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Diese Publikation ist zugleich Band 26 der Schriftenreihe Bielefelder Beiträge zur Stadt- und Regionalgeschichte (ISSN 1619-6066), hg. von Stadtarchiv und Landesgeschichtlicher Bibliothek Bielefeld.

Jochen Rath

Bielefeld

Eine Stadtgeschichte

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UMSCHLAGMOTIVE

BIBLIOGRAFISCHE INFORMATION DER
DEUTSCHEN NATIONALBIBLIOTHEK

ISBN 978-3-7917-3119-3

eISBN 978-3-7917-6162-6 (epub)

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Inhalt

Vorwort

Das Mittelalter

Stadtgründung – Stadtentwicklung / Die Grafen von Ravensberg / Kennzeichen einer Stadt: Recht – Bevölkerung – Wirtschaft / Kirchen prägen Stadtbild und -gesellschaft / Antwerpener Retabel / Grabtumben in der Neustädter Marienkirche / Altstädte – Neustädte – Stadtsiedlungen / zo Bilevelde in der alden stadt ind in de nůwen / Eine Hansespur in der Stadt / Die Sparrenburg

Die Frühe Neuzeit

Die Ratsvereinigung 1510/20 / Der Leinenhandel: Ursprung der Bielefelder Wirtschaftskraft / Stadtbild und Bilder von Bielefeld / Reformation / Das Bielefelder Beben 1612 / Bielefeld vor und im Dreißigjährigen Krieg / Bielefeld wird brandenburgisch / Preußische Wirtschaftsförderung: Leinen und Legge / 1719: Verlust der kommunalen Selbstbestimmung / Das westfälische Bielefeld in Westphalen

Das 19. Jahrhundert

Bürgerliche Kultur: Vereine und Bauen / Schulen und Religion / Die Revidierte Städteordnung: Kommunale Selbstverwaltung und politische »Kultur« / Ein Bielefelder in Amerika / Der Leinenfaden wird dünner, aber er reißt nicht / 1848: ein Demokratieversuch / Aufbruch in neue Zeiten: Industrialisierung / Bethel / Friedrich von Bodelschwingh / Infrastruktur in einer wachsenden Stadt / Die Synagoge an der Turnerstraße / Gerhard Bunnemann / Politik und Wahlen / Carl Severing / Der Erste Weltkrieg / Bielefelder Notgeld

Weimarer Republik

Novemberrevolution / Politik und Wirtschaft in der Weimarer Republik / Bildung und Kultur in der Weimarer Republik / Der Aufstieg der NSDAP / Eingemeindung 1930 / Dr. Rudolf Stapenhorst

Nationalsozialismus

Die Machtübernahme / Fritz Budde / Gleichschaltung / Die Kirchen / Verfolgung politischer Gegner – Beherrschung der Straße / Kultur in Zeiten der Kulturlosigkeit / Die Verfolgung der Juden / Deportationen aus Bielefeld 1941–1945 / Eine Stadt im Krieg / Kriegsgefangene, Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter / Luftkrieg / Kriegsende 1945

Nachkriegszeit

Demokratisierung 1945/46 / Wiederaufbau, Flüchtlinge, Vertriebene / Artur Ladebeck / Stadtgestalt zwischen Modernisierung und Protest / Hochschulstadt Bielefeld / 1968: die Kunsthalle / Herbert Hinnendahl / 1973: Großstadt Bielefeld

Entwicklungen auf dem Weg in das 21. Jahrhundert

Oberbürgermeisterin und Oberbürgermeister seit 1975

Anhang

Zeitleiste / Literatur und Quelleneditionen / Stadtplan / Register / Bildnachweis

Vorwort

»E pluribus unum« lautete der Wahlspruch der USA: aus vielen eines. Diese Losung kann auch für Bielefeld adaptiert werden, das nach seiner Ersterwähnung als Stadt 1214 in seiner heutigen Form aus vielen Städten, Ämtern, Gemeinden und einem Kreis hervorgegangen ist. Und seine Einwohnerschaft ist über Jahrhunderte hinweg durch Zuwanderung zusammengesetzt worden.

Bis in die Frühe Neuzeit hinein, genauer bis 1510 gab es zwei Städte dieses Namens: die Altstadt Bielefeld seit spätestens 1214 und die Neustadt seit dem 13. Jh. – zusammen zählten sie bis in das 18. Jh. hinein um die 3.000 Einwohner. 1930 vergrößerte sich die alte Stadt Bielefeld um die Umlandkommunen Schildesche, Sieker und Stieghorst und übersprang ganz nebenbei die Marke von 100.000 Einwohnern. Und als 1973 der Kreis Bielefeld, der im Jahr zuvor erstmalig mehr Einwohner gezählt hatte als die Stadt, in ebendieser aufging, bedeutete das auch das Ende der kurzen Stadt-Eigenschaft von Brackwede (seit 1956) und Sennestadt (seit 1965).

So folgt auf den nächsten Seiten nicht nur die Geschichte einer, sondern die »Geschichte zweier Städte«, die 1510/20 miteinander und ab 1973 auch mit zwei anderen vereinigt wurden, die als solche verschwanden. Also: eine Kommune vieler Menschen aus vielen Kommunen vieler Menschen.

2019 ist Bielefeld eine Stadt mit 340.000 Menschen, hat durch Zuzug und Zuwächse seine Einwohnerschaft innerhalb von 200 Jahren nahezu verhundertfacht. Außer einem Fluss und einem Flughafen gibt es kaum etwas, das fehlt.

Im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit behauptete Bielefeld gegenüber den Landesherren und Dynastien stets seinen Status als Stadt der Kaufleute, ab dem 19. Jh. der Bürger, seit 1919/45 der Bürgerinnen und Bürger – auch und stets der zugewanderten. Bereits seit der Ersterwähnung 1214, in der Frühen Neuzeit und während der Industrialisierung hat es Formen der Zuwanderung gegeben: fremde Kaufleute, Verwaltungsbeamte, Arbeitskräfte. Um 1850 hatte Bielefeld noch etwa 10.000 Einwohner, 70 Jahre später waren es bereits 80.000. Parallel wuchs es durch die Zuwanderung von Arbeitskräften im Rahmen der Industrialisierung. Die Stammbevölkerung blieb in der prosperierenden Stadt, weitere Menschen wurden angezogen – fanden berufliche und persönliche Zukunft. Seit den 1950er-Jahren wanderten Menschen v. a. aus Südeuropa zu, um Arbeit in Bielefeld zu finden, und trugen bei zum Wirtschaftswunder. Zuwanderung hat Tradition in Bielefeld; sie machte und macht die Stadt und ihre Gesellschaft erfolgreich.

Das Mittelalter

Stadtgründung – Stadtentwicklung

Das 2014 gefeierte 800. Stadtjubiläum basierte auf einer indirekten Nennung als Stadt 1214 – als Siedlungsname begegnet »Bielefeld« in Varianten schon früher. Bereits Mitte des 9. Jhs. (um 856–866) erscheint der Name in den Corveyer Traditionen als »Bylanuelde« (»u« als »v« zu lesen), als ein Bernward eine dort gelegene landwirtschaftliche Fläche mit angrenzendem Wald dem Kloster Corvey übertrug. Zwischen 1015 und 1036 erwähnt die »Vita Meinwerci« über den Paderborner Bischof Meinwerk (ca. 975–1036) einen kinderlosen Tiedi als Schenker von Flächen »in Biliuelde«. Jedoch ist keine der beiden Nennungen zeitgenössisch, sondern nur in späteren Abschriften überliefert. Dennoch beziehen sie sich auf Vorgängersiedlungen des heutigen Bielefeld, eine – wie auch immer geartete – vorstädtische Ansiedlung. 2017 wurden bei Ausgrabungen am Alten Markt auf dem Areal der Lampe-Bank Reste eines Pfostenhauses gefunden, das als Wohnhaus eines der frühen Höfe gedeutet wird, die etwa seit dem 8./9. Jh. Am Bach, an der Welle, am Waldhof und eben am heutigen Alten Markt gestanden haben sollen.

Der Name »Bielefeld« wurde zuletzt als eine alte Raumbezeichnung für das Gebiet am nördlichen Ausgang des Bielefelder Passes gedeutet. Demnach wird das Grundwort »feld« durch das Bestimmungswort »Biele« ergänzt, dessen Wurzel in »bī-l« (schlagen, spalten) zu finden ist. Gemeinsam bezeichnen sie eine Fläche am »Spalt im Höhenzug des Teutoburger Waldes«. Frühere Deutungen, die auf einen Personennamen »Bili« weisen oder unterschiedlichste Interpretationen des »Biele/Bile/Byle« vorlegten (schön/angenehm, Beil, ansteigender Stein, Jagdplatz, Bühl/Hügel, Grenzpfahl etc.), sind damit bis zum Vorliegen schlüssiger Neuinterpretationen zurückzuweisen.

HINTERGRUND

DIE GRAFEN VON RAVENSBERG

Hervorgegangen ist das Geschlecht aus den Grafen von Calvelage, die seit 1070 bei Vechta begütert waren, um 1100 aber Grundbesitz bei Halle/W. erwarben und die Burg Ravensberg errichteten, nach der sie sich ab 1140 benannten. Die Grafschaft Ravensberg erreichte 1334 zwischen Limburg, Vlotho, Bielefeld und Versmold ihre größte Ausdehnung. Eine der fünf Landesburgen der Ravensberger war die Sparrenburg. Der gräfliche Sparrenschild erscheint noch heute im Bielefelder Stadtsiegel und -wappen.

Bielefelds Stadtgründer war Graf Hermann von Ravensberg. Sein Sohn Ludwig regierte nach einer Teilung von 1220 bis 1249 nur in Ravensberg, sein älterer Bruder Otto bis 1244 in Vlotho und Vechta. Ludwigs Sohn Otto III. herrschte wieder über alle Landesteile, gefolgt von Otto IV. und Bernhard, der als viertgeborener Sohn nach einem Studium in Bologna für den geistlichen Stand vorgesehen war. Er übernahm nach dem Tod Ottos IV. die Regentschaft, behielt aber seine geistlichen Ämter bei, blieb demnach unverheiratet. Er sorgte dafür, dass mit dem Aussterben der Ravensberger nach seinem Tod 1346 die Grafschaft über seine Nichte Margarethe, eine Tochter Ottos IV., an die Grafen von Jülich fiel.

Die Ersterwähnung als Stadt wird aus der Nennung eines Mannes und Amtsträgers 1214 abgeleitet, der mit anderen einen Vertrag zwischen Graf Hermann von Ravensberg und dem Kloster Marienfeld bezeugte: ein Ratbertus, »iudice in bileuelde«, also der Richter Ratbert zu Bielefeld. Die inzwischen akzeptierte Argumentationskette, dass ein Stadtrichter ein eigenes Stadtgericht und dieses wiederum einen selbständigen Stadtrechtsbezirk voraussetzt, gewinnt durch die Erwähnung des Dinggrafs Hermann in eben jenem Vertrag zusätzliche Plausibilität, denn ein Dinggraf wiederum war für den ländlichen Rechtsraum zuständig, so dass zwei voneinander getrennte Gerichtsbezirke existierten. Als die Stadt Bielefeld 1921 ihr 700. Jubiläum aufgrund der Erwähnung von »Bürgern« (cives) 1221 feierte, war der Vertrag von 1214 zwar bekannt, jedoch die dargelegte Ableitung noch nicht entwickelt worden. 1233 endlich wurden schließlich auch die »Stadt« (oppidum) und deren »Gründung« (fundatio) ausdrücklich genannt, jedoch ist eine Gründungsurkunde nicht überliefert.

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Wappen der Grafen von Ravensberg aus der Chronik Wolff Ernst Alemans (1654–1725); im Hintergrund das Wappen Bielefelds.

1214 spätestens also gründete Graf Hermann von Ravensberg an günstiger Lage eine Stadt: Am Bielefelder Pass, nicht da, wo heute die A2 verläuft, sondern wo die Eisenbahn seit 1847 ihren Weg findet. Genau dort wurde eine Siedlung mit Stadtrechten ausgestattet. Die Erhebung zur Stadt gerade in diesem Zeitraum ergibt Sinn und lag gewissermaßen im Trend: Nach dem Sturz des Welfenherzogs Heinrichs des Löwen, der im Reichsnorden einen eigenen Herrschaftsraum zu bilden versucht hatte, konnten die kleineren Landesherren (Bischöfe, Grafen, Edelherren) ihre Territorien neu entwickeln. Um 1200 wurden im ostwestfälischen Raum etliche Städte gegründet, um die verschiedenen Territorien auch wirtschaftlich abzusichern. Mit Lippstadt (1185) und Lemgo (1189/90) hatten die Edelherren zur Lippe in direkter Nachbarschaft echte Gründungsstädte entstehen lassen, Herford dagegen war bereits eine etablierte Stadt. Das westfälische Städtenetz mit den Bischofssitzen Münster, Minden und Paderborn sowie den Handelsstädten Soest und Dortmund war zu dieser Zeit weitmaschig, und es gab auch zwischen diesen zunächst nur lose Verflechtungen. Insofern war es eine kluge Entscheidung, die Grafschaft mit einer eigenen Stadt zu versehen, die allein den Ravensbergern verpflichtet war, während das benachbarte Herford v. a. unter dem Einfluss der Äbtissin stand und an vielen anderen Stellen in der Grafschaft verschiedene Rechtsansprüche und Einflusszonen sich überlagerten. Zuvor waren die Ravensberger bei Borgholzhausen mit einer ersten Stadtgründung gescheitert, als der Ausbau des Burgfleckens Cleve im Schatten ihrer Burg Ravensberg über Ansätze nicht hinausgelangte.

Die erfolgreiche Stadtgründung Bielefelds selbst wird möglicherweise erst in der 2. Jahreshälfte 1214 erfolgt sein, nachdem sich die politischen Verhältnisse im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation geklärt hatten. Dort waren zwischenzeitlich gleich drei Könige ausgerufen worden, ehe sich der staufische Anwärter Friedrich II. (1194–1250), zu dessen Parteigängern auch Hermann von Ravensberg zählte, nach der Schlacht von Bouvines (27. Juli 1214) endgültig hatte durchsetzen können.

Der Platz für die Bielefelder Stadtgründung war mit Bedacht gewählt, denn hier führte vielleicht nicht unbedingt ein Premiumhandelsweg, aber eine dennoch wichtige Handelsroute entlang, die für Kaufleute so attraktiv war, dass sie sich in Bielefeld niederließen und dem Ravensberger Grafen auch Geld einbrachten. Dies dürfte ein wesentlicher Impetus des Landesherrn gewesen sein: mitspielen im Konzert der Regionalmächtigen durch Reputation, Bevölkerung, Einnahmen und einen neuen festen Platz.

Der Anlass zum Aufstieg zur Stadt ist nicht mit letzter Bestimmtheit zu greifen. Fakt ist lediglich: Es gab keine römischen Vorgänger, Bielefeld war keine Domstadt, es waren keine speziellen Produkte (Metalle, Salz) ausschlaggebend, es war kein militärischer Stützpunkt einzurichten und die Residenz lag zunächst auch auf der Burg Ravensberg, die der bis 1346 regierenden Dynastie den Namen gab. Wenn also die Stadtgründung hier und nicht in Brackwede, Heepen, Schildesche oder Dornberg erfolgte, dann könnte möglicherweise ein weiteres Motiv hinzugetreten sein, und zwar das der Gestaltbarkeit. Damit ist freilich nicht gemeint, dass die Stadt eine geplante äußere Gestalt erhalten sollte, sondern dass der gräfliche Gründer den Rechtsbezirk autonom, d. h. ungeteilt ausgestalten, ihm weitgehend unbeeinflusst Anreize verleihen und seinen Bewohnern Grenzen setzen konnte. So wie Bernhard II. Edelherr zur Lippe die Städte Lemgo und Lippstadt neu gegründet und diese mit Privilegien ausgestattet hatte, wird den Ravensbergern ein ähnliches Motiv vorgeschwebt haben, als sie Bielefeld ausbauten oder gar erst gründeten. Eine solche Gründungsstadt bot die Chance, ein Gemeinwesen nach eigenen Vorstellungen einzurichten, ohne äußere Einflüsse anderer Landesherren, wobei es jedoch rechtliche Gemengelagen und amorphe Einflusszonen gab – Grenzen waren damals allenfalls Konturen, aber keine scharfen Trennlinien.

Die Kaufleute und neuen Bielefelder ließen sie sich nicht auf einer völlig unbebauten und von menschlichen Einflüssen unbeeinflussten Vegetation nieder. Vielmehr weisen Grabungsfunde aus dem Stadtgebiet und auch der Welle auf eine Besiedlung bereits im 8. Jh. hin, Anfang des 9. Jhs. wird gar ein bylanuelde erwähnt und 1015 ein biliuelde. Es gab also keine »Vor-Stadt«, sondern eine wie auch immer geartete und entwickelte Ansiedlung, die als Sprungstein zur städtischen Gründung diente.

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Die Ersterwähnung Bielefelds als Stadt resultiert aus der Nennung eines Stadtrichters Ratbertus gleichzeitig mit einem Dinggrafen, der im ländlichen Umlandbezirk Recht sprach.

Um den Erfolg der Gründung zu sichern, musste Bevölkerung gewonnen werden – zum einen die bereits vorhandene, die an der Stadtgründung interessiert und in irgendeiner Form wohl auch beteiligt war, und zum anderen Neubürger aus dem direkten Umland und von außen. Es kam v. a. auf Kaufleute an, die einen Handelsplatz entwickelten. Harte Standortfaktoren wie Lage, Verkehrsanbindung, Abgabenniveau und weitere Anreize (Grundstücke, Privilegien, steuerliche Vergünstigungen, politische Teilhabe – ein Rat ist 1243 belegt – oder gar Führungspositionen) mussten wesentliche Bestandteile einer Anwerbekampagne sein. Eine Stadt ermöglichte soziale Mobilität, hier fand – in allerdings engen Grenzen – Aufstieg statt. Nicht hinreichend belegt ist, dass v. a. münstersche Kaufleute an der Gründung beteiligt gewesen waren; vielmehr verweisen Personennennungen in Urkunden auf die nähere Umgebung Bielefelds als Herkunftsort der Neubürger. Und natürlich profitierte auch der Landesherr, da der König 1224 ihm zugebilligt hatte, in Bielefeld Münzen zu prägen und Zoll zu erheben – genauer gesagt waren diese Rechte der Gräfin Sophie von Ravensberg zugestanden worden, der Gemahlin des regierenden Grafen Otto II.

Die Interpretation des Bielefeld zugestandenen Münsteraner Stadtrechts als typisches Kaufmannsrecht ist ebenfalls nicht in jeder Hinsicht einleuchtend, denn etliche Artikel regelten erbrechtliche Fragen, die allerdings nicht allein Kaufleute berührten. Überhaupt regelte das erst 1326 überlieferte Stadtrecht nicht alle Lebensbereiche, sondern möglicherweise nur diejenigen, die umstritten waren oder einer Klärung bedurften. Dennoch bot diese neue Stadt ausreichende Anreize für Verbleib und Zuwanderung, während die anderen Stadtgründungsversuche der Ravensberger missglückten.

Kennzeichen einer Stadt: Recht – Bevölkerung – Wirtschaft

Folgende Kriterien machten eine Stadt aus:

Sie bildete einen eigenen Rechtsbezirk, der vom Umland getrennt war,

verfügte über ein Stadtrecht, das ihr verliehen worden war und das sie weiter entwickelte, um die Rechtsbeziehungen innerhalb der Bürgerschaft und zur städtischen Obrigkeit zu regeln,

ihre Bürger bildeten eine Schwurgemeinschaft,

die Ansiedlung erhielt eine Befestigung mit Mauern, Toren, Gräben und Wällen,

war Marktort und

verfügte über Kirchen als Mittelpunkte des religiösen Lebens.

Nach der Gründung oder Entwicklung der Stadt Bielefeld organisierte sich diese im Inneren selbst. An der Spitze des Gemeinwesens stand der Rat, und zwar jeweils selbständig in der Altstadt und in der 1293 ersterwähnten Neustadt. Diese beiden Städte bestanden bis 1510/20 neben- und miteinander mit eigenen Bürgermeistern, Räten und Rathäusern. Der Rat entwickelte das Stadtrecht weiter, regelte in sog. Bürgersprachen das gesamte öffentliche Leben z. B. in den Sektoren Verteidigung, Bauen, Recht und Steuern bis hin zu Kleiderordnungen. Zusätzlich wurde eine rudimentäre Verwaltung eingerichtet.

Wirtschaftlich nahm die Stadt die vom Gründer gewünschte Richtung: Bielefeld war ein Ort des Handels, auch wenn die Mehrheit der Bevölkerung vom Handwerk lebte. Der Handel verteilte sich auf drei Gruppen: Die Krämer sicherten den Tagesbedarf der Bevölkerung von Textilien bis Haushaltsgeräten und importierten Nahrungsmitteln, Höker dagegen verkauften Lebensmittel aus dem Umland, Kaufleute kontrollierten den Fernhandel. Die meiste Anerkennung fiel Letzteren zu. Gemeinsam mit den Ministerialen bildeten sie den Rat, bestimmten dort das städtische Zusammenleben, trieben den einträglichsten Handel mit Textilien, Wolltuchen bis hin zu Seide und Luxuswaren wie Wein und Gewürzen, bezogen Waren aus dem gesamten Hanseraum und handelten z. T. auch dort. Potenziert wurde diese Vorrangstellung durch das Gewandschnitt-Privileg Ottos IV. von 1309, das ihre Position für Jahrhunderte zementierte. Die erfolgreichsten Kaufleute bildeten gemeinsam mit den Adeligen ein städtisches Patriziat; die übrigen waren die Honoratioren, in deren Gruppe gelegentlich der soziale Aufstieg gelang. Handwerker erlangten politische Teilhabe entweder bei Ausübung eines besonderen Gewerbes (Goldschmied) oder in der Neustadt, während nicht- oder unterbürgerliche Gruppen (»Schichten«), Geistliche und Juden von öffentlichen Ämtern ausgeschlossen blieben.

Juden sind in Bielefeld erstmals 1345 nachgewiesen; über die Gemeinde selbst und ihre Beträume und Synagogen ist bis in die Frühe Neuzeit nur wenig bekannt. Nach den Pogromen um 1350 – im gräflichen Schutzprivileg von 1370 verharmlosend als »cedicio« (Auszug) bezeichnet – kamen erst 20 Jahre später wieder Juden u. a. aus Rietberg, Hamm und Hameln nach Bielefeld: Saulus Vinoes, Simon, Jutta, Nennekun von Hamelen, Nennekun van Rethberghe sowie Johanna van Hamme mit ihren Familien. Die wenigen Erwähnungen jüdischer Bevölkerung in der Grafschaft und von Einzelpersonen (ein »jode, wonaftich to Bilvelde«, um 1430; »meister Ysack«, 1436) im 15. Jh. lassen keine Aussagen über deren Lebensumstände und Religionsausübung zu. Erst ab dem Ende des 16. Jhs. verdichten sich die Hinweise.

Kirchen prägen Stadtbild und -gesellschaft

Kirchlich begann für Bielefeld alles in Heepen. Die 1036 als »Hepyn« ersterwähnte Streusiedlung verfügte bereits über einen festen Kirchenbau. Vor 1231 wurde sie von der Mutterkirche Oerlinghausen abgepfarrt, da der zuständige Pfarrer die mit dem Wachstum der Siedlung zunehmende Seelsorge auf Distanz kaum noch wahrnehmen konnte. 1231 erscheint Heepen erstmalig als eigene Pfarre im Archidiakonat Lemgo, und zwar mit dem Patrozinium Petrus und Paulus, so wie das Abdinghofkloster in Paderborn. Diese Pfarre verfügte mindestens über eine Filialkirche in einer benachbarten Ortschaft: Bielefeld. Dessen Kapelle wurde 1236 von Heepen abgepfarrt, wobei der dortige Pfarrer für seinen Verdienstausfall einen Obolus von den Bielefeldern erhalten sollte. Das Patronatsrecht für die neue Kirche in Bielefeld fiel Graf Ludwig von Ravensberg zu.

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Die Nicolaikirche war die Bürgerkirche der Altstadt. Der heilige Nikolaus von Myra war Schutzpatron der Kaufleute.

Neben die 1236 verselbständigte Bürgerkirche mit dem Nikolaus-Patrozinium des Schutzheiligen der Kaufleute (Hanse!) trat Ende des 13. Jhs. die Neustädter Marienkirche. Beide waren für die nächsten 300 Jahre die Zentren eines von Glauben und Gottgefälligkeit dominierten städtischen Lebens, die Orientierungspunkte eines ansonsten vom Rat und den Führungsgruppen bestimmten Gemeinwesens. Kirchenfeste und -regeln ordneten das Leben der Menschen, die sich zwischen den eng gesetzten Planken weltlicher und kirchlicher Obrigkeit bewegten.

Die Altstädter Nicolaikirche war die Kirche der Kaufleute. Die Legenden um Nikolaus von Myra (zwischen 270 und 286–326, 345, 351 oder 365) machten ihn zum Schutzheiligen etlicher Berufsstände. Seefahrer, Binnenschiffer, Kaufleute und auch Getreidehändler riefen ihn an, da ihm u. a. die Stillung eines Seesturmes und die Rettung eines Ertrunkenen zugesprochen wurden. Wenn die Altstadt Bielefeld als Stadt der Kaufleute galt und die Neustadt als die der Handwerker, so ergab ein Nikolaus-Patrozinium in der Altstadt Sinn, zumal dieses in den Hansestädten verbreitet war. Die Kirche wurde der 1293 eingerichteten Neustädter Stiftskirche (St. Marien) inkorporiert. An die Stelle der ursprünglichen Kapelle trat in der ersten Hälfte des 14. Jhs. eine gotische Hallenkirche, deren Nikolaus-Patrozinium 1317 ersterwähnt ist. Die »Altstädter Nicolai« war über Jahrhunderte hinweg die Kirche der Bürger – auch nach der Reformation blieb die Verbindung zum Patron der bürgerlichen Kaufleute, dem hl. Nikolaus, erhalten.

HINTERGRUND

ANTWERPENER RETABEL

Das wertvollste Kircheninventar der »Altstädter Nicolai« ist die Antwerpener Retabel von 1524. Dieser über Westfalen hinaus bekannte Schnitzaltar gilt als herausragendes Objekt aus dieser Schule. Bereits die schieren Fakten des Bielefelder Exemplars beeindrucken: neun Schreine im Mittelteil, 24 Bildtafeln auf den Innen- und Außenseiten der Flügel, 6,44 m Breite und 4,46 m Höhe. Biblische Szenen auf Gemälden und die rund 200 Figuren entfalten eine ungeheure Detailfülle, die bis heute nicht vollständig gedeutet ist. Ebenso gibt es keine abschließenden Hinweise auf die Person des Stifters.

1293 gründeten Otto III. von Ravensberg und seine Gemahlin Hedwig das Kanonikerstift St. Marien, das die ursprüngliche Pfarrkirche ablöste. St. Marien – der »Ravensberger Dom« – war als Hauptkirche der Stadt und der Grafschaft geplant und demgemäß auch ausgestattet worden. Zu den Kanonikern gehörten vier Priester, die dem Patronat des Landesherrn unterstellt waren und das religiöse Leben in der Stadt beeinflussten, zumal die städtische Pfarre St. Nicolai eingegliedert wurde. Die Kanoniker (neben den vier Pfarrern je vier Diakone und Subdiakone) genossen eine bevorzugte Stellung, da der Graf sie großzügig von Abgaben sowie Wach- und Wehrdiensten befreite und sie die Feldmark nutzen ließ. Die Stiftskirche profitierte zusätzlich von Stiftungen des Landesherrn, der Bürger und auch verschiedener wohltätig engagierter Bruderschaften, so u. a. der 1318 nachweisbaren und damit für westfälische Verhältnisse recht frühen Kalandsbruderschaft (von lat. »kalendae« = Monatserster, was auf den Brauch der Bruderschaften verweist, sich regelmäßig an diesem Tag zu treffen).

HINTERGRUND

GRABTUMBEN IN DER NEUSTÄDTER MARIENKIRCHE

Die Neustädter Marienkirche, auch »Ravensberger Dom« genannt, ist die Grablege des 1346 ausgestorbenen Grafengeschlechts, wurde aber als solche noch einmalig vom nachfolgenden Haus genutzt. Zwei Grabtumben (steinerne Hochgräber) spiegeln diese Funktion wider und gelten als künstlerisch herausragend gestaltet. Eine um 1320 entstandene Tumba zeigt das Stifterpaar Otto III. von Ravensberg, der von 1249 bis 1305 und damit ausgesprochen lange regierte, und Hedwig zur Lippe nebst einem früh verstorbenen Sohn. Stilvergleiche mit Grabmälern in Marburg und in Cappenberg verweisen auf eine Arbeit der Kölner Dombauhütte oder aus deren Umfeld. Die andere Tumba (um 1430) gibt Wilhelm II. von Jülich-Berg in voller Rüstung und Adelheid von Tecklenburg wieder.

Die Privilegierung der Stiftskirche und ihrer Mitglieder blieb freilich nicht ohne Konflikte. Die Abgabenbefreiung ließ das Stift florieren, während die Stadt auf einen wesentlichen Einnahmenposten von vornherein verzichten musste. Deshalb wurden ab 1417 auch die nach 1381 von Stift und Kanonikern erworbenen Flächen besteuert. Die Marienkirche dominierte die Neustadt, war Grablege der Ravensberger und das geistliche Zentrum ebenso der Stadt wie der ganzen Grafschaft. Hier konzentrierten sich religiöses Leben und landesherrliche Repräsentation.

Flankiert wurde das intensive geistliche Leben der Bürger durch die zahlreichen Kapellen, Konvente und Hospitäler. Ein Zankapfel zwischen Rat und Geistlichkeit war die vom Landesherrn verfügte Steuerbefreiung der Kirchen, die mehr und mehr Grund innerhalb der Stadt erwarben, während der Umfang der steuerpflichtigen Immobilien sich zusehends verringerte. Hier versuchte die städtische Obrigkeit, durch Verbote regulierend einzugreifen; gleichwohl blieb der Anspruch der Kirchen nahezu unangetastet. Streitigkeiten zwischen Stadt und Kirche waren unvermeidbar und selbstverständlich. Immer wieder wurde ein Konsens gefunden, sei es durch Einmalzahlungen oder durch sehr genaue Festlegungen, welche Besitzteile steuerprivilegiert waren. So musste das Marienstift z. B. für alle Immobilien, die nach der 1381 erfolgten Steuerprivilegierung erworben worden waren, regulär städtische Abgaben zahlen. Dennoch kam es immer wieder zu Diskussionen. Die Stadt wiederum versuchte, ihren Bürgern Immobilienschenkungen und -stiftungen an Kirchen und Geistliche zu untersagen.

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Die um 1320 entstandene Tumba in der Neustädter Marienkirche zeigt das Stifterpaar Otto III. von Ravensberg und seine Gemahlin Hedwig nebst einem früh verstorbenen Sohn.

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Das Stadtsiegel zeigt über dem Sparrenschild der Ravensberger Grafen eine angedeutete Stadtmauer und zwei Türme. Mauer und Türme symbolisieren das Stadtrecht.

Klöster machten mit ihren steuerprivilegierten Produkten den gewerblich-weltlichen Anbietern Konkurrenz. Zudem waren Geistliche nicht der städtischen Gerichtsbarkeit unterworfen. Das geistliche Gericht machte sogar dem städtischen ernsthaft Konkurrenz, da es als effizient galt, über einen Instanzenzug verfügte und Druckmittel aufweisen konnte bis hin zum Kirchenbann und Interdikt gegen den Übeltäter, ja sogar gegen sein persönliches und geschäftliches Umfeld. Der Ausschluss von Kirchenhandlungen wiederum erhöhte den Druck auf den Beklagten.

In unserer säkularisierten Gesellschaft ist der Einfluss der – einen – Kirche kaum noch nachzuvollziehen. Doch wie präsent z. B. der Franziskaner-Konvent im Stadtbild um 1800 tatsächlich war, macht der Hinweis deutlich, dass jeder 50. männliche Bewohner Bielefelds seinerzeit Konventuale (meistens jedoch landfremd) war – auf heutige Verhältnisse umgerechnet wären dies mehr als 3.000 Franziskaner!

Altstädte – Neustädte – Stadtsiedlungen

Bis in das 16. Jh. gab es zwei Städte Bielefeld: die Altstadt und die Neustadt. Beide verfügten über eigene Rathäuser, Bürgermeister und Räte, organisierten ihre Verwaltungsangelegenheiten unabhängig voneinander, arbeiteten aber auf verschiedensten Ebenen zusammen.