Inhaltsverzeichnis

Zum Buch

 

Alfons Goppel diente dem Freistaat Bayern 16 Jahre lang als Ministerpräsident und prägte damit eine Ära. Seine Regierungszeit zwischen 1962 und 1978 war gezeichnet vom tiefgreifenden Wandel des zunächst wirtschaftsschwachen Agrarstaates hin zum modernen Industrie-, Wissenschafts- und Hochtechnologiestandort. Der milde, katholisch-barocke, leutselige und doch modern regierende Landesvater, bald liebevoll „der Fonsä“ genannt, wurde von seinen Anhängern verehrt wie ein Volkskönig.

Seine integrative und repräsentative Amtsführung hatte enormen Anteil an den spektakulären Wahlerfolgen „seiner“ CSU. Goppels Weg war jedoch auch durch Rückschläge und Schattenseiten geprägt. Seine wechselhafte Biografie ist daher geradezu spiegelbildlich für die epochalen Umbrüche des 20. Jahrhunderts.

 

 

 

Zum Autor

 

Stefan März,
Dr. phil., geb. 1980, arbeitet als Wissenschaftsmanager und freiberuflicher Historiker mit Schwerpunkt bayerische Geschichte.

Biografien machen Vergangenheit lebendig: Keine andere literarische Gattung verbindet so anschaulich den Menschen mit seiner Zeit, das Besondere mit dem Allgemeinen, das Bedingte mit dem Bedingenden. So ist Lesen Lernen und Vergnügen zugleich.

Dafür sind gut 100 Seiten genug – also ein Wochenende, eine längere Bahnfahrt, zwei Nachmittage im Café. Wobei klein nicht leichtgewichtig heißt: Die Autoren sind Fachleute, die wissenschaftlich Fundiertes auch für den verständlich machen, der zwar allgemein interessiert, aber nicht speziell vorgebildet ist.

Bayern ist von nahezu einzigartiger Vielfalt: Seinen großen Geschichtslandschaften Altbayern, Franken und Schwaben eignen unverwechselbares Profil und historische Tiefenschärfe. Sie prägten ihre Menschen – und wurden geprägt durch die Männer und Frauen, um die es hier geht: Herrscher und Gelehrte, Politiker und Künstler, Geistliche und Unternehmer – und andere mehr.

Das wollen die KLEINEN BAYERISCHEN BIOGRAFIEN: Bekannte Personen neu beleuchten, die unbekannten (wieder) entdecken – und alle zur Diskussion um eine zeitgemäße regionale Identität im Jahrhundert fortschreitender Globalisierung stellen. Eine Aufgabe mit Zukunft.

 

DR. THOMAS GÖTZ, Herausgeber der Buchreihe, geboren 1965, lehrt Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Regensburg. Veröffentlichungen zu Stadt und Bürgertum in der Neuzeit.

STEFAN MÄRZ

 

 

 

Alfons Goppel

 

 

Landesvater zwischen Tradition und Moderne

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag Friedrich Pustet
Regensburg

Impressum

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

 

eISBN 978-3-7917-6089-6 (epub)

© 2016 by Verlag Friedrich Pustet, Regensburg

eBook-Produktion: Friedrich Pustet, Regensburg

Umschlaggestaltung: Martin Veicht, Regensburg

 

Diese Publikation ist auch als Printprodukt erhältlich:

ISBN 978-3-7917-2788-2

 

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Informationen und Bestellungen unter verlag@pustet.de

Zum Geleit

Wir, die Großfamilie Goppel, inzwischen weit verstreut, sind uns einig: 25 Jahre ohne Alfons und Gertrud Goppel sind ein guter Anlass, das besondere Paar in unserer in jeder Hinsicht bunten Verwandtschaft zu würdigen. Wir haben uns das für 2016, für den 111.Geburtstag unseres Vaters und gleichzeitig seinen 25. Todestag, vorgenommen. Da kommt uns gelegen, dass der Pustet-Verlag zum gleichen Zeitpunkt einen persönlichen und zeitgeschichtlichen Nachruf für unser Familienoberhaupt plant. Der Dank für seinen uns allen bisher unbekannten Blickwinkel auf die Person des Regensburgers Alfons Goppel wird unser Bild von ihm mit Gertrud, seiner Frau, unserer Mutter, nicht ändern, wenn auch vielleicht da oder dort etwas anders »ausleuchten«. Auch darauf freuen wir uns. Auf das Erscheinen des Büchleins sind wir gespannt, auch auf die, die zwar inzwischen weniger geworden sind, die die Eltern und ihr Dasein aber kannten, einzuschätzen wussten und beide, am neuen Leitfaden von Dr. März orientiert, jetzt kommentieren. Das macht ein gutes Bild ja aus: Ecken, Kanten, Nuancen und verschiedene Sichten zu einem Menschen kommen zur Geltung, bestätigen Bekanntes oder stimmen nachdenklich, setzen Fragezeichen. Wie auch immer: Sie schaffen in hektischer Zeit aller Flüchtigkeit zum Trotz Nachdenklichkeit, neue Erkenntnis, auch Neugier und Sehnsucht, doch noch etwas mehr zu erfahren. Deshalb gibt es Bücher: Fundgruben für »Schatzsucher«. Wunderbar, im Falle des Vaters dazugehören zu dürfen.

Genug schwadroniert – zur Sache: Einer wie ich zum Beispiel hat den Alfons Goppel – im Gegensatz zu den drei (vier) älteren Brüdern – weniger aus seiner kommunalpolitischen Zeit als mehrfach durchgefallenen Bürgermeister und Landrat in Erinnerung. Nichtsdestotrotz versuche ich bis heute, seinen Arbeitsstil der Nachkriegszeit von damals bis heute auf mich selbst, jetzt auch schon seit 42 Jahren, zu übertragen. Jeden und alles ernst nehmen, für aktuelle Not da sein und – seinem Jura-Studium zum Trotz – im ersten Anlauf nicht dem Gesetz oder der Bürokratie, sondern dem Bürger glauben. Das stockte zwar seine Arbeitszeit enorm auf, reduzierte uns die Familienzeit und steigerte die Zahl der Einsätze, auch der kaum Erfolg verheißenden. Ein ganzes politisches Leben lang verschaffte ihm das aber auch die Zuneigung der einfachen Bayern (Oberpfälzer und Franken besonders). »Landesvater« tauften ihn die Landsleute. Und behalten ihn bis heute so in Erinnerung, samt seinem liebevollen Titel. Kopiert oft, erreicht nie. So darf das Sohnesstolz schon formulieren, oder?

Die Zeit, die mir herausragend im Gedächtnis ist, beginnt in etwa mit Vaters 50. Geburtstag, seiner Aufstiegszeit in Landtag und Kabinett, dem Höhenflug ins und im höchsten Staatsamt. Beides, Amt und Aufgabe, meisterte er mit seiner Frau, unserer (Landes-)Mutter, von 1962/78 in glücklicher Zeit, sorgte für unverwechselbaren Stil. Zu meinen besonderen Erinnerungen gehört auch der überraschende Ruf der CSU nach einem Ministerpräsidenten Alfons Goppel, einem, der – so war es gedacht – eigentlich ganz schnell von FJS abgelöst werden sollte. 16 Jahre blieb er im Amt, bis ihn die längst präsenten Nachrücker mit Otto von Habsburg und Heinrich Aigner als amtlich/bayerischen Starteuropäer nach Straßburg und Brüssel weglobten. Auch an den Rotkreuzpräsidenten Alfons Goppel erinnere ich mich gut; die Front der Hauptamtlichen tüftelte lang daran, ihn »heim« zu schicken. Seiner bis heute nicht erklärten Verabschiedung folgte noch ein letzter großer Kraftakt: Mutter, das Zentrum der Familie, musste verabschiedet sein. Die folgenden eineinhalb Jahre wurden dem ans Alleinsein gar nicht Gewohnten lang trotz der Gewissheit, dass das Adieu, aus tiefer Gläubigkeit gesprochen, ein festes Ziel hat. Vieles bleibt im Gedächtnis.

Obwohl gerade mal 1,74 m groß, war Alfons, unser Vater, in all den Jahren seines Schaffens (nach dem aktiv durchlebten Zweiten Weltkrieg immerhin noch fast 40 Aufbaueinheiten) ein wirklich Großer. Andere, die ihn mit der Feststellung zu hänseln suchten, dass all seine Söhne, Sprösslinge einer relativ satten Nachkriegsgeneration, größer geworden seien als er, korrigierte er lächelnd, aber kurz und bündig: »länger vielleicht.« Dass er Recht behalten hat, obwohl wir in der kleinen Alfons- und der großen Goppel-Familie alle erfreulich erfolgreich sein durften, wird im Buch von Stefan März nur indirekt stehen, aber am Ende nicht anders als so gedeutet sein können: Wirklich »groß« ist mehr als lang.

Wir alle sind dankbar, dass wir ihn hatten, weil wir ihn haben, den Alfons Goppel, der so einmalig war, wie er uns Bayern hat erfahren lassen, groß auch und faszinierend! »Leben und leben lassen«, das war seine Devise, für die er lebte und bis heute lebendig ist. Quittiert hat er die Höhen und Tiefen seiner 86 Lebensjahre mit der Bayern eigenen Dankesformel: Vergelt’s Gott! Für sein Leben, das der Eltern, sagen wir es in gleicher Weise und tief überzeugt.

 

Dr. Thomas Goppel,
MdL, Bayerischer Staatsminister a. D.
(für die Familie)

Vorwort

Sechzehn Jahre lang stand Alfons Goppel als Ministerpräsident an der Spitze Bayerns und prägte damit eine Ära. Anfangs unterschätzt, später von der Bevölkerung als »Landesvater« verehrt, versuchte er zeitlebens, gleichermaßen zukunftsweisende wie wertegebundene Politik für den Freistaat und dessen Bürgerinnen und Bürger durchzusetzen. Bayern erlebte in seiner Regierungszeit von 1962 bis 1978 einen tiefgreifenden Wandel vom wirtschaftsschwachen Agrarstaat hin zum modernen Industrie-, Wissenschafts- und Hochtechnologiestandort. Diese Entwicklung unterstützte der durch den katholischen Humanismus geprägte Regierungschef nachhaltig.

Alfons Goppels wechselhafte Biografie ist geradezu spiegelbildlich für die epochalen Umbrüche des 20. Jahrhunderts, die auch seine bayerische Heimat prägten. Aufgewachsen in bescheidenen Verhältnissen, erlebte er als Schüler, Student und junger Anwalt den Ersten Weltkrieg, das Scheitern der Weimarer Republik sowie die Schrecken der nationalsozialistischen Herrschaft. Erst nach enttäuschenden Erfahrungen und gescheiterten politischen Kandidaturen in der Nachkriegszeit trat er schließlich doch noch ins Rampenlicht der Landespolitik. Ab 1954 saß er für den unterfränkischen Stimmkreis Aschaffenburg im Landtag, wurde bereits 1957 überraschend zum Staatssekretär im Justizministerium berufen und übernahm 1958 das bayerische Innenministerium. Dass der gebürtige Oberpfälzer im Jahr 1962 in das höchste bayerische Staatsamt gewählt wurde, überraschte seinerzeit viele Beobachter.

Heimatbewusst, weltoffen und fest im christlichen Glauben verwurzelt, verkörperte Goppel einen zutiefst menschlichen und geradezu barocken »Landesvater« – ein Begriff, der zwar dem monarchischen Erbe entsprungen war, aber wie für ihn erfunden schien. Der Mensch stand für den Modernisierer Goppel stets im Mittelpunkt aller staatlichen Tätigkeit, wie er bereits bei seiner ersten Regierungserklärung im Dezember 1962 betonte: »Er soll sich in unserem Freistaat Bayern so entfalten können, wie es der durch Religion, Moral und Sitte gebändigten menschlichen Natur entspricht. Er soll der Würde gemäß leben können, die ihm mit den Gaben des Geistes und mit seiner unsterblichen Seele verliehen ist.«

Als bayerischer Ministerpräsident maß Goppel der Repräsentation sowie der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit weit größeren Wert bei als seine Vorgänger. Sein Image als »Landesvater«, der dem Anschein nach über den Parteien stand, sowie seine integrative und bürgernahe Amtsführung hatten großen Anteil an den spektakulären Wahlerfolgen seiner Partei. Mit ihm als Spitzenkandidat errang die CSU bereits im Jahr 1962 47,5 % der Stimmen – die absolute Mehrheit im Landtag. Nach zwölf Jahren Amtszeit als Ministerpräsident kulminierte das Wahlergebnis seiner Partei im Jahr 1974 mit nie dagewesenen 62,1 %. Keinem seiner Amtsnachfolger – auch nicht Strauß oder Stoiber – sollte in späteren Jahren ein derart eindrucksvoller Wahlerfolg gelingen.

In Goppels Kabinetten saßen stets eigenständige und ideenreiche Minister, die – wie verfassungsmäßig ja auch so vorgesehen – »selbständig und unter eigener Verantwortung gegenüber dem Landtag« ihre Konzepte vertraten. Als Ministerpräsident agierte er daher mehr als Moderator denn als Richtliniengeber – und dies mit großer Wirkung: Seine Regierung erneuerte im Rahmen der kommunalen Gebietsreform nicht nur die staatliche Verwaltung Bayerns, sondern brachte auch zahlreiche soziale, bildungspolitische und kulturelle Projekte auf den Weg. Bundespolitisch stellte er sich als föderalistischer Mahner in die Tradition seiner Amtsvorgänger.

Goppel ebnete zielstrebig den Weg Bayerns in die Moderne, weshalb sich diese Biografie ihrem Protagonisten auch über das Panorama der bewegten Zeiten nähert, in denen dieser politisch verantwortlich agierte und die er maßgeblich mitgestaltete. Neben der Eröffnung des Raffineriezentrums Ingolstadt und dem Bau des Kernkraftwerks Gundremmingen setzte sich der Ministerpräsident – wenngleich letztendlich vergeblich – für die Errichtung des Protonengroßbeschleunigers CERN im Ebersberger Forst ein. Er verfiel jedoch nicht blind der Technologiegläubigkeit seiner Zeit. So umfasst sein politisches Vermächtnis neben der Zukunftsorientierung stets auch die Bewahrung von Traditionen und des kulturellen Erbes. Fünf Landesuniversitäten wurden während seiner Regierungszeit gegründet, das Münchner Nationaltheater und weitere Schauspielhäuser mit hohem Kostenaufwand wiederaufgebaut. Seine konservativen und innovativen Bestrebungen verbanden sich besonders harmonisch in der Schaffung des ersten Ministeriums für Landesentwicklung und Umweltfragen.

Zweieinhalb Jahrzehnte nach dem Tod des bayerischen Landtagsabgeordneten, Staatssekretärs, Innenministers, Ministerpräsidenten und Europaabgeordneten Goppel hat es fast den Anschein, als sei dieser als politischer Akteur einer längst vergangenen Zeit in Vergessenheit geraten. Während man seinen Nachfolger im Amt des Ministerpräsidenten, den zehn Jahre jüngeren Franz Josef Strauß, posthum (im Positiven wie im Negativen) zu einem politischen Mythos verklärte, wurde es still um Goppel. Dabei prägte dessen Wirken die bayerische Nachkriegsgeschichte mindestens ebenso sehr. Das Gelingen des Wiederaufbaus und die kontinuierliche Modernisierung des Freistaats nach dem Zweiten Weltkrieg sind untrennbar mit seinem Namen verknüpft. Zahlreiche politische Richtungsentscheidungen, die noch heute nachwirken, fallen direkt auf seine Persönlichkeit, seine politische Überzeugung und sein Handeln zurück. Die historische Forschung würdigte ihn dennoch bislang nur geringfügig: Neben der grundlegenden wissenschaftlichen Arbeit von Claudia Friemberger, die seinen Weg vom Kommunalpolitiker zum Ministerpräsidenten quellengesättigt nachzeichnet, sind vor allem die Fachbeiträge von Karl-Ulrich Gelberg und Wolfgang Zorn sowie die »Biografischen Notizen« von Stefanie Siebers-Gfaller hervorzuheben. Sie bilden das solide Fundament für die vorliegende Biografie. Alfons Goppels wechselhafter Lebensweg sowie sein politisches Vermächtnis sind ausdrücklich der historischen (Wieder-)entdeckung durch eine breite Leserschaft wert – wozu dieses Buch seinen Teil beitragen möge.

 

Stefan März, im Juli 2016

1   Herkunft und geistige Heimat

»Wir wollen als so genannte Humanisten nicht überheblich werden, […] wir glauben nur, das Reifwerden für die eigentliche Wissenschaft und für die Führungsaufgaben in der Gesellschaft könne vielleicht besser jenseits eines unmittelbaren Nützlichkeitsdenkens vollzogen werden.«

Alfons Goppel

Roahauserer san ma, lasst ma uns nix sag’n

Alfons Goppel erblickte am 1. Oktober 1905 im beschaulichen Dorf Reinhausen, einem heutigen Bezirk der Stadt Regensburg, das Licht der Welt. Seine Eltern waren die seit 1900 verheirateten Zimmerleute Barbara und Ludwig Goppel – sie eine gebürtige Oberpfälzerin, er ein gebürtiger Schwabe. Alfons sollte das vierte von insgesamt neun Kindern sein, die das katholische Ehepaar zwischen 1901 und 1915 bekam – sechs Mädchen und drei Jungen. Vater Ludwig war in Reinhausen zunächst als Bäcker tätig, verdiente den spärlichen Familienunterhalt später als Fabrikarbeiter, christlicher Gewerkschaftssekretär und schließlich als Kreisgeschäftsführer des bayerischen Kriegerbundes. Die von der streng katholischen Großfamilie gelebten Werte sollten Alfons Goppel nachhaltig prägen. Die biografischen Wurzeln des späteren bayerischen Ministerpräsidenten ähneln in vielerlei Hinsicht jenen anderer konservativer Politiker seiner Generation. Etliche maßgebliche Akteure der Nachkriegs- und Wiederaufbauzeit nach 1945 stammten aus einfachen Verhältnissen, was sich nachhaltig auf deren politische Grundhaltung auswirkte.

Die Epoche, in die Alfons Goppel hineingeboren wurde, war gleichermaßen ein Zeitalter des Aufbruchs und eine Endzeit. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts zeichnete sich Bayern, das seit 1871 ein teilsouveräner Bundesstaat des Deutschen Reiches war, durch einen konstitutionell-parlamentarisch-repräsentativen Mischcharakter aus. Das Königreich verfügte ab 1906 über ein modernes Wahlrecht und wies erhebliche kommunale Handlungsmöglichkeiten sowie eine beachtliche Reformmentalität auf. Der Glanz vieler Friedensjahre, eines kräftigen wirtschaftlichen Aufschwungs, revolutionärer technischer und wissenschaftlicher Neuerungen sowie einer ungeahnten kulturellen Blüte überlagerte sich mit einem tiefgreifenden Wandel gesellschaftlicher, politischer und sozialer Strukturen. Der eklatante Bevölkerungsanstieg, die zunehmende Verstädterung und der beginnende Übergang vom Agrar- zum Industriestaat riefen zahlreiche soziale Probleme hervor. Steigende Bildungs- und Lebensstandards, eine meinungsfreudige Medienlandschaft, selbstbewusste Parteien sowie ein rasanter Wertewandel verstärkten den Wunsch nach mehr politischer Mitbestimmung.

Das am nördlichen Rand Regensburgs gelegene Reinhausen war von diesen Entwicklungen nicht ausgenommen. Das Erscheinungsbild des ursprünglich von Winzern, Fischern und Flößern bewohnten Orts war von kleinen Schopfwalmgiebelhäusern geprägt, die sich entlang des Regenufers aneinander reihten. Das ländliche Dorf wandelte sich in Goppels Kindheit und Jugend jedoch allmählich zu einer Vorstadt mit gemischter Bevölkerungsstruktur, was durch den Bau von Durchfahrtsstraßen, neuen Wohngebieten und Arbeitersiedlungen beschleunigt wurde. Ins Licht der Geschichte dieser »neuen Zeit« war der Ort im Jahr 1892 getreten, als dort auf Initiative Georg von Vollmars auf einem Parteitag die bayerische SPD gegründet wurde.

Die Familie Goppel lebte in bescheidenen Verhältnissen. Der Familienvater Ludwig Goppel hatte versucht, im Ort als Bäcker Fuß zu fassen. Sein Geschäft in der Donaustaufer Straße ging jedoch nicht sonderlich gut, weswegen er sich bald nach einer anderen Verdienstmöglichkeit sowie einer neuen Wohnung für die Familie umsehen musste. Die Kinder hatten ebenfalls nach Kräften zum Haushalt beizutragen: Beim Ährenlesen auf abgemähten Getreidefeldern holte sich der junge Alfons aufgrund der scharfen Stoppeln regelmäßig blutige Zehen. Die kinderreiche Familie hatte es in Reinhausen mitunter auch aus anderen Gründen schwer: Beinahe jedes Mal, wenn wieder Nachwuchs ins Haus stand, wurde den Goppels die Wohnung gekündigt. Innerhalb von 15 Jahren kam es somit zu sieben Umzügen, selbst in der Zeit, als der Vater als Soldat im Ersten Weltkrieg diente. Die endgültige Bleibe der Familie sollte nach dem Krieg ein Reihenhäuschen der Baugenossenschaft Stadtamhof werden, das sogar über einen kleinen Garten verfügte.

 

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Abb. 1: Familienporträt von Ludwig und Barbara Goppel mit ihren neun Kindern, um 1918; Alfons steht rechts neben seinem Vater

 

Alfons Goppel beschrieb seine Kindheit rückblickend als glücklich und befand, er sei in einer fröhlichen Familie aufgewachsen. Noch Jahrzehnte später assoziierte er mit seinen Kindertagen eine Abfolge unbeschwerter Sommer, behaglicher Adventabende und feierlicher Weihnachtstage, an denen sich die zahlreichen Geschwister über die kleinen Präsente der Eltern freuten. Das Aufwachsen im stark ländlich geprägten Reinhausen, das von Feldern, Wiesen und Gärten umgeben war, bot für die umtriebigen Geschwister etliche Abenteuer, etwa auf »moosüberwachsenen Floßstämmen am Holzgartenufer« oder bei den »brüchigen Eisschollen auf dem winterlichen Fluss«. Goppel schrieb über seine prägenden Jugendjahre: »Wir hatten ja noch so viel mehr Freiheiten […].«

Um das Jahr 1920 war Reinhausen mit etwa 5000 Einwohnern das größte Dorf der Oberpfalz, bis es 1924 – zusammen mit anderen nördlichen Vororten Regensburgs – als Bezirk in die Stadt eingegliedert wurde, die durch diese Eingemeindungen zur fünftgrößten Bayerns wuchs. Die neuen Stadtbezirke profitierten von höheren Sozialleistungen und erheblichen Investitionen in die Infrastruktur, vor allem in den Bereichen der Verkehrswege, des Schulwesens sowie der Wasserver- und -entsorgung. Das trotzig-stolze Reinhausener Heimatlied des ehemaligen Religionslehrers von Alfons Goppel beginnt mit den Worten »Roahauserer san ma, lasst ma uns nix sag’n« und widmete der Eingemeindung folgende Zeilen: »Rengnschburg steht scho 1000 Joar / und is allweil vorn / aber Großstadt is halt erst / durch Roahausn worn.«

Zwar gingen infolge der Eingemeindung lokale Überlieferungen verloren oder gliederten sich in eine größere Regensburger Tradition ein, die Identität Reinhausens blieb jedoch so stark, dass im Jahr 1958 die 950-Jahr-Feier des ehemaligen Dorfes begangen wurde. Goppel, der inzwischen bereits bayerischer Innenminister war, hielt zu diesem Anlass eine Festansprache mit dem Titel »Heimat, Mitte des Lebens«. Seiner engeren Heimat blieb er zeitlebens eng verbunden, wenngleich ihn Studium und Beruf von dort wegführen sollten und der Regierungsbezirk Unterfranken später für lange Zeit zu seiner politischen Heimat wurde.

Schuljahre in aufgewühlten Zeiten

Als der Erste Weltkrieg im Sommer 1914 ausbrach, war Alfons Goppel noch nicht einmal neun Jahre alt, erlebte diese Zeit als Kind und Jugendlicher an der Heimatfront aber bewusst. Hunderttausende junge Männer waren an die Front geschickt worden – darunter auch Vater Ludwig – und fehlten der heimischen Landwirtschaft. Da Reinhausen am Rande der Stadt lag, wuchs Alfons zwar auf dem Land auf, besuchte aber ab 1911 die Volksschule in Regensburg und schließlich das dortige humanistische Gymnasium. Der Krieg beeinträchtigte auch den Schulbetrieb am traditionsreichen Königlichen Alten Gymnasium erheblich; so befanden sich im Jahr 1918 vier Lehrer und 88 Schüler im Kriegsdienst. Zudem wurde während der Sommermonate ein Teil der Schüler zum landwirtschaftlichen Hilfsdienst verpflichtet. Schließlich musste das Schulgebäude sogar für die Militärbehörde geräumt werden; der Unterricht fand vorübergehend in den Räumen der Kreisoberrealschule statt.

Die anfängliche patriotische Begeisterung der bayerischen Bevölkerung verflog rasch. Die Fronten in Frankreich und Russland erstarrten im Stellungskrieg und ein Ende war auch nach Monaten nicht in Sicht. Zunehmend wurde die Versorgungslage der Zivilbevölkerung in der Heimat prekärer. Knapp 200 000 bayerische Landeskinder bezahlten ihren Militärdienst schließlich mit dem Leben, über 430 000 weitere wurden verwundet. Später schrieb Goppel, während des Krieges seien er und seine Altersgenossen »in die Erregung und Trauer der Großen einbezogen [worden], wenn es um Verlustlisten ging und ums Sammeln von notwendigen Ersatzgegenständen«.

»Weimarer Republik«