenfalls besondere Erwähnung, wenn sie »sich durch Fleiß und namhafte Fortschritte vor den übrigen hervor getan«8 hatten. Pettenkofer gehörte dazu, und ungefähr zehn Jahre später sollten sich seine Gesangsstunden als glückliche Fügung erweisen.

Gymnasium

Im Oktober 1833 wechselte der mittlerweile 14-Jährige planmäßig ans »Königliche Alte Gymnasium«, Münchens älteste Gymnasialeinrichtung. Bis 1824 war es das einzige der Stadt gewesen. Als 1824 ein zweites gegründet wurde, erfolgte zur besseren Unterscheidung die Benennung in »Altes Gymnasium« und »Neues Gymnasium.« 1847 erhielten die beiden Lehranstalten ihre heutigen Namen. Aus dem ehemals »Alten« wurde das Wilhelmsgymnasium, aus dem »Neuen« das Ludwigsgymnasium. Pettenkofer gehört zweifellos zu den prominentesten Absolventen von Ersterem.9

Das von ihm besuchte »Alte Gymnasium« befand sich zu diesem Zeitpunkt in der Herzogspitalstr. 18, im ehemaligen Gebäude der russischen Gesandtschaft. Das Amt des Rektors bekleidete während der gesamten Gymnasialzeit Pettenkofers der bekannte Pädagoge Johann von Gott Fröhlich (1780–1849; Amtszeit 1823–1849). Mit ihm hatte die Schule seit 1823 erstmals einen weltlichen Rektor; bis dahin hatten Ordenspriester und Weltgeistliche sie geleitet.10 Dieses war ein Elitegymnasium, dessen Lehrkräfte größtenteils einen Professorentitel trugen,11 und es war eine der zentralen Anstalten in der höheren bayerischen Bildungslandschaft. Der Stand der Eltern spiegelte alle sozialen Schichten wider. Dass Kinder aus unterschiedlichen Ständen in den Schulen zusammensaßen, ging auf eine Allerhöchste Verordnung vom 24. September 1799 zurück, wonach Lyzeen und Gymnasien ohne »Unterschied des Standes mit Personen von allgemein anerkannter Fähigkeit besetzt werden sollen«12.

Es waren Jahre unermüdlichen Lernens. Mit einem Lehrplan, der im Zuge des damals favorisierten Neuhumanismus stark philologisch-philosophisch ausgerichtet war, sollte bei den Schülern die Fähigkeit zu selbständigem, logischem und kritischem Denken gefördert werden. Im August 1837 war für Pettenkofer die Schulzeit zu Ende. Er hatte die in Bayern für die Hochschulreife vorgeschriebene Schuldauer eingehalten und die letzte Gymnasialklasse erfolgreich abgeschlossen. Damit war er zum Übergang an eine Universität berechtigt.

Mit dem Abitur hatte er auch das wehrdienstfähige Alter erreicht. Das Abiturzeugnis diente als Grundlage für die sog. »Konskription«, d. h. die Erfassung für die Wehrpflicht. Allerdings wurde aus ihm nie ein Soldat. Obgleich 1812 eingeführt, bestand eine allgemeine Wehrpflicht bis 1868 nur auf dem Papier, d. h. es wurde nicht jeder eingezogen, sondern nur nach Bedarf der Armee ausgehoben.13 Pettenkofer blieb verschont.

So stand einem Studium nichts mehr im Wege. Seine Lehrer am Gymnasium, unter ihnen der spätere Münchner Ordinarius für Altphilologie, Leonhard von Spengel (1803–1880), hätten aus dem jungen Mann gerne einen Philologen gemacht – seine Vorliebe für die alten Sprachen legte dies geradezu nahe. Doch fügte er sich dem Wunsche seines Onkels, der sich um seine Nachfolge sorgte und wünschte, dass sein Neffe ihm, wie dieser später einmal erzählte, »im Alter eine Stütze werden sollte«. Mit der Autorität des Erziehers entschied er, dass sich sein Neffe für den Apothekerberuf zu interessieren habe.

2   Lehrjahre

Auf dem Weg zum Apotheker

Als erster deutscher Staat hatte das Königreich Bayern 1808 die Ausbildung zum Apotheker mit einem Pharmaziestudium verbunden und in einem dualen Ausbildungssystem eine Lehre mit einem Studium verknüpft, das theoretische und praktische Lehrinhalte vereinte.14

1837 begann Max Pettenkofer seine pharmazeutische Ausbildung und schrieb sich für das Wintersemester 1837/38 an der Ludwig-Maximilians-Universität zunächst für Philosophie ein.15 Es handelte sich dabei um ein zwei- bis viersemestriges allgemeinwissenschaftliches Vorstudium, mit dem man sich auf das eigentliche Fachstudium, z. B. Medizin oder Pharmazie, vorbereitete. Das Vorlesungsverzeichnis gibt uns einen guten Überblick über die angebotenen Vorlesungsthemen aus den Allgemeinen Wissenschaften. Es handelte sich um ein gemischtes Angebot aus Philologie und Rhetorik, praktischer und theoretischer Philosophie, Logik und Metaphysik, Mechanik und Mathematik, allgemeiner Geschichte, politischer Geographie und Pflanzen-Geographie, Zoologie und Mineralogie, Astronomie, Statistik, Meteorologie. Physik und Experimentalphysik, Mineralogie sowie Themen aus der Pharmazie komplettierten das Angebot.16 Mit Blick auf das geplante Fachstudium konnte man daraus eine geeignete Auswahl treffen.

Das damalige »Philosophicum« beinhaltete eine ganze Reihe von Fächern, die für ein anschließendes naturwissenschaftliches Studium nützlich waren. Dazu gehörten z. B. die von dem Chemieprofessor August Vogel (1778–1867) vorgetragene »Allgemeine und Experimental-Chemie, mit Rücksicht auf Medicin und Pharmacie« sowie auch die von dem Oberbergrat und Chemiker Johann Nepomuk Fuchs (1774–1856) vorgetragene Mineralogie mit chemischen Untersuchungen der Mineralkörper. Als guter Freund seines Onkels beriet Fuchs Pettenkofer in der Folge auch bei seiner Berufsplanung und förderte mehrfach dessen Karriere. Von besonderem Interesse für einen angehenden Pharmazeuten war das mineralogisch-chemische Praktikum bei dem Mineralogen und Schriftsteller Franz von Kobell (1803–1882); und bei dem Privatdozenten für Mathematik Ephraim Dempp (1809–1848) konnte Pettenkofer »Arithmetik nach dem Bedürfnisse der Pharmaceuten, mit Anwendung auf Stöchiometrie« hören.

Die für den Apothekerberuf vorgeschriebene zweijährige Ausbildung an einem pharmazeutischen Institut absolvierte Pettenkofer bei dem Pharmazeuten Johann Andreas Buchner (1783–1852), der seit vielen Semestern das Fach an der Universität lehrte und sein 1830 gegründetes »Pharmaceutisches Privatinstitut« für das Training der angehenden Pharmazeuten zur Verfügung stellte. Buchner war ein Schüler Johann Bartholomäus Trommsdorfs (1770–1837), der als »Vater der wissenschaftlichen Pharmacie« gilt. Bei Buchner machte sich Pettenkofer mit der pharmazeutischen Chemie und Warenkunde, der Herstellung von Arzneimitteln, der Formellehre und der sog. Materia medica vertraut.

Seine anschließende Lehrzeit absolvierte er an der von seinem Onkel geleiteten und von der Ausbildungsordnung geforderten »größeren« Officin, die mit ihrem ausgedehnten und anspruchsvollen Kundenkreis eine erste Adresse für einen Apothekerlehrling darstellte. Pettenkofer merkte dazu später einmal an: »Da meine Vorbildung für einen Apothekerlehrling über das damals übliche Maaß (4 Lateinklassen) hinausging, wurden mir von den 3 Lehrjahren 2 erlassen und ich wurde schon nach 1 Jahre Gehilfe mit 1 Gulden Tagesgehalt in der Hofapotheke. Die Herstellung chemischer Präparate – damals stellte die Hofapotheke selbst Morphium und andere Alkaloide und Arzneimittel her, die man jetzt aus chemischen Fabriken bezieht – die Herstellung dieser Präparate freute mich sehr.«17 1843 schloss er die Ausbildung zum Apotheker mit der vorgeschriebenen Prüfung ab. Das Diplom datiert vom 1. März 1843.18 Doch war der Weg dorthin keineswegs so geradlinig verlaufen, wie es zunächst den Anschein hat.

Wie Pettenkofer selbst später einräumte, hatte er ganz offensichtlich ein Problem, sich mit seiner Gymnasialbildung und als Neffe des Chefs in die Rolle des »Guldengehilfen« einzuordnen: Der äußerst pflichtbewusste Onkel, so Pettenkofer, legte großen Wert auf Pünktlichkeit und war »sehr streng im Dienste«19