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Zum Buch

 

Kaiser Wilhelm II. hatte vier Schwestern und drei Brüder, die meist im Schatten ihres berühmten Bruders standen. Erstmals vereint dieser Band die bewegenden Einzelbiografien der Geschwister des letzten deutschen Kaisers und bietet dadurch ein ebenso spannendes wie vielfältiges Zeitpanorama.

Sigismund und Waldemar starben bereits im Kindesalter. Die Lebenswege des »Marineprinzen« Heinrich von Preußen, der Herzogin Charlotte von Sachsen-Meiningen, Prinzessin Victoria zu Schaumburg-Lippe bzw. Zoubkoff, Königin Sophie von Griechenland und Landgräfin Margarethe von Hessen, die beinahe Königin von Finnland geworden wäre, blieben hingegen zeitlebens eng mit jenem des Kaisers verbunden. Ihre sehr unterschiedlichen Schicksale ermöglichen somit auch einen facettenreichen Blick auf diesen umstrittenen Monarchen.

 

 

 

Zur Autorin

 

Barbara Beck,
Dr. phil., geb. 1961, studierte Geschichte, Kunstgeschichte und Volkskunde. Die freie Historikerin und Sachbuchautorin veröffentlichte zahlreiche Bücher und Beiträge zu historischen und kulturhistorischen Themen.

Barbara Beck

 

 

 

WILHELM II. UND SEINE GESCHWISTER

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag Friedrich Pustet
Regensburg

Impressum

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

 

eISBN 978-3-7917-6076-6 (epub)

© 2016 by Verlag Friedrich Pustet, Regensburg

eBook-Produktion: Friedrich Pustet, Regensburg

Umschlaggestaltung: Martin Veicht, Regensburg

 

Diese Publikation ist auch als Printprodukt erhältlich:

ISBN 978-3-7917-2750-9

 

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Vorwort

Die jüngeren Geschwister des letzten deutschen Kaisers Wilhelm II. sahen sich zeitlebens meist im Schatten ihres älteren Bruders, was nicht allein seiner Bedeutung als regierender Monarch eines machtvollen Reichs geschuldet war. Zu einem nicht ganz unwesentlichen Teil hängt dies mit der Tatsache zusammen, dass Wilhelm seit seiner Thronbesteigung im Jahr 1888 gleichzeitig auch das Familienoberhaupt des Hauses Hohenzollern war. Ihm kam damit eine sehr weitreichende Einflussnahme auf die Lebensgestaltung aller Angehörigen der Dynastie zu. Gemäß dem Hausgesetz konnte er „alle zur Erhaltung der Ruhe, Ehre, Ordnung und Wohlfahrt des königlichen Hauses dienlichen Maßregeln“ ergreifen. Entsprechend seiner selbstherrlichen Veranlagung machte Wilhelm von diesem Hoheitsrecht ausgiebig Gebrauch. Seine vielfachen Versuche, das Privatleben seiner Geschwister zu kontrollieren und zu lenken, um der Hohenzollernmonarchie unter dem Druck der neuen Zeitströmungen möglichst unangefochten ihren alten Glanz zu erhalten, lösten zahlreiche familiäre Kontroversen aus. Bedingt durch die nahe Verwandtschaft des Kaiserhauses mit vielen europäischen Herrscherfamilien wirkten sich diese Zwistigkeiten bis zu einem gewissen Grad auch auf die Beziehungen der Staaten untereinander aus, obwohl der Einfluss der Herrscherhäuser auf das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Geschehen im 20. Jahrhundert entgegen der Auffassung Wilhelms II. enorm an Relevanz verloren hatte.

Die Biografien der Geschwister Wilhelms II. waren allerdings nicht erst seit dem Regierungsantritt des Bruders eng mit dessen Lebensgeschichte verknüpft, sondern natürlich schon in den Jahrzehnten davor. Ihre eigene Kindheit und Jugend wurden seit seiner Abkehr von den Eltern ab der Mitte der 1870er Jahre von den dadurch hervorgerufenen Spannungen und Konflikten mit beeinflusst. Das Zerwürfnis innerhalb der Dynastie hinterließ politische und persönliche Spuren.

Von den insgesamt sieben Geschwistern Wilhelms II. erreichten nur fünf das Erwachsenenalter, da zwei Brüder, Sigismund und Waldemar, früh starben. Die Lebenswege der fünf anderen Geschwister umspannen die letzten Jahre vor der deutschen Reichseinigung, das Kaiserreich und die Weimarer Republik sowie im Fall Margarethes noch das Dritte Reich und die Anfangsjahre der Bundesrepublik Deutschland. Mit der Geburt der ältesten Schwester Charlotte im Jahr 1860 setzt die Zeitreise im engeren Sinne ein, die das vorliegende Buch unternimmt. Der Tod der jüngsten Schwester Margarethe im Jahr 1954 beendet sie. Dazwischen bildet der Erste Weltkrieg mit seinen Folgen eine tiefe Zäsur; denn er bringt den Untergang der Monarchie in Deutschland und damit den Verlust der vertrauten Lebenswelt der Geschwister. Zusätzlich mussten sie sich darein finden, dass die bis dahin sehr guten Beziehungen zu England und seinem Königshaus in ihrer ursprünglichen Form nicht mehr fortbestanden. Da die Geschwister durch familiäre Prägung sowie Erziehung allesamt anglophil eingestellt waren und Englisch für sie über weite Strecken die Umgangssprache darstellte, muss dies ebenfalls einschneidend gewirkt haben. Zum besseren Verständnis der Lebensgeschichte der Protagonisten dehnt sich diese Zeitreise im weiteren Sinne, wenn auch nur in verkürzter Form, noch auf die Lebensgeschichte der Eltern und der Nachkommen aus.

Die fünf erwachsen gewordenen Geschwister Wilhelms II. – Charlotte, Heinrich, Victoria, Sophie und Margarethe – meisterten ihr Schicksal auf unterschiedliche Art und Weise, so dass sich ihre jeweiligen Viten zu einem schillernden Panorama einer vergangenen Epoche zusammenfügen lassen. Das Bindeglied verkörpert dabei in verschieden starker Ausprägung der letzte Hohenzollernkaiser. In allen fünf Biografien spiegelt sich die bis heute immer wieder aktuelle problematische Verquickung von staatlichen und privaten Interessen. Zwar versprach ihnen ihre elitäre Geburt scheinbar ein Leben in Glanz und Gloria, doch ein kritischer Blick hinter die Kulissen korrigiert, wie so häufig, den ersten Eindruck.

DIE KAISERLICHEN ELTERN – FRIEDRICH III. UND VICTORIA

Das Elternhaus, in das Wilhelm II. und seine jüngeren Geschwister hineingeboren wurden, galt als ausgesprochen harmonisch. Der 99-Tage-Kaiser Friedrich III. und die Princess Royal Victoria führten eine der wenigen wirklich glücklichen Ehen im europäischen Hochadel des 19. Jahrhunderts. Obwohl es sich bei diesem Bund um eine von langer Hand geplante Heirat handelte, verband den Hohenzollernprinzen und die britische Königstochter tiefe Zuneigung und Liebe, was sich auch positiv auf ihr Familienleben auswirkte.

Ein adeliges Traumpaar

Prinz Friedrich Wilhelm von Preußen, der spätere deutsche Kaiser Friedrich III., erlebte im Gegensatz zu seinen eigenen Kindern keine so liebevolle Kindheit. Er wurde am 18. Oktober 1831 als einziger Sohn des Prinzen Wilhelm von Preußen und der Prinzessin Augusta von Sachsen-Weimar-Eisenach in Potsdam geboren. In der bloß aus dynastischen Rücksichten geschlossenen, nicht sehr guten Ehe seiner Eltern trafen zwei völlig konträre Charaktere aufeinander, die keine gemeinsame Basis fanden und es daher später vorzogen, möglichst getrennt voneinander zu leben. Der Prinz wuchs in relativer Distanz zu den Eltern auf, denen er oft nur als Folie diente, vor der sie ihre Animositäten ausfochten. Während seine Mutter liberalen Ideen anhing, vertrat sein Vater erzkonservative Ansichten. Als ältester Neffe des kinderlosen preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. stand Prinz Friedrich Wilhelm seit 1840 an zweiter Stelle der Thronfolge in Preußen. Neben der für einen Prinzen typischen militärischen Erziehung erhielt er an der Bonner Universität eine bürgerlich-liberal angehauchte Ausbildung auf rechts- und staatswissenschaftlichem sowie historischem Gebiet. Er war damit der erste preußische Thronfolger, der eine akademische Schulung vermittelt bekam. Anlässlich der Eröffnung der Weltausstellung in London im Frühjahr 1851 begegneten sich der 19 Jahre alte Prinz und die noch nicht elf Jahre alte englische Prinzessin Victoria zum ersten Mal. Das ungewöhnlich intelligente Mädchen hinterließ offenbar bereits damals schon einen positiven Eindruck bei ihm.

Prinzessin Victoria war am 21. November 1840 im Londoner Buckingham Palast als ältestes Kind der britischen Königin Victoria und des Prinzen Albert von Sachsen-Coburg und Gotha zur Welt gekommen. Im Gegensatz zu dem preußischen Prinzen wuchs die Princess Royal in einer fast bürgerlich anmutenden und wesentlich herzlicheren familiären Atmosphäre auf. Das äußerst aufgeweckte und lernbegierige Kind entwickelte sich zum Liebling seines Vaters, der es nach Kräften förderte und für eine umfassende Bildung sorgte. Ihre Erziehung zielte darauf ab, sie zu selbstständigem Denken und Urteilen anzuleiten. Vicky war nicht nur das klügste Kind unter den neun Königskindern, sondern ähnelte wohl auch, was Begabung, Intellekt und Fleiß betraf, am meisten ihrem Vater.

Prinz Friedrich Wilhelm war mit der Princess Royal in brieflichem Kontakt geblieben. Als der gut aussehende Hohenzoller vier Jahre später erneut nach Großbritannien kam, zeigte er sich sehr angetan von der charmanten Prinzessin: „Ohne eine Schönheit in ihr zu finden, bietet sich bei ihrem Ausdruck und anmutigen Zügen ein so angenehmes Gemisch von Kindlichkeit und jungfräulicher Anmut, wie ich’s gern habe. Und das kann ich sagen, daß Gemüt und Verstand reichlich in ihr wohnen und Interesse für Kunst und Literatur, namentlich Deutschlands, sie lebhaft erfüllt.“ Zur Freude beider miteinander befreundeter Elternpaare, die schon frühzeitig an eine mögliche Heirat ihrer beiden ältesten Kinder gedacht und dieses Projekt gefördert hatten, fassten der Prinz und die junge Prinzessin bei diesem Besuch auf Schloss Balmoral eine tiefe Zuneigung zueinander und verlobten sich ‚inoffiziell‘. Glücklich bekannte Friedrich Wilhelm: „Ich empfinde eine Seligkeit, die ich nie gekannt“. Bei den beiden gingen gegenseitige Liebe, dynastische Interessen und politische Überlegungen eine nahezu ideal anmutende Verbindung ein. Victorias Eltern sahen in dem preußischen Prinzen, wie die Queen gestand, einen vortrefflichen jungen Mann, „dem wir unser liebes Kind mit vollem Vertrauen geben können. Was uns so sehr an ihm gefällt, ist, daß er wirklich von Vicky entzückt ist“.

Vor allem Prinzgemahl Albert erhoffte sich viel von dieser Heirat. Er glaubte über seine Lieblingstochter Preußen im liberalen und konstitutionellen Sinne beeinflussen zu können, so dass eine Einigung Deutschlands unter dessen Führung im fortschrittlichen Sinne möglich würde. Dieses Deutschland sollte dann zum bedeutendsten Verbündeten Großbritanniens werden. Er wies deshalb seine wissbegierige Älteste gründlich in den sogenannten Coburger Plan ein, der vorsah, aus Preußen eine konstitutionelle Monarchie nach britischem Muster zu machen. Im Grunde wurde der jugendlichen Prinzessin mit diesem großangelegten Plan viel zu viel zugemutet. Sie wurde außerdem von ihrem Vater nicht in ausreichendem Maß auf die politischen Realitäten in Preußen vorbereitet, die vielfach in diametralem Widerspruch zu den bisherigen Lebenserfahrungen Vickys standen. Gerade was die Stellung von Monarch und Parlament betraf, bestanden zwischen Großbritannien und Preußen erhebliche Unterschiede. Der Prinzgemahl hatte seiner Tochter ein wohl zu romantisches Deutschlandbild vermittelt, wie er es sich in seiner Erinnerung bewahrt hatte. Später bekannte Victoria: „Als junges Mädchen dachte ich immer, Deutschland wäre erfüllt und durchdrungen von allen Idealen und Talenten, es brauche nur der Regierungsdruck zu weichen und alles Schöne und Edle werde erblühen“.

Am 25. Januar 1858 wurde in London Hochzeit gefeiert. Dass die Vermählung von Friedrich Wilhelm und Victoria in der britischen Hauptstadt stattfand, war zunächst auf Widerstand beim Berliner Hof gestoßen, da es bei den preußischen Prinzen Tradition war, dass deren Hochzeiten in Berlin ausgerichtet wurden. Gerade die Heirat des Thronfolgers hätte man lieber auf preußischem Boden gefeiert. Die Queen ließ in diesem Punkt aber nicht mit sich diskutieren: „Was immer bei preußischen Prinzen üblich und Sitte sein mag, es kommt nicht jeden Tag vor, daß man die älteste Tochter der Königin von England …heiratet. Und damit Schluß.“

Englische Ideen und preußische Gesinnungen

Die Ehe des Prinzenpaares entwickelte sich nicht nur zu einer ungewöhnlich glücklichen Verbindung, wie es die Mehrzahl der fürstlichen Ehepaare ihrer Zeit nicht kannte, sondern es handelte sich darüber hinaus auch um eine Beziehung, in der Gleichberechtigung herrschte, was damals ebenfalls nicht unbedingt verbreitet war. 1864 bezeichnete Friedrich Wilhelm seine Frau als „mein anderes Ich“. Der große Konsens, der zwischen den Eheleuten bestand, kam auch in einem Brief des Kronprinzen aus dem Jahr 1886 zum Tragen: „Was mich bei unseren Briefen ganz besonders freut ist die Thatsache, daß wir uns täglich auf denselben Gedanken begegnen und uns die Worte aus dem Munde nehmen.“

Diese Gleichgestimmtheit wurde vom höfischen Umfeld durchaus kritisch gesehen, da es aufmerksamen Beobachtern nicht entging, dass in dieser fürstlichen Ehe der dominierende Part an die intelligente und eloquente Victoria fiel. Der äußerlich so imponierend-heroisch wirkende Friedrich Wilhelm war im Grunde ein eher schwacher Mensch, der leicht zu beeinflussen war. Gräfin Walburga von Hohenthal, spätere Lady Paget, die in Victorias Anfangszeit in Berlin als ihre Hofdame fungierte, hielt in ihren Erinnerungen dazu fest: „Obwohl er zehn Jahre älter war als die Prinzessin, war leicht vorauszusehen, wer die Zügel in die Hand nehmen würde.“ Der Victoria gegenüber feindselig eingestellte Graf von Waldersee beklagte im Sommer 1884 wortreich diese Tatsache: „Die geistige Überlegenheit seiner Gemahlin ist zu einem großen Unglück geworden. Aus einem einfachen, braven und ehrlichen Prinzen gut preußischer Gesinnung hat sie einen schwachen Mann gemacht, der sich selbst nichts zutraut, der nicht mehr offen und ehrlich ist, der nicht mehr preußisch denkt. Sogar seinen festen Glauben hat sie ihm genommen. Der Prinz hat faktisch keine eigene Meinung mehr; er hört auf jeden und gibt immer dem letzten recht.“ Dass Victoria die stärkere Persönlichkeit war, kommt auch in den Memoiren Wilhelms II. bei seiner Schilderung der Charaktere seiner Eltern zum Tragen. Sein Vater war seines Erachtens „persönlich unendlich gütig, ja, fast zart und weich zu nennen“. Wilhelm wies aber darauf hin, dass „er freilich auch recht autoritär veranlagt und nicht immer geneigt“ war, „Widerspruch ruhig hinzunehmen“. Ausführlicher ging er auf seine Mutter ein, die eine „weit kompliziertere Natur als mein Vater war“. Sie sei „sehr klug, sehr scharfsinnig, nicht ohne Sinn für Humor, mit einem ungewöhnlich guten Gedächtnis ausgestattet“ gewesen. Wilhelm attestierte ihr „unbeugsame Energie, große Leidenschaftlichkeit und Impulsivität, sowie Neigung zu Debatte und Widerspruch; eine heiße Liebe zur Macht kann ihr nicht abgesprochen werden.“

Die von Anfang an schwierige Position, mit der die Princess Royal bis zu ihrem Lebensende am Berliner Königshof zu kämpfen hatte, wird ausgesprochen deutlich in den prophetischen Worten des preußischen Gesandten Otto von Bismarck aus dem Jahr 1858: „Gelingt es daher der Prinzessin, die Engländerin zu Hause zu lassen und Preußin zu werden, so wird dies ein Segen für das Land sein. Fürstliche Heirathen geben im allgemeinen dem Hause, aus welchem die Braut kommt, Einfluß in dem andern, in welches sie tritt; nicht umgekehrt. … Bleibt also unsere künftige Königin auf dem preußischen Throne auch nur einigermaßen Engländerin, so sehe ich unseren Hof von Englischen Einflußbestrebungen umgeben“.

Als Victoria nach Berlin kam, erschien ihr hier vieles als absolut rückständig. Schon die Schlösser machten einen altertümlichen Eindruck auf sie. Jahrzehnte später zeichnete sie gegenüber ihrer Tochter Sophie ein trostloses Bild von den Zuständen bei ihrer Ankunft. Berlin glich damals „einer schrecklichen Höhle“. Ob die Situation wirklich dermaßen unerfreulich war, wie sie sie schilderte, mag dahingestellt sein, aber beispielsweise moderne sanitäre Einrichtungen gab es zu jener Zeit nicht: „Kein Abfluß, furchtbares Pflaster, übler Geruch. In den ersten Jahren hatte ich kein WC, kein Bad, auch kein Wasser, wie ich es haben wollte; ich hatte keine Schränke für meine Kleider, meine Sachen mußten in den Koffern bleiben. Die Diener empörten mich durch ihre Unredlichkeit und ihre Impertinenz, ihre groben, unsauberen Manieren und ihren Ungehorsam. […] Jeder Tropfen Wasser für das Bad und die Küche usw. mußte von Soldaten herbeigeschleppt werden –, ein Bataillon von Männern.“

Antiquiert wirkten nicht nur die Schlösser auf sie, sondern auch die höfische Gesellschaft und die preußische Aristokratie generell. Sie kamen Victoria entsetzlich steif, borniert und engstirnig vor. Ihre ständigen Vergleiche mit den britischen Verhältnissen, die immer zum Nachteil der neuen Heimat ausfielen, schufen ihr selbstverständlich keine Freunde. Die selbstbewusst auftretende Victoria, die zu allem eine dezidierte Meinung vertrat und als scharfsinnige Beobachterin nicht mit Tadel an den Zuständen in Preußen sparte, stieß daher bald auf breite Ablehnung. Kritisch stellte 1862 Charlotte Duncker, die Ehefrau des Historikers und Politikers Maximilian Duncker, fest: „Die Kronprinzessin hat ihren eigenen Willen; ihre Ansichten und Entschlüsse werden schnell gefasst – sind sie aber einmal gefasst, so kann man nichts mehr dagegen machen.“ Ähnlich urteilte Victorias Hofdame Gräfin von Hohenthal: „Menschenkenntnis besaß sie nicht und erwarb sie auch später nicht, denn sie sah nur ihren eigenen Standpunkt, eine Eigenschaft, die bei starken, entschlußfreudigen Charakteren sehr häufig zu beobachten ist.“ Trotz ihrer großen Intelligenz mangelte es Victoria also an diplomatischem Geschick und Einfühlungsvermögen. Nicht bereit, sich stillschweigend unterzuordnen, entsprach sie so gar nicht dem damals gewünschten Idealbild sanft duldender Weiblichkeit. Doch dass sich eine Frau jeglicher aktiven Beteiligung an politischen Belangen zu enthalten habe, wollte sie für sich nicht akzeptieren. Sie weigerte sich, die Stellung einzunehmen, „welche am Berliner Hof für eine Prinzessin allein recht und passend gefunden wird“. Ironisch vermerkte sie, dass sich der preußische Hof die vollkommene Frau als „eine Türkin in einem Harem“ vorstelle. Im Grunde lebte sie sich niemals wirklich in Preußen bzw. Deutschland ein, für sie blieb stets England ‚Heimat‘ und Orientierungspunkt. Für die politischen Realitäten in Berlin erwies sie sich als völlig unsensibel.

Wegen der tonangebenden Position Victorias in der Familie des Kronprinzen entstand bereits früh die Sorge, dass sich dies negativ auf ihre Kinder auswirken könnte. Diese Stimmungslage entging der Kronprinzessin nicht. „Unsere Kinder“, beklagte sich Victoria bei ihrer Mutter im August 1867, „werden allgemein ob des großen Mißgeschicks bedauert, mich mit meinen ‚unglücklichen englischen Ideen und unpreußischen Gesinnungen‘ zur Mutter zu haben. Die Leute glauben, sie könnten nicht gut geraten. Ich habe mich schon so daran gewöhnt, das zu hören, daß ich mir aus diesem blödsinnigen Quatsch nichts mehr mache. Ich will nur, daß meine Kinder aufwachsen gleich meinem Fritz, meinem Vater, gleich Dir und so unähnlich als möglich dem Rest der königlich-preußischen Familie. Dann können sie gute Patrioten und ihrem Lande – sei es Preußen oder Deutschland – überhaupt nützlich sein.“

Die politische Rolle des Kronprinzenpaares

Nach dem Tod König Friedrich Wilhelms IV. im Januar 1861 bestieg Victorias Schwiegervater als König Wilhelm I. den preußischen Thron. Im Laufe der kommenden Jahre entwickelte sich das Kronprinzenpaar Friedrich Wilhelm und Victoria zur Hoffnung der Liberalen, die von ihnen eine andere Innenpolitik erwarteten als sie unter Wilhelm I. und dessen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck praktiziert wurde. Der Kronprinz füllte die ihm zugedachte Oppositionsrolle nicht immer sehr überzeugend aus und reagierte meistens unentschlossen. Die Kronprinzessin musste im Dezember 1861 den Tod ihres geliebten und bewunderten Vaters verkraften, der für sie zugleich den Verlust ihres politischen Mentors bedeutete. Victoria versuchte ihrem Mann dennoch in den politischen Differenzen den Rücken zu stärken. Ihrer Mutter gegenüber bekannte sie im Juli 1863: „Der Gedanke, mich mit Intrigen in Politik mischen zu sollen, ist mir sehr unangenehm, denn dies ist ja nicht Sache einer Frau. Ich möchte gerne alle Parteien versöhnen und vor allem mit der ganzen Umgebung in Frieden leben und ich glaube, ich könnte das erreichen, wenn ich keine eigene Meinung hätte. Aber ich wäre keine freigeborene Engländerin und nicht Dein Kind, wenn ich nicht all diese Dinge als nebensächlichere Erwägungen beiseite setzte. Ich bin sehr ehrgeizig für mein Land, für Fritz und die Kinder, und so bin ich entschlossen, allem kühn zu begegnen.“

Kronprinz Friedrich Wilhelm, der zwar Krieg und speziell Schlachtfelder als grauenvoll empfand, konnte sich im Deutsch-Dänischen Krieg (1864), im sogenannten Deutschen Krieg gegen Österreich und dessen deutsche Verbündete (1866) sowie im Krieg gegen Frankreich (1870/71) militärisch auszeichnen. Er galt seitdem als Kriegsheld, was ihm politisch nur wenig nützte. Wegen seiner langen Kronprinzenzeit – sein Vater Kaiser Wilhelm I. wurde fast 91 Jahre alt – blieben ihm politische Machtbefugnisse weitgehend verwehrt. Dies zermürbte den frustrierten Kronprinzen zusehends, der sich auf repräsentative Aufgaben beschränkt sah.

Als sich Friedrich Wilhelm 1862 während der Verfassungskrise in Preußen die einzige Chance bot, seinen damals abdankungswilligen Vater auf dem Thron vorzeitig zu beerben, scheute er vor diesem Schritt zurück und ebnete damit Bismarck den Weg zur Macht. Er wurde nun von Wilhelm I. zum preußischen Ministerpräsidenten ernannt. Ob sich Friedrich Wilhelm, wenn er die Gelegenheit beim Schopfe gepackt hätte, gegen das starke konservative Establishment in Preußen hätte durchsetzen können, ist allerdings fraglich, fehlten diesem Hohenzoller doch die dafür notwendige Härte sowie der zupackende Kämpferwille. Er besaß weder eine ausgesprochene Neigung zum Herrschen noch verfügte er über das erforderliche Stehvermögen. Sein englischer Schwager Edward stellte später nicht zu Unrecht fest: „Wenn er einen Fehler hatte, war es dieser: er war zu gut für diese Welt.“ Kronprinzessin Victoria, die sich nicht an dem von ihrem Ehemann als illegitim empfundenen Thronwechselangebot störte, hatte hingegen erkannt, dass sich Friedrich Wilhelm hier eine einmalige Möglichkeit eröffnete. Sie sollte mit ihrer Prophezeiung Recht behalten: „Wenn Du es nicht annimmst, glaube ich, dass Du es einst bereuen wirst.“

Nachdem der Kronprinz 1863 öffentlich die neue ‚Pressordonanz‘ kritisiert hatte, verstand es Bismarck, den Kronprinzen sowohl weitgehend von den Regierungsgeschäften als auch gleichzeitig von den liberalen Kreisen fernzuhalten. Friedrich Wilhelm sah sich in den kommenden Jahrzehnten politisch nahezu vollständig kaltgestellt. Düster konstatierte er an seinem 50. Geburtstag 1881: „Ich altere fühlbar, u. hätte ich nicht Frau u. Kinder als mein Alles – längst wünschte ich aus der Welt zu scheiden.“ Durch die Entfremdung von seinem Vater und Bismarck dehnte sich für ihn der Zustand der Isolation und Machtlosigkeit quälend lange aus. Seit 1878 setzten sich bei ihm eine tiefe Resignation und ein fortwährender Pessimismus fest.

Gemeinsam mit seiner Frau konnte sich Friedrich Wilhelm vor allem als Förderer der Künste und Wissenschaften profilieren. In erster Linie geht das Kunstgewerbemuseum in Berlin auf die Initiative und die Fürsprachen des Kronprinzenpaares zurück. Victoria war selbst eine begabte Künstlerin. Sie schuf u. a. sehr ansprechende Porträtgemälde ihrer Kinder, wobei sie dem naturalistischen Malstil des von ihr geschätzten Porträtisten Heinrich von Angeli folgte. Mit ihren drei ältesten Kindern nahm sie im Winter 1873/74 an den Elementar- und Ornamentzeichenkursen des Kunstgewerbemuseums teil. Die intensive Beschäftigung mit Kunst bot der Kronprinzessin jene Erfüllung, die ihr auf politischem und teilweise auch auf sozialem Gebiet versagt blieb. Wilhelm I. brachte für die künstlerischen Ambitionen seiner Schwiegertochter kein großes Verständnis auf. Gegenüber Paula von Bülow bemerkte er missfallend, dass er „eine Malerin zur Schwiegertochter“ habe, „sie vergißt ganz, daß sie auch Pflichten hat“. Victoria engagierte sich darüber hinaus stark für das Sozialwesen und die Frauenbildung und -erwerbstätigkeit. Besondere Aufmerksamkeit schenkte sie dabei der Verbesserung der Krankenpflege.

Familienleben

Aus der Ehe von Friedrich Wilhelm und Victoria stammten insgesamt acht Kinder: vier Söhne und vier Töchter. Sechs der Kinder erreichten das Erwachsenenalter. Begeistert widmete sich die Prinzessin ihrer Aufgabe als Mutter. Generell vergötterte sie kleine Kinder und konnte offenbar nicht genug von ihnen bekommen. Im Juni 1866 schrieb sie etwa an ihren Mann, dass sie erwarte, „alle 2 Jahre ein liebes Baby an der Brust zu haben“. Zwei Jahre später bearbeitete sie den Prinzen erneut: „Bitte Manni, noch viele kleine liebe Dinger“. Entgegen den Gepflogenheiten für Frauen ihres Standes, die sich diesem ‚tierischen Verhalten‘ üblicherweise nicht unterwarfen, pochte Victoria darauf, ihre Kinder selbst stillen zu können. „Was sind alle Schmerzen der Geburt gegen das Glück“, verkündete sie, „so ein geliebtes kleines Wesen zu besitzen und selbst zu stillen.“ Mit diesem dringlichen Anliegen konnte sich die Kronprinzessin erst beim vierten Kind durchsetzen. Zuvor wurde am Berliner Hof darauf bestanden, dass die ersten drei Kinder des Thronfolgers nach guter alter Sitte durch Ammen versorgt wurden.

Die große Begeisterung Victorias für Säuglinge und Kleinkinder hatte allerdings auch ihre Schattenseiten. Ihre Hofdame Gräfin Walburga von Hohenthal hielt in ihren Memoiren dazu kritisch fest: „Diese sollten im Babyalter bleiben. Solange sie noch ganz klein waren, liebte sie sie leidenschaftlich, als befürchte sie, daß man sie ihr wegnehmen würde.“ Missbilligend äußerte sich auch der badische Großherzog Friedrich I. im Frühjahr 1872 über das Verhalten seiner Schwägerin Victoria gegenüber ihren Kindern: „Die Kronprinzessin ist übrigens fast ausschließlich besonders mit ihren jüngeren Kindern beschäftigt […]. Die Erziehung der Kinder geschieht für die drei Ältesten durch Hinzpeter und Fräulein d’Arcourt – die jüngeren Kinder werden einstweilen nur verzogen.“ Dass Victoria sehr dazu neigte, ihre Liebe stets auf das jeweils jüngst geborene Kind zu konzentrieren, während die älteren Geschwister entsprechend weniger Aufmerksamkeit genossen, hatte problematische Konsequenzen. Die preußischen Großeltern interessierten sich nämlich wesentlich mehr für ihre drei älteren Enkelkinder als für die in ihren Augen offenbar unwichtigeren jüngeren Enkel, woraus sich natürlicherweise eine stärkere Fixierung von Wilhelm, Charlotte und Heinrich auf Wilhelm I. und Augusta entwickelte. Dies sollte sich in den späteren Familienquerelen zum Nachteil von Victoria und Friedrich Wilhelm auswirken.

Politisch ohne nennenswerten Einfluss konnte sich das Kronprinzenpaar ein intaktes Familienleben aufbauen. Beide Ehepartner liebten kleine Kinder und befassten sich gerne mit ihnen. Auf den Schriftsteller Gustav zu Putlitz etwa machte 1864 das familiäre Zusammenleben im Hause von Friedrich Wilhelm und Victoria den besten Eindruck: „Die ganze Erziehung erscheint mir von allen Seiten sehr vernünftig, und der Erfolg beweist das, denn die Kinder sind ganz natürlich, gehorsam, frisch und wohlgehalten“. Er empfand die Atmosphäre als ausgesprochen harmonisch. „Es war wirklich allerliebst, dieses ungenierte Zusammensein und die Freude an dem so wahrhaft netten, glücklichen Verhältniß.“ Regelmäßig reiste das Kronprinzenpaar mit seinen Kindern zu Besuchen nach England. Die Queen zeigte an ihren preußischen Enkeln immer großes Interesse. „Jede Kleinigkeit war ihr bekannt“, entsann sich ihre Enkelin Victoria, „wir Kinder waren daher stets glücklich, sie besuchen zu können, und England wurde infolgedessen ebenso unser zweites Vaterland wie Englisch unsere zweite Muttersprache.“ Dass die Eltern ihre Kinder zu gemeinsamen Urlaubstagen mit ins Gebirge oder an die See nahmen, entsprach überhaupt nicht den Gepflogenheiten am Berliner Hof. Die Schriftstellerin Marie von Bunsen, die in ihrer Kindheit öfter mit den Kaiserkindern zusammenkam, hob in ihren Erinnerungen trotzdem eigens hervor, dass die Prinzen und Prinzessinnen damals nicht mehr verwöhnt wurden, „als dies bei Kindern reicher Häuser der Fall ist, und Sparsamkeit wurde ihnen nahegelegt.“

Als Stadtwohnung und Winterresidenz nutzten Friedrich Wilhelm und Victoria das Berliner Kronprinzenpalais an der Straße Unter den Linden. Größere Bedeutsamkeit besaß für die Kronprinzenfamilie jedoch das Neue Palais zu Potsdam, das als Sommerresidenz diente. Für Friedrich Wilhelm hatte es als seine Geburtsstätte immer besondere Bedeutung gehabt. Üblicherweise bewohnte es die Familie von April bis November. Es galt als das eigentliche Heim der Familie, das hauptsächlich dank der großzügigen Mitgift Victorias nach den eigenen Bedürfnissen umgestaltet und modernisiert werden konnte. Hier genossen die Kinder mehr Freiheit. Victoria ließ beim Neuen Palais einen kleinen Garten für ihre Familie anlegen, der den Vorteil hatte, dass die Kinder hier unbeobachtet spielen und toben konnten. Die Familie führte in Potsdam ein fast bürgerliches Privatleben abseits vom steifen Berliner Hof. Von hier aus wurde gerne das nahe gelegene Krongut Bornstedt besucht, das dem Prinzenpaar seit 1867 zur Verfügung stand und das die Kronprinzessin nach englischem Vorbild zu einem Mustergut umfunktionierte. Ihre Tochter Victoria erinnerte sich später: „Das Gut lieferte uns genug Butter und Milch für den Haushalt; die Geflügelfarm bildete für uns Kinder stets eine Quelle des Entzückens, und oft fütterten wir mit Mama die Küken und die Tauben, die in Scharen umherflogen.“ Das Dorf profitierte von dem Interesse des Kronprinzenpaares: Die Kirche wurde ausgebaut und verbessert, eine Schule und ein Kindergarten entstanden. Fern vom Berliner Hof konnte sich die Kronprinzenfamilie hier dem scheinbar unbeschwerten Leben von Landedelleuten widmen. Die Kinder konnten aus ihrer höfischen Umgebung ausbrechen und mit der Dorfjugend spielen: „Im Juni veranstalteten meine Eltern gewöhnlich ein Fest für die Schulkinder der Nachbarschaft, besonders für die Bornstedter, das immer sehr lustig verlief. Tische wurden auf dem Rasen hinter dem Rosengarten aufgeschlagen, um die herum die Kinder Platz nahmen; dann gab es Kaffee und ungezählte Mengen Kuchen, die wir nicht nur auftragen, sondern auch backen halfen. Nach der Mahlzeit erfreuten wir uns an den verschiedensten Spielen: eine eingefettete Stange, an deren Spitze alle möglichen schönen Dinge, wie Messer, Pfeifen usw. hingen, mußte erklettert werden, es gab Sacklaufen und andere Belustigungen. Mein Vater war fröhlich mit den Kindern, gütig und teilnahmsvoll interessierte er sich für alles, was vor sich ging […]. Stets erwarteten wir diesen Tag mit größter Freude und amüsierten uns ebenso gut wie unsere Gäste.“ Die ganze idyllische Szenerie, wie sie die spätere Prinzessin zu Schaumburg-Lippe in ihren Memoiren schildert, erinnert an das einstige Familienleben von König Friedrich Wilhelm III. und der legendären Königin Luise, den Großeltern des Kronprinzen, in Schloss Paretz. Diese Parallele war sicherlich auch für die Öffentlichkeit erwünscht.

Schwierig für das Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern wirkte es sich aus, dass die Verfügung über grundlegende Dinge wie die Einstellung von Lehrern, die Gestaltung der Ferien und Reisen etc. nicht dem Prinzenpaar zustand, sondern die letzte Entscheidungsgewalt König bzw. Kaiser Wilhelm I. oblag. Der herrisch veranlagte Monarch kontrollierte seine Angehörigen streng und unterwarf sie genauen Verhaltensvorschriften. Die großväterliche Bevormundung und Einmischung minderte stark die Einflussmöglichkeiten der Eltern. Kronprinzessin Victoria konstatierte daher im Sommer 1864 verärgert, dass ihre Kinder geradezu „öffentlicher Besitz“ waren. Gegenüber ihrer Mutter klagte Victoria zwölf Jahre später über ihren Schwiegervater: „Er ist leider sehr autokratisch und tyrannisch und sehr dickköpfig in diesen Angelegenheiten, und Fritz nimmt es sich schrecklich zu Herzen und es macht ihn sehr verbittert und verzweifelt und regt ihn sehr auf.“ Dass dieses ‚Hineinregieren‘ Wilhelms I. in die Familie seines Sohnes auf die Dauer gesehen für die Eltern-Kind-Beziehung nicht eben zuträglich war, stellte später auch die zweite Frau Wilhelms II., ‚Kaiserin‘ Hermine, fest: „Der alte Kaiser […] war das Haupt des Hauses. Und der alte Kaiser gab die Anweisungen! Alle Mitglieder der kaiserlichen Familie mußten ihn sich geneigt machen, um finanzielle Unterstützung zu erhalten. Die kaiserliche Autorität des Großvaters, die in jeder Hinsicht die natürliche Autorität des Vaters unterlief, hat die Schwierigkeiten noch verstärkt, die zwischen Friedrich und seinem Sohn unter diesen Voraussetzungen entstanden. Und Außenstehende haben vorsätzlich das Wasser getrübt, um darin zu ihrem eigenen Vorteil fischen zu können …“

Familiäre Konflikte

Ab Mitte der 1870er Jahre verschlechterte sich das Verhältnis des Kronprinzenpaares zu seinem ältesten Sohn Wilhelm. Vor allem zwischen Victoria und Wilhelm nahmen die Differenzen zu. Die Beziehung der beiden war von Anfang an problematisch gewesen. Im Grunde konnte sie sich nie mit der körperlichen Behinderung ihres Erstgeborenen abfinden. Die auf die schwierige Geburt zurückgehende Verkürzung seines linken Arms empfand die nach Perfektion strebende Victoria als Makel. Möglicherweise hatten auch Wilhelms Reizüberempfindlichkeit und Hyperaktivität ihre Ursache in der durch die komplizierte Geburt verursachten mangelnden Versorgung des Gehirns mit Sauerstoff. Als Erwachsener schloss sich der Prinz, der von den Zielvorstellungen insbesondere seiner Mutter überfordert war, zum tiefen Unbehagen seiner Eltern dem stockkonservativen Kreis um seinen Großvater Wilhelm I. an und entwickelte eine große Begabung darin, diesen gegen seine Eltern auszuspielen. Bismarck, zu dem gerade Victoria in offener Opposition stand, wusste dies zu nutzen. Herbert von Bismarck, der Sohn des Reichskanzlers, sah sehr richtig in der Ähnlichkeit von Mutter und Sohn das schlechte gegenseitige Verhältnis begründet: „Mutter und Sohn sind in Charakter und Beanlagung durchaus parallel, und das Wesen der Parallelen ist, daß sie sich nie berühren können.“

Wilhelms Opposition gegen das Elternhaus schlossen sich die beiden nächstältesten Kinder des Kronprinzenpaares, Charlotte und Heinrich, an. In seinen Jugenderinnerungen stellte Wilhelm II. später die Behauptung auf, dass seine Mutter ihre drei ersten Kinder mit gewollter Härte und bewusster Strenge erzogen habe. Sie hätten nicht die gleiche nachsichtige Zärtlichkeit erfahren wie ihre Geschwister. Die jüngeren Kinder, die zeitlebens ein ausgesprochen herzliches Verhältnis zu ihren Eltern beibehielten, wurden tatsächlich nicht immer wieder kritisiert, weil sie übertriebene Erwartungen nicht erfüllen konnten. Die Charakterfehler der drei ältesten Kinder und deren mangelhafte Leistung wurden hingegen, psychologisch nicht gerade geschickt, permanent namentlich von Victoria beklagt. So jammerte sie etwa im November 1872: „Ich bin oft so entmuthigt, u. denke so schweren Herzens an die Zukunft der 3 ältesten!“ Der Graben zwischen ihnen und der Mutter vertiefte sich daher im Laufe der Zeit immer mehr. Dass die drei ältesten Kinder auch als Erwachsene nicht die Partei der Eltern ergriffen, verwundert kaum. Den fremden Diplomaten entging ebenfalls nicht, dass Wilhelm, Charlotte und Heinrich nicht die liberalen und freigeistigen Ideen ihrer Eltern vertraten. „Sie wurden das Gegenteil von dem, was jene wollten“, stellte der österreichische Botschafter Graf Széchényi im März 1882 nüchtern fest. „In ihnen lebt mit Überspringung einer Generation der althohenzollernsche Geist wieder auf … Während bei den Eltern, besonders bei der Mutter, die Bewunderung für Bismarck eine bedingte ist, verehren ihn die Kinder innigst und unbegrenzt“.

Die angespannte innerfamiliäre Lage machte sich beim Ausbruch der Kehlkopfkrebserkrankung des Kronprinzen deutlich bemerkbar. Zu Beginn des Jahres 1887 traten erste Krankheitssymptome wie ständige Heiserkeit bei Friedrich Wilhelm auf, der ein starker Raucher war. Nachdem zusätzlich zu den deutschen Ärzten, die zu einer raschen, aber riskanten Operation rieten, englische Experten hinzugezogen wurden, kam es zu erbitterten Rivalitäten innerhalb der Herrscherfamilie: Das Kronprinzenpaar favorisierte den englischen Experten Dr. Morell Mackenzie, der eine Operation für unnötig hielt. Der inzwischen 28-jährige Prinz Wilhelm schlug sich auf die Seite der deutschen Ärzte. Als Ende des Jahres 1887 die englischen Ärzte gleichfalls der Diagnose Kehlkopfkrebs zustimmten, wurde vor allem Kronprinzessin Victoria vorgeworfen, sie habe durch ihre einseitige Bevorzugung der englischen Ärzte ihrem Ehemann geschadet. Ihr nach außen hin scheinbar unbesorgtes Verhalten in San Remo, wohin sich der Kronprinz wegen des milderen Klimas zur Linderung seiner Beschwerden begeben hatte, rief bei vielen einflussreichen Persönlichkeiten am Berliner Hof Missfallen hervor. Hofmarschall Graf Hugo Radolin erkannte dagegen im November 1887, was die wahren Beweggründe für ihr Auftreten waren: „Sie hält ihm den moralischen Mut hoch und, wenn sie allein ist, dann weicht sie doch den Tränen. – Sie sollte nur vor der Welt nicht so lächelnd erscheinen. – Das schadet ihr, und man muß glauben, daß sie nicht tief fühlt. Dem ist aber nicht so.“ Desgleichen erregte es Widerwillen, dass in San Remo ein reges gesellschaftliches Leben herrschte, um den Kronprinzen abzulenken und ihn zu unterhalten.

„Victoria, ich und die Kinder …“

Als Kaiser Wilhelm I. am 9. März 1888 starb, trat sein todkranker und innerlich längst zerbrochener Sohn als Friedrich III. die Nachfolge als Deutscher Kaiser und König von Preußen an. Er kehrte von seinem Kuraufenthalt in San Remo nach Berlin zurück. Das neue Kaiserpaar musste sich damit abfinden, dass es politisch nicht mehr viel bewegen konnte, weil bereits alles auf Kronprinz Wilhelm setzte. Friedrich III., der im Grunde einer Kaiserherrlichkeit vergangener Zeiten anhing, hielt sowohl an Bismarck als Reichskanzler als auch an der Mehrzahl der Minister seines verstorbenen Vaters fest. Die Beibehaltung Bismarcks stand für Friedrich trotz aller Vorbehalte ihm gegenüber im Interesse der Dynastie schon seit 1885 fest. Konservative preußische und deutschnationale Kreise misstrauten dem Kaiserpaar trotzdem, da sie fürchteten, der nachgiebige Friedrich III. könnte von seiner Frau in einem ihnen unliebsamen Sinne beeinflusst werden.

Um die Versorgung seiner Gattin und der Töchter sicherzustellen, verfügte der Kaiser am 12. April 1888 Schenkungen an sie. Entsprechend seinem Testament sollte seine Frau eine Million Mark erhalten, die Töchter Charlotte, Victoria, Sophie und Margarethe jeweils zwei Millionen. Laut Friedrich von Holstein war dies „ganz gegen die Gepflogenheiten des preußischen Hofes, wo bisher eine Prinzeß kaum jemals mehr als hunderttausend Taler bekam“. Kaiserin Victoria hatte damit durchgesetzt, dass lediglich die Töchter bedacht wurden, die von ihrem verstorbenen Großvater Wilhelm I. bei der Regelung seines Nachlasses nicht berücksichtigt worden waren.

Nach einer kurzen Regierungszeit von drei Monaten verstarb der 57 Jahre alte Kaiser Friedrich III. unter großen körperlichen Qualen im Beisein seiner Familie am 15. Juni 1888 im Potsdamer Neuen Palais. Seine letzten Worte galten seiner Frau und seinen Kindern. Auf seinen ‚Sprechzettel‘ – er konnte nach einem Luftröhrenschnitt außer mit Gesten gegen Ende seines Lebens nur noch in dieser Form mit seiner Umgebung kommunizieren – schrieb er: „Victoria, ich und die Kinder …“ Er umriss damit zum letzten Mal auf eindrucksvolle und anrührende Weise die zentrale Rolle, die seine Ehefrau und seine Familie zeitlebens für ihn spielten.

Victoria, die in der Hoffnung auf große Mitgestaltungsmöglichkeiten bei der Politik ihres Mannes gelebt hatte und für diese Aufgabe erzogen worden war, musste mitansehen, wie ihr ältester Sohn nach dem Tod seines Vaters umgehend das Neue Palais von Truppen umstellen ließ, so dass niemand das Schloss verlassen konnte. Die dortigen Räume des einstigen Kaiserpaares wurden durchsucht, weil der nun regierende Kaiser Wilhelm II. befürchtete, dass sonst geheime Staatspapiere nach England verbracht werden könnten. Victoria, die in den ersten Monaten der Trauer jeden gesellschaftlichen Kontakt vermied, sah sich von jetzt an auch politisch völlig isoliert. Bitter vermerkte sie gegenüber ihrer Mutter im September 1888: „Ich muß mich nun daran gewöhnen, eine Person zu sein, die unter dem jetzigen Regime niemand mehr berücksichtigt und an die niemand denkt & finde das gar nicht so leicht!“ Die Art und Weise, wie der junge Kaiser seiner Mutter nach seinem Regierungsantritt begegnete, erregte den Zorn der englischen Monarchin. Sie zweifelte daran, ob ihr Enkel noch „ganz richtig im Kopfe“ sei. Ohnmächtig musste es die Kaiserinwitwe hinnehmen, dass ihr unberechenbarer Sohn in den kommenden Jahren eine Politik betrieb, die gänzlich ihren eigenen Überzeugungen und denen ihres verstorbenen Gatten widersprach. Doch obwohl sie sich deutlich zurückgesetzt fühlte, harrte sie in Deutschland aus. 1890 erklärte sie dazu in einem Brief an die Queen: „Nach der Behandlung, die mir zuteil geworden ist, bleibe ich überhaupt nur in Deutschland aus Liebe zum Andenken an meinen Schatz & zu seinem Land – zu meinen Töchtern – & zu den vielen wohltätigen Institutionen, die mich brauchen, & den lieben Freunden, die recht traurig wären, wenn ich ginge!“

Nach dem Tod Friedrichs III. hielten bloß die drei jüngeren Töchter unbeirrbar zu ihrer Mutter. Abschätzig hatte Wilhelm II. schon früher von ihnen als der ‚Englischen Kolonie‘ gesprochen. Über Victoria, Sophie und Margarethe teilte die Kaiserinwitwe im Juni 1888 ihrer Mutter gerührt und dankbar mit: „Meine süßen Mädchen sind ganz einig mit mir, ganz einig in Trauer und Liebe, aber sie sind jung und dürfen nicht so gebrochen bleiben wie ich es bin. Das Leben liegt vor ihnen und ich muß versuchen, es für sie, seine Lieblinge, so glücklich zu gestalten als ich kann.“

Ganz bewusst nannte sich Kaiserinwitwe Victoria nach dem Tod ihres Mannes zur Wahrung von dessen Gedenken ‚Kaiserin Friedrich‘ und trug nach dem Vorbild ihrer Mutter immer Witwentracht, die bei ihr aus einem schwarzen Kleid und einer schwarzen Haube mit Schleier bestand. Zutiefst verletzt über die Vorgänge am Berliner Hof und das Verhalten Wilhelms II. zog sie es vor, für sich ein neues Domizil fern von den Hohenzollernresidenzen Berlin und Potsdam zu finden. In Berlin war ihr von ihrem Sohn das Kronprinzenpalais als Witwensitz zugewiesen worden. Dessen ungeachtet erwarb sie die von dem verstorbenen Frankfurter Geschäftsmann Jacques Reiss erbaute Villa Schönbusch in Kronberg im Taunus, die sie fast vollständig abreißen ließ, um sich an diesem Ort einen komfortablen fürstlichen Wohnsitz auf dem neuesten Stand der Technik errichten zu lassen. Das Geld dafür entstammte einer Erbschaft von mehreren Millionen Francs, die sie ihrer langjährigen Freundin Marie Brignole-Sale, Herzogin von Galliera, verdankte. „Dort werde ich unabhängiger sein können als irgendwo anders, da es mein Eigentum sein wird“, stellte sie befriedigt fest. Zwischen 1889 und 1893 entstand hier nach den Plänen des Berliner Hofarchitekten Ernst Eberhard von Ihne ein repräsentatives Schloss im englischen Landhausstil. Das Schloss, das sie zur Erinnerung an ihren verstorbenen Mann ‚Friedrichshof‘ benannte und in dem sie seit 1894 vor allem die Sommermonate verbrachte, umgab eine großzügige Parkanlage mit einem prachtvollen Rosengarten. Da Victoria in dem historistischen Gebäude außerdem ihre umfangreiche Kunst- und Kunstgewerbesammlung unterbrachte, die sie gemeinsam mit ihrem Mann aufgebaut hatte, ähnelte es nach Ansicht ihrer Nichte Marie Louise von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg „tatsächlich mehr einem Museum denn einem Haus“. In Friedrichshof trafen sich seitdem nicht nur ihre Familienangehörigen, sondern es fanden sich auch Künstler und Wissenschaftler ein. Hauptsächlich ihre Töchter Margarethe und Sophie hielten sich mit ihren Familien meist mehrere Monate bei ihr auf. Durch den Ankauf angrenzender Liegenschaften umfasste ihr Witwensitz schließlich 250 Morgen Land. Kaiser Wilhelm II. schenkte seiner Mutter 1892 die halb verfallene Burg der einstigen Herren von Cronberg, für die sich Victoria interessierte. Zufrieden teilte sie ihrer Tochter Sophie mit: „Ich freue mich, daß Wilhelm zum ersten Mal versucht hat, mir eine Freude zu machen, was für mich den Wert der Sache erhöht.“ Kaiserin Friedrich ließ an der Anlage Erhaltungs- und Umbaumaßnahmen vornehmen.