Inhaltsverzeichnis

Zum Buch

 

Nach seinem jüngsten Buch „Minderheiten in München“, das Zuwanderungen und Integration vom Mittelalter bis zur jüngsten Flüchtlingswelle beschreibt, dokumentiert der Münchner Autor und Journalist Karl Stankiewitz nun die vielfältigen „Randgruppen“ seiner Heimatstadt. Der Band berichtet von der Geschichte der Armen, Obdachlosen, Homosexuellen, Kinderarbeiter, Gefangenen, Kommunisten, Separatisten, Prostituierten, Behinderten und der sogenannten „Nestbeschmutzer“. Ganz unterschiedliche Personengruppen also, die eines gemeinsam haben: Sie entstammen der Mitte des städtischen Milieus, das sie aber oftmals an den Rand verbannte.

Durch den ihm eigenen eher journalistischen denn historisierenden Zugriff stellt der Autor auch dieses Thema zur aktuellen Diskussion.

 

 

 

Zum Autor

 

Karl Stankiewitz,
geb. 1928, ist Journalist und Buchautor; zahlreiche Veröffentlichungen zum Thema München, Bayern und Zeitgeschichte.

KARL STANKIEWITZ

Außenseiter in München
Vom Umgang der Stadtgesellschaft mit ihren Randgruppen

VERLAG FRIEDRICH PUSTET

REGENSBURG

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

 

 

eISBN 978-3-7917-6078-0 (epub)

© 2016 by Verlag Friedrich Pustet, Regensburg

eBook-Produktion: Friedrich Pustet, Regensburg

Umschlaggestaltung: Martin Veicht, Regensburg

 

Diese Publikation ist auch als Printprodukt erhältlich:

ISBN 978-3-7917-2752-3

 

Weitere Publikationen aus unserem Programm finden Sie auf www.verlag-pustet.de

Informationen und Bestellungen unter verlag@pustet.de

»MÜNCHEN WILL GAR NICHT ERÖRTERT, MÜNCHEN WILL GELEBT UND GELIEBT SEIN.« Wer möchte Ernst Heimeran (1902–1955), dem dieses so urmünchnerisch klingende Leitmotiv zugeschrieben wird, ernsthaft widersprechen? Doch vielleicht wird man ihn ergänzen dürfen, ihn, den großen Verleger und Autor, der in Schwabing das Gymnasium besuchte und wie viele als „Zuagroaster“ in München Wurzeln schlug: Die Liebe zur ersten oder zweiten Heimat schließt die Kenntnis über sie nicht aus – und umgekehrt.

Die Geschichte einer Stadt ist ebenso unerschöpflich wie die Geschichten, die in ihr spielen. Ihre Gesamtheit macht sie unverwechselbar. Ob dramatische Ereignisse und soziale Konflikte, hohe Kunst oder niederer Alltag, Steingewordenes oder Grüngebliebenes: Stadtgeschichte ist totale Geschichte im regionalen Rahmen – zu der auch das Umland gehört, von dem die Stadt lebt und das von ihr geprägt wird.

München ist vergleichsweise jung, doch die über 850 Jahre Vergangenheit haben nicht nur vor Ort, sondern auch in den Bibliotheken Spuren hinterlassen: Regalmeter über Regalmeter füllen die Erkenntnisse der Spezialisten. Diese dem interessierten Laien im Großraum München fachkundig und gut lesbar zu erschließen, ist das Anliegen der Kleinen Münchner Geschichten – wobei klein weniger kurz als kurzweilig meint.

So reichen dann auch 140 Seiten, zwei Nachmittage im Park oder Café, ein paar S- oder U-Bahnfahrten für jedes Thema. Nach und nach wird die Reihe die bekannteren Geschichten neu beleuchten und die unbekannteren dem Vergessen entreißen. Sie wird die schönen Seiten der schönsten Millionenstadt Deutschlands ebenso herausstellen wie manch hässliche nicht verschweigen. Auch Großstadt kann Heimat sein – gerade wenn man ihre Geschichte(n) kennt.

 

 

DR. THOMAS GÖTZ, Herausgeber der Buchreihe, lehrt Neuere/Neueste Geschichte an der Universität Regensburg und forscht zu Stadt und Bürgertum in der Neuzeit.

Einleitung – Ablehnung war gestern

Zurzeit gelten knapp 40 Prozent aller 1,5 Millionen Einwohner Münchens als „Bürger mit Migrationshintergrund“. Die Flüchtlinge und Asylsuchenden aus jüngster Zeit sind dabei noch gar nicht mitgezählt. Diese stehen im Mittelpunkt aktueller Diskussionen, während andere Minoritäten seit Generationen oder erst seit geraumer Zeit in die Stadtgesellschaft integriert sind, wenn auch meist nicht ohne Probleme. Der Band „Minderheiten in München“, der 2015 in dieser Reihe erschienen ist, schildert die Geschichte der Einwanderung und Eingliederung sowie die heutige Situation einiger dieser Gruppen: Juden, Mönche, Protestanten, Freimaurer, Sudetendeutsche, Muslime, Schwarze, Sinti und Roma, Gast- und Zwangsarbeiter, Displaced Persons und die lawinenhaft angewachsene Gruppe der jüngsten Kriegsflüchtlinge, die von München aus in Deutschland Asyl begehren.

Daneben aber existieren große Randgruppen, die sich aus der Gesellschaft selbst gebildet haben, nicht durch Migration. Einige von ihnen soll dieser Nachfolge-Band im historischen Spiegel und ihrer gegenwärtigen Situation darstellen, wobei der Autor, der früher als Reporter gearbeitet hat, auch persönliche Begegnungen einblendet: die Armen, die Obdachlosen, die Kinderarbeiter, die Gefangenen, die Kommunisten, die Separatisten, die geistig Behinderten, die Prostituierten, die Homosexuellen, die sogenannten Nestbeschmutzer. Weitere Schichten mit gemeinsamem Nenner, die sich auch mal überlagern, könnten angefügt werden: Anarchisten, Pazifisten, Faschisten, Feministinnen, Nudisten, Sonderlinge und so weiter.

Sie alle verbindet in der Regel das Erlebnis zunächst totaler Ablehnung oder Ausgrenzung. Sie konnten sich der Toleranz der Stadt und ihres Bürgertums noch weniger gewiss sein als jene Gruppen, die aus Zuwanderung erwachsen und Stützen der Gesellschaft geworden sind. Sie „störten“ in aller Regel. Ihnen fehlte meist auch die Stimme, um sich bemerkbar zu machen.

Doch die Zeit ging über alle Anfeindungen hinweg. Die moderne, die soziale Stadt nimmt sich auch derer an, die sie so lange – oft buchstäblich – an den Rand gedrängt hatte. Die Bedrängten und Verstoßenen finden Hilfe, finden mindestens Verständnis. Dazu will dieses Buch einen kleinen Beitrag leisten.

 

Karl Stankiewitz, im Frühjahr 2016

Die Armen

Zwei Brezen pro Jahr

Den Armen beizustehen war und ist von jeher Christenpflicht. Schon Jesus hat das gepredigt, und Kirchenvater Augustinus hat die biblische Botschaft als Auftrag an die „Reichen“ postuliert. Mit Almosen und Spenden konnten sich Nicht-Arme einen guten Platz im Himmelreich oder zumindest eine kürzere Wartezeit im Fegefeuer sichern, was den „Wohltätern“ – bis zu Luthers Gegenkampagne – sogar in Form von Ablass garantiert war. Noch in der stadtbürgerlichen Gesellschaft vor dem Siegeszug des Kapitalismus galt der Grundsatz „Armut schändet nicht“. In der christlichen Welt ist die Nächstenliebe, die Caritas, bis heute das probate Mittel zur Linderung der Armut.

So hat denn auch das ebenso fromme wie wohlhabende und einflussreiche Münchner Ehepaar Burkhard und Heilwig Wadler jede Woche eine Speisung für die (kranken oder gebrechlichen) Insassen des Heiliggeistspitals bezahlt – und jedes Jahr zwei Brezen für die ambulanten Armen in der noch jungen Stadt. Das geht aus der Stadtchronik vom 12. Juli 1318 hervor. In jenem Jahr hatte die Stadtkammer begonnen, alle Einnahmen und Ausgaben zu erfassen und jährlich abzurechnen. Davor hatten vermutlich auch schon Arme in München gelebt und private oder wahrscheinlich städtische Almosen empfangen. Danach aber war in den amtlichen Annalen lange nichts mehr über diese wohl nicht ganz kleine Minderheit zu berichten.

Arme waren im Mittelalter offenbar kein städtischer Rechnungsposten. Sie gehörten einfach ins Stadtbild. Sie fielen nicht auf, selbst wenn sie noch so zerlumpt und ausgehungert daherkamen. Nur als Bettler, als die Ärmsten der Armen, wurden sie auffällig und somit erwähnenswert für die Stadtschreiber. Deshalb versuchten die Ratsherren im Oktober 1562, das Bettelwesen erstmals durch eine Verordnung zu regeln, wonach notleidende Mitbürger aus einem separaten Unterstützungsfonds versorgt werden sollten. Im Zuge von Gegenreformation und intensivierter herzoglicher Macht wurde die Praxis immer rigider: Zehn Jahre später wurde das Betteln nur noch Blinden und „Sondersiechen“ erlaubt; fremde Bettelleute wurden von den mit Spießen bewaffneten Stadttorwachen zurückgestoßen. Auch der Zutritt in Gotteshäuser war den Lumpenbürgern verwehrt, sie harrten draußen vor der Kirchentür. Dafür besoldete die Stadt eigene Bettelrichter.

Nachdem das Heer der Besitzlosen und unfreiwilligen Müßiggänger immer größer wurde, beschloss der Stadtrat im Februar 1601, den für die öffentliche Ordnung verantwortlichen Handwerksmeistern einzuschärfen, dass kein Bürger mehr an Werktagen in den Bräu-, Met-, Branntwein- und Kochhäusern „liegen und zehren und zechen“ solle, außer wenn ihn ein Fremder dazu einlade. Zwei Jahre später gründete sich die St.-Benno-Bruderschaft, die verarmte Bürger und Handwerker, bedürftige Lehrlinge und Schüler unterstützen sollte. Der Bruderschaft, die sogar vom Papst bestätigt wurde, mussten auch Angehörige des Rats angehören.

„Eine Wende in der landesherrlichen Armenpolitik“ verzeichnete der Chronist am 6. Februar 1630. Mitten im Dreißigjährigen Krieg erließ Kurfürst Maximilian eine Bettelordnung, die das Betteln generell untersagte. Bedürftige wurden in Register erfasst. Sie durften nur noch „aus obrigkeitlich durchgeführten Almosensammlungen“ unterstützt werden. Die Verteilung übernahm ein Armenvogt. Bald wurden eigene Armenhäuser gebaut und von der Stadt gefördert, das erste beim Leprosenhaus am Gasteig, während Tagwerker im Spitalhof des Vorortes Sendling verköstigt wurden. Auch einige Klöster sowie Privatleute mit sozialem Gewissen halfen den Armen. So gründete der Lehrer Johann Michael Pöppel 1751 in der Au ein „Gemein waysen Stuben“ für 30 elternlose Kinder, die singend und sammelnd von Haus zu Haus zogen; er gewann 72 „Sponsoren“ für sein Waisenhaus.

Rumfords Reformen

Eine weitere Wende wagte der aus Amerika zugewanderte Benjamin Thompson alias Graf Rumford, der als Superminister dem aufklärerischen Kurfürsten Karl Theodor diente. Am Neujahrstag 1790 ließ der frühere Bürgerkriegsgeneral drei Münchner Infanterie-Regimenter aufmarschieren und in Gegenwart städtischer Beamter über 2000 verwahrloste Menschen aufgreifen. Die Aktion diente der Beseitigung des Bettlerunwesen, das längst katastrophale Züge angenommen hatte; damit sollte die bisher gängige Praxis des Almosengebens zurückgedrängt werden. Zu jener Zeit tummelten sich in der Residenzstadt, die etwa 36 000 Einwohner zählte, mindestens 2600 Bettler beiderlei Geschlechts und jeglichen Alters.

Diejenigen, die dem großen „Petlerfang“ anheimfielen, sowie Behinderte und Waisen kamen in eine Tuchfabrik in der Au, die der mit vielen Reformen beschäftigte Rumford als Arbeitshaus herrichten ließ – ein Meilenstein der Sozialfürsorge in München. Rumford schuf Werkstätten mit Webstühlen, wo 600 bis 800 arme Männer und Frauen unter Anleitung von Fachleuten allerlei Produkte herstellten, von der (ebenfalls reformierten) Soldatenuniform bis zum Damenschal. Er beschäftigte dort einen Arzt und einen „Chirurg“. Für Kinder schuf er eine Schule. Nebenbei konstruierte der General einen neuartigen Herd, auf dem er eine Suppe aus Kartoffeln, Brot und Erbsen nach eigenem Rezept kochen und täglich an 2000 Bedürftige ausgeben ließ.

Doch in der 1808 zur Stadt erklärten Au sowie in den Nachbardörfern Giesing und Haidhausen brodelte die Armut weiter. Wohin sie führte, sah bald ein Mann voraus, der als Wegbereiter der romantischen Naturphilosophie gilt: der 1765 in München geborene Franz von Baader. Er, einer von 13 Söhnen eines herzoglichen Leibarztes, erarbeitete mit seiner Schrift „Über das dermalige Mißverhältnis des Vermögenslosen oder Proletairs zu den Vermögen besitzenden Klassen“ eine der ersten Analysen des industriellen Frühkapitalismus.

Viele, zu viele Menschen drängten im 19. Jahrhundert vom größer gewordenen Land Bayern in die Hauptstadt, die ja immer mehr Arbeitsplätze zu bieten schien: im Bau, in Mühlen, im Handwerk und schließlich auch in der Industrie. Besoldet wurden die Beschäftigten vom Land – Lumpensammler, Mörtelträger, Loderer, Kistler, Wäscherinnen, Biermädel und so weiter – denkbar schlecht. Im Nu waren die meist kinderreichen Familien total verarmt.

In den östlichen Vororten Münchens blieben die Lebensumstände noch lange besonders prekär. Dort hausten die zugewanderten Menschen in selbstgebauten, oft baufälligen Herbergen aus Holz, die nur im nostalgischen Rückblick als Idylle empfunden werden. Mehrere Familien waren mit den vielen Kindern in winzige Räume gepfercht. Die hygienischen Zustände waren erbärmlich, die zwischenmenschlichen verheerend. Viele Männer verbrachten die arbeitsfreie Zeit im Wirtshaus oder unter den Isarbrücken. Razzien der Polizei und der Seuchenpolizei änderten wenig.

„Von dieser östlichen Anhöhe herab erscheinen die älteren Gebäude und Ansiedeleien der Au wie ein ungestalteter Haufen ärmlicher Hütten, welche der absichtsloseste Zufall, ohne Plan und Zweck, herabgeschüttet und in ihren Stellen und Gestalten gleichwohl dem guten Glück überlassen hat.“

Aus: „Topographie und Statistik des Kgl. Bayer. Landgerichtes Au“

Bis 1835 bereits war die Bevölkerungszahl in der Au auf über 10 000 gewachsen. Davon waren – nach amtlicher Statistik – tausend arbeitslos, 500 erwerbsbeschränkt und knapp 400 erwerbsfähig. Die übrigen Männer verdingten sich als Tagelöhner bei Handwerkern, als Fuhrknechte und zunehmend als Bauhilfsarbeiter. In der Landwirtschaft bekam ein Tagelöhner 94 Pfennige auf die Hand gezählt. Entlassungen – mit schnell drohender Verelendung – waren an der Tagesordnung.

Mädchen und Frauen bemühten sich indes um eine Stellung bei einer „Herrschaft“ in der Stadt. Für Dienstboten galten strenge Vorschriften. Gegenüber dem Dienstherrn mussten sie ehrerbietig und gehorsam sein, mit Fleiß und Gewissenhaftigkeit mussten sie ihre Aufgaben erfüllen. Verboten war beispielsweise, ohne Zustimmung des Dienstherrn an Sonn- oder Feiertagen auszugehen. Die Bestrafung war Bestandteil im „Arbeitsrecht“ – bei Aufsässigkeit drohte ein Jahr Arbeitshaus. Und niemand durfte sich „erkühnen“, mehr als den „gewöhnlichen billigen Lohn, und etwa wohl herkömmliche Naturalien“ zu fordern.

Die Behörden taten, was sie konnten. Allerdings waren für die Mittellosen im Großraum München grundsätzlich deren Heimatgemeinden zuständig, und die waren damit meist finanziell überfordert. So gab es jahrelang Streit zwischen dem Magistrat und den (erst 1854 nach München eingemeindeten) Gemeinden rechts der Isar – bis der Haidhauser „Armenarzt“ Dr. Winterhalter eine lokale Armen- und Krankenversorgungsanstalt konzipierte. 1834 wurde sie anstelle eines auf „die Gant“ gekommenen (versteigerten) Kaffeehauses eröffnet. 216 „Individuen“ konnten hier versorgt und verarztet werden. Wer verdiente, musste monatlich zehn Kreuzer zahlen. Sonst sprang die Armenpflege ein.

Neue Arbeitsplätze in Manufakturen, in der Gastronomie, im Bauwesen und bei der privaten Eisenbahn, einer technischen Neuheit, machten immer mehr Bürger reich, andere jedoch immer ärmer, weil ihre kargen Einkommen mit den steigenden Preisen und Mieten nicht Schritt hielten. Damit begann ein Prozess, der heute noch oder wieder sichtbar ist: In der Gesellschaft öffnete sich eine Schere. Schon 1847 beklagte der Distriktsvorsteher Traugott Ertel eine „gegenwärtig über Hand nehmende Verarmung“. Zehn Jahre später erkannte auch der weitblickende Bürgermeister Jakob Bauer „eine bei weitem größere Zahl von Minderbemittelten wie dieses immer der Fall ist, wenn Reichtum in einer Stadt ansteigt“. Gleichzeitig mit dem neuen Reichtum wuchs also eine neue Armut, die man amtlich als „Pauperisierung“ bezeichnete.

Gefördert wurde diese noch durch zahlreiche Konkurse oder Zahlungsunfähigkeiten von Emporkömmlingen. Der Magistrat, der sich jahrelang zu hohen Investitionen für den bauwütigen König Ludwig I. genötigt sah, war außerstande, diese neue Armut allein mit städtischen Mitteln zu lindern. Einspringen mussten daher die wieder zugelassenen Klöster, wo Suppenküchen eingerichtet wurden, und wohlhabende Privatleute wie etwa die Freifrau von Hirsch-Gereuth, die einen Millionenbetrag für arme Wöchnerinnen spendierte, oder Michael von Poschinger mit einer großzügigen Spende für Arbeiter, Lungenkranke und Waisen. Letzte Hoffnung vieler verarmter Münchner waren die beiden Pfand- und Leihhäuser.

Die Öffentliche Hand bekam die Armut erst einigermaßen in den Griff, nachdem Bayern 1869 ein Armengesetz erlassen hatte, dessen Anwendung allerdings allein den Kommunen überlassen wurde. (Vorbild war die Industriestadt Elberfeld, wo der revolutionäre Fabrikantensohn Friedrich Engels wirkte.) Demnach konnte unterstützt werden, wer sich „das zur Erhaltung des Lebens oder der Gesundheit Unentbehrliche“ aus eigenen Mitteln und Kräften nicht verschaffen konnte. Der Betrag richtete sich nach der jeweiligen Bedürftigkeit, welche streng geprüft und notfalls ärztlich attestiert wurde. Der Wert sollte jedenfalls unter dem ortsüblichen Tageslohn eines Arbeiters liegen.

Das reichte weder zum Leben noch zum Sterben, wie der Volksmund lamentierte. Um mit einer solchen Unterstützung auszukommen, musste wirklich jeder Pfennig umgedreht werden. Sie betrug beispielsweise im Jahr 1878 genau 17 Pfennige pro Tag für einen 44-jährigen Blinden, ehemals Schlosser in Nymphenburg; im Ratskeller bekam er dafür immerhin eine Portion Kuttelfleisch mit Knödl. Aber in der städtischen Suppenküche kostete ein Teller voll ganze 20 Pfennig. Das Hauptnahrungsmittel waren Kartoffeln, die mit vier Pfennigen pro Kilo relativ billig waren.

Dabei war diese Art Armenhilfe mit rigorosen Bedingungen verbunden. Bargeld, Lebensmittel, Kleidung, Heizung oder ärztliche Versorgung gab es nur für Bürger mit Heimatrecht. Die strenge Kontrolle und Verteilung oblag angestellten Armenpflegern, die recht willkürlich verfahren konnten. Sie befragten etwa Nachbarn nach beobachteten Wirtshausbesuchen von Antragstellern. Viele Mittellose schämten sich und verzichteten gleich auf das städtische Almosen. Die Polizei veranstaltete Razzien, sogar an Klosterpforten, um „Missbrauch“ und „sicherheitsgefährdende Elemente“ zu ermitteln. Eifrig waren die Behörden bemüht, ortsfremde Arme abzuschieben, um sie nicht unterstützen zu müssen. Mit Stolz konnte einer der ersten Sozialreferenten feststellen, München habe im nationalen Vergleich die „billigste Armenpflege“. Man musste halt sparen, im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts stieg der Armenetat jährlich um vier bis fünf Prozent. Deshalb mussten private Vereine oder wohlhabende Bürger durch Spenden insgesamt mehr Geld aufbringen als die Stadt.

Als der Krankenhausarzt Dr. Karl Oppenheimer – oft waren es jüdische Mitbürger, die sich der Unterschicht wohltätig annahmen – nach mehrjährigen Untersuchungen feststellte, dass Kinder aus den Arbeiter- und Armenvierteln häufiger als andere unterernährt waren, führte die Stadt immerhin eine regelmäßige Schulspeisung ein. Und bald folgte auch eine Tuberkulosen-Fürsorge; man sprach von der „Proletarier-Krankheit Tbc“. Im Übrigen kümmerten sich vier städtische Spitäler um arme Bürger, sie hatten allerdings lange Wartelisten und waren ständig überfüllt. Die Miete für ein Bett im großen Schlafsaal und die Speisung musste der als arm anerkannte „Pfründner“ selbst zahlen, er bekam lediglich ein Tagegeld von zwölf Pfennigen.

Es musste etwas geschehen, da musste die Staatsführung eingreifen. Um den zunächst revolutionär eingestellten Sozialdemokraten den Wind aus den Segeln zu nehmen, initiierte Kanzler Otto von Bismarck ein Bündel von Sozialgesetzen, die im ganzen Reich gelten sollten. Das beeindruckende Werk, auf dem alle spätere Sozialpolitik aufbauen konnte, begann 1883 mit der Krankenversicherung, setzte sich 1884 fort mit dem Unfallversicherungsgesetz, führte 1889 zur Invalidenversicherung sowie zur Altersrente ab 70 und wurde 1911/13 gekrönt durch Hinterbliebenenrente und Angestelltenversicherung. Die eigentliche Armenpflege indes blieb weiterhin Sache der Kommunen. München führte sie 1885 durch eine Verordnung ein.

Am 7. August 1909 beschloss der Magistrat gegen zwei Stimmen eine Reorganisation der Armenpflege. Erstmals sollten nun – „angesichts der günstigen Erfahrungen besonders in außer-bayerischen Gemeinden“ – auch Frauen mitwirken. Finanziert wurde das Unterstützungsprogramm durch Erhöhung der Lustbarkeitssteuer. Im Folgejahr schlug der Ausgabe-Posten im Stadthaushalt mit genau 3 178 799 Mark zu Buche. Weil jedenfalls ein „unausgesetztes Wachsen der Armenlast“ zu verzeichnen war, blieb die Stadt wieder einmal auf Spenden von Privatleuten angewiesen. Den höchsten Betrag, nämlich 8182 Mark, gab der jüdische Justizrat Nathan Boscowitz. Die Kehrseite: Noch bis zur Revolution von 1918 musste jeder Bürger, der Armenunterstützung in Anspruch nahm, auf das Wahlrecht verzichten.

Offenbar funktionierte die Statistik schon mindestens so gut wie die organisierte Sozialarbeit. 1902 beispielsweise zählte man 23 dauerhaft unterstützte Kinder pro tausend Einwohner. Allein die „Obsorge für arme Kinder“ – in Form von Pflegesätzen, Erziehungsbeiträgen, Suppe und Brot, Kleidern und Schuhen, Lernmittel und Weihnachtsgeschenken – ließ sich die Stadt im Jahr 1900 über 260 000 Mark kosten und zehn Jahre später 603 000 Mark. Auch die Zuschüsse für Suppenanstalten haben sich in dieser „goldenen Ära des Prinzregenten“ in dessen Residenzstadt mehr als verdreifacht.