Zum Buch

Ein spannendes Kapitel Kultur- und Kirchengeschichte

Jürgen Bärsch vermittelt mit seiner Geschichte des christlichen Gottesdienstes einen intensiven Durchblick durch die großen Etappen und Entwicklungen des gottesdienstlichen Lebens. Dabei zeigt er besonders die kulturhistorischen Einflüsse auf die und durch die Liturgie mit all ihren Facetten. In kurzen, überschaubaren Kapiteln gibt er einen Eindruck von den zahlreichen und zum Teil massiven Veränderungen des Gottesdienstes in der Geschichte des Christentums von den jüdischen Wurzeln bis in die Gegenwart. In Wechselwirkung mit kirchlichen und gesellschaftlichen Umbrüchen und beeinflusst von Veränderungen in Kultur und Mentalität hat sich die konkrete Gestalt der liturgischen Feier vielfach und nachhaltig gewandelt.

 

 

 

Zum Autor

Jürgen Bärsch, Dr. theol., geboren 1959, ist Professor für Liturgiewissenschaft an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt.

Jürgen Bärsch

 

 

 


Kleine Geschichte des christlichen Gottesdienstes

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag Friedrich Pustet

Regensburg

Cover:

 

Heilig-Geist-Meister, Très Belles Heures de Notre-Dame

Offizium des Hl. Geistes, fol. 173

Bas-de-Page mit Elevation der Hostie bei der Eucharistie, nach 1404, Paris

© Bibliothèque Nationale de France,

MS Nouv. Acq. Lat. 3093

 

 

 

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

eISBN 978-3-7917-6063-6 (epub)

© 2014 by Verlag Friedrich Pustet, Regensburg

Umschlag: Martin Feicht, Regensburg

eBook-Produktion: Friedrich Pustet, Regensburg

 

Diese Publikation ist auch als Printprodukt erhältlich:

ISBN 978-3-7917-2721-9

 

Weitere Publikationen aus unserem Programm finden Sie unter www.verlag-pustet.de

Vorwort

„Entscheidend für das Leben und Überleben der Kirche in allem Auf und Ab ihrer Geschichte war – und ist noch immer – der ununterbrochene Strom des gefeierten Glaubens, ‚der in der Liebe wirksam ist‘ (Gal 5,6).“

Andreas Heinz

Eine Geschichte der christlichen Liturgie, die in deutscher Sprache einen eingehenden Durchblick durch die großen Etappen und Entwicklungen des gottesdienstlichen Lebens vermittelt und die kulturhistorischen Einflüsse auf den und durch den Gottesdienst mit all seinen Facetten erläutert, wird seit langem zu Recht als erwünscht angemahnt. Diese Lücke vermag sicher auch das vorliegende Buch nicht annähernd zu schließen. Sein Ziel ist deshalb weitaus bescheidener. Es will versuchen, in kurzen, überschaubaren Kapiteln auch den Nicht-Fachleuten einen Eindruck von den zahlreichen und zum Teil massiven Veränderungen des Gottesdienstes in der Geschichte des Christentums zu geben. Denn bei aller Vorgegebenheit des göttlichen Handelns und ihres bleibenden, auf die Stiftung Jesu zurückgehenden Sinngehalts hat sich die Feier der Liturgie in ihrer konkreten Gestalt vielfach verändert und in Wechselwirkungen mit kirchlichen und gesellschaftlichen Umbrüchen sowie, beeinflusst von Veränderungen in Kultur und Mentalität, nachhaltig gewandelt. Schon die stetigen, immer wieder neu angestoßenen Bemühungen um eine Reform des Gottesdienstes, die sich durch die ganze Christentumsgeschichte hindurchziehen, belegen nachdrücklich die Notwendigkeit wie die Bereitschaft, die Liturgie zu erneuern und zu verändern.

So hoffe ich, dass die hier vorliegende kleine Geschichte des christlichen Gottesdienstes eine erste Orientierung über einen spannenden Bereich der Kirchen- und Kulturgeschichte gibt und damit Verständnis für die historischen Entwicklungen weckt, ohne die der Gottesdienst der Kirche auch heute nicht zu verstehen ist.

Meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern am Lehrstuhl für Liturgiewissenschaft an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt danke ich für alle Unterstützung und für vielfältige, hilfreiche Ratschläge, vor allem Herrn Akademischen Rat Dr. Florian Kluger, Herrn cand. theol. Ulrich Jauernig, Frau cand. theol. Sophia Kraus, Herrn Mag. Theol. Ulrich Schmidt und Frau cand. phil. Elisabeth Wimmer. Umsichtig und mit großer Aufmerksamkeit hat unsere Lehrstuhlsekretärin, Frau Anni Lehenmeier, das Manuskript betreut und das ganze Lehrstuhlteam in jeglicher Hinsicht unterstützt. Herrn Dr. Rudolf Zwank vom Pustet-Verlag danke ich für die unkomplizierte und gute Zusammenarbeit.

Das Buch widme ich meinem akademischen Lehrer, Herrn Univ.-Professor em. Dr. Andreas Heinz, Trier, der mir den Sinn für die geschichtliche Dimension der Liturgie eröffnet und mich in die Liturgiegeschichtsforschung eingeführt hat, und meinen Hörerinnen und Hörern, vor allem in Paderborn und Eichstätt, denen ich etwas von der Bedeutung der Geschichte für das Verständnis der Liturgie hoffe vermittelt zu haben.

 

Eichstätt, 5. April 2015

Hochfest der Auferstehung des Herrn

Jürgen Bärsch

Einführung oder: Warum sollte man sich mit der Geschichte des Gottesdienstes befassen?

Schaut man in die Schriften des Neuen Testaments, sucht man vergebens nach einem ausdrücklichen Wort Jesu, mit dem er in einem formalen Sinn die Kirche gegründet hätte. Allerdings hat er einen konkreten Auftrag hinterlassen: Seine Jüngerinnen und Jünger sollen sich in seinem Namen versammeln, über Brot und Wein den Segen sprechen und von den Mahlgaben essen und trinken. Darin erfüllen sie, was er ihnen geboten hat: „Tut dies zu meinem Gedächtnis“ (Lk 22,19; 1 Kor 11,24). Indem die Jüngergemeinde diesem Auftrag folgt und sich zur Feier des Herrenmahles versammelt, wird die Kirche sichtbar und erfahrbar. Kirche ereignet sich darum vorzüglich dort, wo Christen Eucharistie feiern. Deshalb stehen Kirche-Sein und Eucharistie in so engem Verhältnis, dass Papst Johannes Paul II. zu Recht formulieren konnte: „Die Kirche lebt von der Eucharistie“ (Enzyklika Ecclesia de Eucharistia, 2003, 1).

Der Gottesdienst ist also nicht „frommer Zierat“, den sich die Kirche neben anderem leistet; er bildet ihr Herz und ihre Mitte. Dabei kommt vorrangig der Messfeier eine zentrale Bedeutung zu. Aber auch andere gottesdienstliche Feiern wie die Sakramente und Sakramentalien, die Wort-Gottes-Feiern oder die Feier der Tagzeiten (auch Stundenliturgie oder Stundengebet genannt) bauen die Kirche auf und prägen das Leben der Gemeinschaft wie der einzelnen Christen. Selbstverständlich erschöpft sich das Leben der Kirche nicht in der Feier des Gottesdienstes. Ebenso gehören die Verkündigung der Frohen Botschaft und die tätige Nächstenliebe zum Auftrag der Kirche und machen Wesentliches von ihr sichtbar. Dennoch bildet der Gottesdienst – nach einem Wort des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1965) – den „Höhepunkt, dem das Tun der Kirche zustrebt und zugleich die Quelle, aus der all ihre Kraft strömt“ (Liturgiekonstitution 10). Wer sich für den Gottesdienst interessiert und sich mit seiner historischen Entwicklung, seinen theologischen Grundlagen und seiner heutigen Gestalt befasst, hat es darum mit dem Zentrum der Kirche und des christlichen Glaubens zu tun.

Deshalb können Kenntnisse über den Gottesdienst gläubigen Christen helfen, bewusster und fruchtbarer den Gottesdienst mitzufeiern und sich und anderen Rechenschaft über den Glauben zu geben. So liegt es nahe, dass zunächst Christen ein besonderes Interesse daran haben sollten, etwas mehr über die Feier des Gottesdienstes zu erfahren. Aber auch für Nichtchristen können Kenntnisse über den Gottesdienst hilfreich sein. Denn selbst wer aufgrund seiner weltanschaulichen und religiösen Prägung in der Regel keinen christlichen Gottesdienst besucht, wird in einer von christentümlichen Elementen durchsetzten Gesellschaft gelegentlich mit ihm in Berührung kommen, etwa bei Hochzeiten, Begräbnissen, bei Katastrophen und Großschadensereignissen.

Darüber hinaus ist zu bedenken, dass viele Ausdrucksformen der Kultur und Kunst in unserer Gesellschaft gar nicht recht zu verstehen sind ohne eine gewisse Kenntnis des Christentums und seiner gottesdienstlichen Feiern. Das gilt für viele Bereiche der Literatur, der Musik und der bildenden Kunst. So sind die bedeutenden Exponate kirchlicher Goldschmiede- und Textilkunst ja keineswegs als Schaustücke für eine Museumsausstellung geschaffen worden, sie dienten und dienen zu einem nicht geringen Teil noch heute dem Gebrauch im Gottesdienst. Die Kantaten Johann Sebastian Bachs, die Requiemvertonungen Mozarts oder Verdis und die geistlichen Werke von Palestrina bis zu den Komponisten der Gegenwart sind ohne ihren gottesdienstlichen Zusammenhang kaum zu verstehen. Und schließlich lassen sich die vielen von Touristenscharen besuchten Kirchen mit ihrer Ausstattung nur von dem Geschehen her deuten, für das sie vorrangig gebaut wurden, eben die Feier des Gottesdienstes. Wer sich also für die Kultur und Kulturgeschichte interessiert, stößt immer wieder auf Formen und Lebensäußerungen, die ihre Wurzeln im christlichen Gottesdienst haben oder in enger Verbindung damit stehen. Insofern dienen gewisse Grundkenntnisse über den Gottesdienst der Allgemeinbildung und sind Teil der Religionskunde.

Zwischen dem Auftrag Jesu, „tut dies zu meinem Gedächtnis“, und der gegenwärtigen Gestalt des Gottesdienstes liegen inzwischen 2000 Jahre. Weil die Kirche und mit ihr der Gottesdienst, trotz seines bleibend gültigen Kerns, immer auch an eine bestimmte Zeit, Kultur und Gesellschaft gebunden ist, kann es nicht verwundern, dass der Gottesdienst über die Jahrhunderte immer wieder Wandlungen und mehr oder weniger umfangreichen Veränderungen unterworfen war. Dabei gab es Fortentwicklungen, die allmählich aus den Wurzeln der Stiftung Jesu und dem Wirken der Apostelgeneration erwachsen sind. So liegt etwa das Sakrament der Krankensalbung in der Sorge Jesu und der Apostel um die Kranken und Leidenden begründet. In der langen Geschichte gab es aber auch immer wieder Umbrüche und massive Einschnitte. Dies geschah dort, wo die Einsicht gewachsen war, die bestehende Gestalt des Gottesdienstes verdunkle die alte Tradition oder gewährleiste nicht mehr die Klarheit des Glaubens und die Einheit der Kirche. Hier kam es immer wieder zu durchaus einschneidenden Reformen.

Den Sinn für diese geschichtlichen Entwicklungen zu wecken und verständlich zu machen, welche Kräfte und Einflüsse den Gottesdienst in den verschiedenen Epochen prägten, ist das vorrangige Ziel dieses Buches. Es kann daher nicht mehr sein als ein knapper Überblick, der versucht, in kurzen, überschaubaren Kapiteln einige wichtige historische Entwicklungslinien nachzuzeichnen und nachvollziehbar zu machen. Wer mehr wissen will, findet am Ende eines jeden Kapitels einige weiterführende, durchaus subjektiv ausgewählte Literaturhinweise. Sie sind zumeist knapp kommentiert, um auch den Nicht-Fachleuten eine Hilfe zu geben, die genannten Werke und Beiträge einordnen zu können.

Das Buch konzentriert sich auf den Gottesdienst der römisch-katholischen Kirche, weitgehend im deutschen Sprachgebiet. Dabei ist zu beachten, dass die westkirchliche Geschichte bis zur Reformation die gemeinsame Gottesdienstgeschichte der katholischen wie protestantischen Tradition ist. Ein eigenes Kapitel deutet wenigstens die wichtigen Entwicklungen in den Kirchen der Reformation an. Damit ist vornehmlich die Darstellung der neuzeitlichen Entwicklung bis zur Gegenwart stärker konfessionell geprägt. Aber eine eingehendere Berücksichtigung der protestantischen Gottesdienstgeschichte hätte den Umfang des Buches deutlich gesprengt. Darüber hinaus macht ein weiteres Kapitel mit der Entstehung und dem Geist der ostkirchlichen Liturgie und ihrer Traditionen bekannt, um anzudeuten, dass das gottesdienstliche Leben in der Kirche bedeutend reicher ist, als dies ein einseitiger Blick auf die römisch-katholische Liturgiegeschichte vermuten lässt. Ein Glossar am Ende des Buches hilft, die nicht immer vermeidbaren Fachbegriffe kurz zu erklären.

1. Liturgie, Gottesdienst, Messe … – eine kurze Verständigung über wichtige Begriffe

Wenn heute katholische Christen sagen, „ich gehe zum Gottesdienst“, dann meinen sie oft, dass sie an der Feier der Messe teilnehmen. Allerdings sind „Gottesdienst“ und „Messe“ keineswegs gleichbedeutende Bezeichnungen. „Gottesdienst“ ist vielmehr ein Sammelbegriff für verschiedene Formen gottesdienstlicher Feiern, wozu auch – und zwar zentral – die Messfeier gehört. Daneben ist auch der Fachbegriff „Liturgie“ bekannt. Das Wort „Liturgie“ stammt aus dem Griechischen (leiton ergon = Dienst am Volk, im Sinn einer öffentlichen Dienstleistung) und bezeichnet im engeren Sinne die von der Kirche amtlich geordneten Gottesdienste. Heute werden die Begriffe „Gottesdienst“ und „Liturgie“ allerdings zumeist synonym gebraucht, dem schließt sich auch dieses Buch an.

„Gottesdienst“ oder „Liturgie“ sind also Oberbegriffe für eine Fülle von einzelnen Feiern, zu denen sich die Kirche um ihren Herrn Jesus Christus versammelt. Wie angeklungen, steht im Zentrum als wichtigste Feier des Gottesdienstes die Messfeier (auch als Eucharistie oder im protestantischen Sprachgebrauch als Abendmahl bezeichnet), denn hier wird die Gemeinschaft mit Christus am intensivsten verwirklicht.

Um die Messe herum gruppieren sich die Feiern der übrigen Sakramente. Dazu zählen zunächst die Sakramente des Christwerdens, die Feiern der Taufe und der Firmung (sowie die Eucharistie), sodann die Sakramente, die dem Gläubigen in schwierigen Lebenssituationen die Zuwendung Gottes vermitteln, die Feiern der Buße (Umkehr und Versöhnung) und der Krankensalbung, schließlich die Sakramente, die zu einem besonderen Dienst in der Kirche befähigen, die Weihe zum Bischof, Priester und Diakon (Ordination) und die Feier der Trauung. Hinzu treten Segnungsfeiern, die in gewisser Beziehung zu den Sakramenten stehen und deshalb Sakramentalien genannt werden. Dazu zählt auch die Begräbnisfeier.

Eine eigene Bedeutung haben Feiern, in denen die selbstständige Verkündigung des Wortes Gottes den Mittelpunkt bildet (Wort-Gottes-Feiern) sowie die über den Tag verteilte Feier des Gotteslobes, die Tagzeitenliturgie (auch Stundenliturgie oder Stundengebet genannt) mit ihren beiden Angelpunkten am Morgen (Laudes = Lobgesänge) und am Abend (Vesper = Abendstern).

Über diese Bereiche hinaus sind schließlich stärker regional geprägte Feiern zu nennen wie die Feier von Andachten und Prozessionen sowie weitere von bestimmten Anlässen, Bräuchen oder spirituellen Motiven bestimmte Feiern.

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2. Gefeierter Glaube – oder: Was will die Liturgiegeschichte erforschen?

Wer sich auf die historischen Spuren des christlichen Gottesdienstes begibt, begegnet stets Menschen, die zu je ihrer Zeit ihrem Glauben an Jesus Christus Ausdruck gegeben haben. Denn im Gottesdienst ereignet sich das lebendige Glaubensgeschehen, die gemeinschaftliche Begegnung zwischen Gott und Mensch, die dabei sprachliche, musikalische, bild- und zeichenhafte, sogar personale Gestalt annimmt und darin erfahrbar wird. Insofern ist der Glaube der Kirche, wie ihn die theologische Disziplin der Liturgiewissenschaft betrachtet, ein in den verschiedenen Möglichkeiten menschlicher Ausdrucksformen sich vollziehendes, alle Sinne umfassendes, konkretes Ereignis. Es hat Farbe, Musik, Form, ist Bewegung und Feier.

Auch wenn das, was die Gemeinschaft der Kirche glaubt, über die Jahrhunderte gleich bleibt, hat sich der leibhaftige, gefeierte Glaube in der Geschichte in sehr unterschiedlichen Traditionen und Formen ausgedrückt. Denn Christen leben und glauben immer in einer bestimmten Gesellschaft und Kultur, in einem konkreten Raum und unter den Bedingungen ihrer jeweiligen Zeit. Das bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die Ausdrucksgestalt des Glaubens. Deshalb wandeln sich Gebet und Gesang, Kirchenbau und seine Ausstattung, Formen und Motive der Frömmigkeit. Darum begegnen dem, der sich auf die Suche nach der Geschichte des christlichen Gottesdienstes macht, nicht nur theologische Gedanken und Impulse, sondern auch vielfältige Anstöße, die aus den kulturellen, mentalitäts- und sozialgeschichtlichen, den kirchen- und religionsgeschichtlichen Bedingungen in den verschiedenen Epochen auf das gottesdienstliche Leben eingewirkt haben. Diese Zusammenhänge zu erkennen, ist eine wesentliche Aufgabe der Liturgiegeschichtsforschung. Aus diesen Gründen werden uns beim Gang durch die Geschichte nicht nur die großen, „offiziellen“ Formen der kirchlich geregelten Liturgie begegnen, denn auch die Andachten, die Formen der Heiligenverehrung, der Prozessionen und Wallfahrten haben in bestimmten Epochen der Liturgiegeschichte nicht selten viel prägender den Glauben der Menschen bestimmt.

3. Aus welchen Quellen schöpft die Liturgiegeschichte?

Aus dem Gesagten ist schon deutlich geworden, dass die Liturgie nicht allein von dem lebt, was in Handschriften und Büchern fixiert und normiert ist. Bilder, Räume, Gesang, liturgische Gewänder und Gefäße, Gestik und Bewegung sind mindestens ebenso entscheidend für das konkrete lebendige Feiergeschehen. Auch wenn sich die Liturgie nicht in ihrer Verschriftlichung erschöpft, bleiben wir für die Liturgiegeschichte doch wesentlich auf schriftliche Zeugnisse angewiesen. Dabei muss man allerdings unterscheiden zwischen normativ-ordnenden und beschreibenden Quellen.

Die erste und zentrale normative Quelle der christlichen Liturgie ist die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testamentes, das biblisch geoffenbarte Wort Gottes. „Von größtem Gewicht für die Liturgiefeier ist die Heilige Schrift“, so hat das Zweite Vatikanische Konzil diese vorrangige Bedeutung herausgestellt (Liturgiekonstitution 24). Jedes liturgische Buch kann die Kirche grundsätzlich verändern, sie kann Gebete und Gesänge tilgen oder neu verfassen, aber die Lesung aus der Heiligen Schrift ist eine Vorgabe, über die die Kirche nicht verfügen kann. Entsprechend sind die Bücher, aus denen die Heilige Schrift im Gottesdienst verlesen wird, wie Lektionare und Evangeliare, zumeist besonders gestaltet und von den übrigen Büchern abgehoben.

Zu den normativen Quellen der Liturgie gehören dann die Handschriften und Bücher, in denen Gebete, Gesänge und Ordnungen verzeichnet sind. In den Liturgiebüchern begegnet uns eine Normgestalt: ein Ideal, wie die Kirche sich die Feier der Liturgie vorstellt und zugleich ein Maßstab, hinter den das konkrete gottesdienstliche Geschehen nicht zurückfallen darf. Erst nachdem der Buchdruck erfunden war, wurde es übrigens möglich, weitgehend identische liturgische Bücher herzustellen und zu verbreiten. Wenn man allerdings wissen will, wie die konkrete gottesdienstliche Praxis ausgesehen hat, dann lassen uns normative Quellen schnell im Stich. Sie zeigen eben die Idealgestalt, aber nicht unbedingt die Realgestalt des Gottesdienstes.

Darum ergänzen beschreibende, also deskriptive Quellen unsere Kenntnis vom Gottesdienst früherer Epochen. Als Beispiel seien die hoch- und spätmittelalterlichen Libri ordinarii genannt. Dabei handelt es sich um eine Art „Regiebücher“, die für eine ganz bestimmte Kirche mit ihren jeweils eigenen personellen und räumlichen Gegebenheiten den Ablauf der liturgischen Feiern im Verlauf des Kirchenjahres beschreiben. Da sie vielfach genauer als Messbücher und Ritualien auf das konkrete Handlungsgeschehen eingehen, erlauben sie oftmals einen präziseren Einblick in die gottesdienstliche Realität. Vermutlich gab es kaum eine Kathedral-, Stifts- oder Abteikirche, die nicht einen Liber ordinarius besessen hat, vereinzelt sind solche Quellen auch für einfache Pfarrkirchen überliefert.

Seit einigen Jahren finden in der Liturgiegeschichtsforschung auch sogenannte Ego-Dokumente Aufmerksamkeit. Denn nicht selten enthalten persönliche Aufzeichnungen wie Tagebücher, Chroniken und Briefe Informationen über den erlebten Gottesdienst. Die subjektiven Zeugnisse können in der Zusammenschau mit anderen Quellen ein neues Licht auf die konkrete Gestalt des Gottesdienstes werfen.

Schließlich sind weitere Quellen zu nennen, die für unsere Kenntnis des Gottesdienstes von Belang sind. Man denke etwa an die spätantiken Kirchenordnungen oder an das Reisetagebuch der Egeria, einer Pilgerin aus Nordspanien, die Ende des 4. Jahrhunderts das Heilige Land besucht und den Gottesdienst in Jerusalem und in Palästina beschreibt. Aus der spätantiken Kirche kennen wir neben den Mönchsregeln vor allem die sogenannten mystagogischen Katechesen, also Predigten, mit denen Bischöfe und Presbyter wie Cyrill von Jerusalem (um 318–386/87), Ambrosius von Mailand (339–397) oder Johannes Chrysostomus (349–407) erläutern und deuten, was die Neugetauften bei ihrer Eingliederung in der Kirche erlebt haben. Auch für spätere Jahrhunderte liegen dann in Anlage, Form und theologischer Durchführung recht unterschiedliche Liturgieerklärungen vor, die zu erkennen geben, wie in früheren Zeiten der Gottesdienst verstanden und gedeutet wurde. Als Beispiel kann man das Rationale divinorum officiorum des Bischofs Wilhelm Durandus von Mende (um 1230–1296) nennen, das ein Kompendium der mittelalterlichen Liturgieerklärung darstellt und bis weit in die Neuzeit gelesen und studiert wurde.

Die knappe Übersicht gibt einen Eindruck von den unterschiedlichen Quellen, mit denen die Liturgiegeschichtsforschung ein Bild der historischen Wirklichkeit zu rekonstruieren versucht. Damit zeigt sich allerdings auch, dass eine umfassende und genaue Darstellung, wie der gefeierte Glaube der Kirche in der Geschichte aussah, nie vollständig erreicht werden kann. Aber es gibt Wege, sich der historischen Wirklichkeit zu nähern und ihre Spuren zu verfolgen. Dies soll im Folgenden geschehen.

Allgemeine Literatur zur Liturgiegeschichte

Leider fehlt derzeit im deutschen Sprachgebiet ein umfassendes Handbuch der abendländischen Liturgiegeschichte, das den heutigen Stand der Forschung wiedergibt und einen verlässlichen Überblick vermittelt. Im Folgenden sind deshalb nur einige wichtige Monografien und Lexikonartikel kommentierend aufgelistet, die einen gewissen Ersatz darstellen.

Einen kurzgefassten Überblick aus protestantischer Perspektive bietet

Aus katholischer Feder stammt das in Einzelheiten und Bewertungen zum Teil überholte Werk von

Eher die geistesgeschichtlichen Grundlagen von Liturgie und Kultur zeichnet nach

Eine deutsche Übersetzung aus dem Niederländischen bietet die mitunter sehr auswählende Darstellung von

Einen lexikalischen Überblick gibt

Fast ausschließlich auf die spätantiken Entwicklungen konzentriert ist das Buch von

Die Entwicklung der Liturgiegeschichtsforschung in Deutschland sichtet kritisch

Die Erneuerungsprozesse des Gottesdienstes von der frühen Kirche bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil beleuchtet das zweibändige Sammelwerk

Einen knappen, aber instruktiven historischen Abriss zur Geschichte der römischen Liturgie bieten

Aus jüdischen Wurzeln erwachsen
Die Anfänge des christlichen Gottesdienstes

1. Jesus und der jüdische Gottesdienst seiner Zeit

Es ist keine Frage: Das Christentum und damit seine frühesten Gottesdienstformen haben sich aus dem Wurzelboden des Judentums gebildet. Jesus selbst lebte als gläubiger Jude und hat als Angehöriger des Volkes Israel an den verschiedenen Formen des jüdischen Gottesdienstes teilgenommen. Aber er hat sie auch in mancherlei Hinsicht kritisiert und verändert. Darum kann man sagen, dass das Verhältnis von jüdischem und christlichem Gottesdienst vor allem durch die Spannung von „Kontinuität“ und „Neuansatz“ gekennzeichnet ist.

Im Wesentlichen kennt das Judentum zur Zeit Jesu drei Orte für den Gottesdienst:

An erster Stelle ist natürlich der Tempel in Jerusalem zu nennen, in dem die Priester die vorgeschriebenen Opferrituale vollziehen. Für die gläubigen Juden spielt sich die Beziehung zwischen Gott und seinem Volk vor allem hier, an dieser heiligen Stätte ab. Nachdem die Verschleppten aus dem babylonischen Exil wieder heimgekehrt sind und den Tempel 515 v. Chr. wiederaufgebaut haben, erhält der Opferkult eine besondere Bedeutung: Als Reaktion auf die Zerstörung Jerusalems 586 v. Chr. und die Erfahrung des Zusammenbruchs wie des Exils gilt er nun als Sühneritual für die Sünden der Priester und des Volkes, das in der umfassenden Reinigung am großen Versöhnungstag, dem Jom Kippur, gipfelt, an dem allein der Hohepriester den innersten, von einem kostbaren Vorhang abgetrennten Raum des Tempels, das Allerheiligste, betreten darf, um das Versöhnungsritual zu vollziehen.

Wie die Evangelien schildern, hat Jesus den Tempelgottesdienst geschätzt und keineswegs abgelehnt. Allein nach dem Johannesevangelium zieht Jesus viermal zum Tempel hinauf. Die Wallfahrt zum Tempel als Weg nach Jerusalem kennzeichnet seine Sendung von der Kindheitsgeschichte bis zum Osterereignis. Allerdings hat Jesus den Tempel als Ort der Versöhnung Gottes mit den Menschen auch spiritualisiert und personalisiert. Die bekannte Szene mit der Austreibung der Händler aus dem Tempelbezirk (vgl. Mt 21,12–17 parr) darf man als eine prophetische Zeichenhandlung verstehen. Sie soll anzeigen, dass mit Jesus die eschatologische Erfüllungszeit angebrochen ist, in der nicht mehr der Tempel in Jerusalem die Mitte der Gottesverehrung ist, sondern „in der die wahren Beter den Vater anbeten werden im Geist und in der Wahrheit“ (Joh 4,23).

Die Zerstörung und den Wiederaufbau des Tempels bezieht Jesus auf sich selbst (vgl. Joh 2,19–22), und das Zerreißen des Vorhangs in der Todesstunde Jesu (vgl. Mk 15,38) verweist auf den Gekreuzigten, durch den nun der Himmel offen steht und die Menschen ungehinderten Zugang zu Gott haben. Im Kreuzesopfer Jesu, in seiner Lebenshingabe für die Welt sind darum alle weiteren Opfer überholt, ist ein für allemal Sühne geleistet, die durch Glauben wirksam wird (vgl. Röm 3,25). Die Versöhnung zwischen Gott und Mensch ist nicht mehr an den Tempel gebunden, sie ereignet sich nun, wo zwei oder drei in Jesu Namen versammelt sind (vgl. Mt 18,20).

Die Synagoge bildet den zweiten Ort des gottesdienstlichen Lebens im Judentum. Ursprünglich war sie gar kein Raum für den Gottesdienst, sondern eine Art Gemeindezentrum oder Lehrhaus, in dem vor allem an jedem Sabbat die Tora (Fünf Bücher Mose) studiert wurde. Erst im rabbinischen Judentum entsteht der institutionalisierte Synagogengottesdienst mit der ritualisierten Lesung der Tora und dem gemeinsamen Gebet. Nach der Zerstörung des Tempels 70 n. Chr. überträgt man die priesterlichen Tempeltraditionen auf die Synagoge. Sie gilt nun wegen der Präsenz der Tora als heiliger Ort, und die gottesdienstliche Gemeinschaft, die sich hier versammelt, sieht sich verbunden mit den Engeln, liturgisch ausgedrückt in der Qedûššāh, dem Engelgesang des Dreimalheilig in der Himmelsvision des Jesaja (vgl. Jes 6,3).

Jesus hat den Synagogengottesdienst hoch geschätzt. Er nimmt nicht nur daran teil, sondern liest auch selbst aus der Schrift und lehrt (vgl. Mk 1,21; Lk 4,16–21). Allerdings lassen sich auch gewisse Abstandsbewegungen erkennen. Schon die Menschen in der Synagoge von Kafarnaum sind erstaunt über die Lehre Jesu, denn er lehrt nicht wie die Schriftgelehrten, sondern wie einer, der göttliche Vollmacht hat (vgl. Mk 1,22), beglaubigt durch Zeichen und Wunder, die seine göttliche Legitimation unterstreichen (vgl. Mk 1,23–28). Das Jesaja-Wort vom Gesalbten Jahwes, der gesandt ist, den Armen die gute Nachricht zu bringen, den Gefangenen die Entlassung zu verkünden und den Blinden das Augenlicht (vgl. Jes 61,1; Lk 4,18 f), das Jesus in der Synagoge vorliest, bezieht er auf sich und seine Sendung. Er bringt damit zum Ausdruck, dass mit ihm die endzeitliche Gottesherrschaft angebrochen ist.

Der dritte Ort des jüdischen Gottesdienstes ist die Familie, das jüdische Haus. Das dreimalige Gebet gliedert den Tagesrhythmus morgens, mittags und abends. Vor allem die religiös geprägten Festmähler, speziell am Sabbat und an Pessah, haben eine rituell-symbolische Bedeutung und stehen in Verbindung mit dem Tempel und der Synagoge.

Gebet und Mahl bilden denn auch die Ansätze des frühchristlichen Gottesdienstes. Eine besondere Rolle spielt dabei das Vaterunser, das Jesus seinen Jüngern übergibt und das Parallelen zum Kaddisch-Gebet und zum Achtzehngebet aufweist. Es fällt auf, dass beim Vaterunser nicht ein sakrosanktes Textformular entscheidend ist, denn tatsächlich sind zwei unterschiedliche Textfassungen überliefert (vgl. Mt 6,9–13; Lk 11,2–4), bedeutend ist vielmehr die biblische Ursprungssituation: Die Jünger wollen von Jesus im Beten angeleitet werden, und er spricht ihnen das Vaterunser vor. Seither gilt: Wann immer Christen dieses Gebet Jesu zitierend nach-beten, wird die Ursprungssituation lebendig, sind sie selbst die Jünger, denen Jesus das Gebet geschenkt hat und die darin seiner Mahnung zum Gebet nachkommen. Es verwundert also nicht, dass man im Vaterunser ein Grundelement des frühchristlichen Gottesdienstes wie des täglichen Gebetes überhaupt (vgl. Did 8,2) erkennen kann. Das gilt auch deshalb, weil mit der Bitte um das kommende Reich ein bedeutendes Motiv des christlichen Betens ausgesprochen wird. Denn der Anbruch der Gottesherrschaft in der Sendung Jesu und die Bitte um seine Vollendung, wenn der Herr wiederkommt, bestimmt wesentlich das Selbstverständnis und Leben der frühen christlichen Gemeinden. Aus diesem Grund ist der frühchristliche Gottesdienst zutiefst eschatologisch ausgerichtet und der prädestinierte Ort der Parusieerwartung, der Hoffnung auf die Wiederkunft Christi, in der Gott endgültig und vor aller Augen seine Herrschaft durchsetzt.

Diese eschatologische Dimension kennzeichnet auch das häusliche Festmahl, das an jüdische Traditionen anknüpft. Es hat durch Jesus beim Abendmahl eine neue Deutung erhalten, indem er sich selbst in seiner Lebenshingabe am Kreuz mit dem gebrochenen Brot und dem Kelch identifiziert. Darin wird der neue und ewige Bund mit Gott beschlossen. So gipfeln in diesem Abschiedsmahl alle Mähler Jesu. Die eschatologische, versöhnende Tischgemeinschaft mit allen, die Gott und seine Herrschaft anerkennen, stellt Jesus im Mahl mit den Zöllnern und Sündern dar (vgl. etwa Mk 2,13–17). Die Speisungswunder hingegen verweisen auf das vom Segensreichtum Gottes erfüllte eschatologische Festmahl auf dem Zion (vgl. Jes 25,6–8). Diese umfassenden Bezüge zu den Bildern vom endzeitlichen, alle Völker verbindenden Mahl zeigen schon an, dass die frühchristlichen Mahlfeiern nicht einfach das Abendmahl Jesu „wiederholten“ oder gar nachahmten, vielmehr haben die Gemeinden mit Dankgebet, Brotbrechen und Austeilung den Auftrag Jesu, „tut dies zu meinem Gedächtnis“ (Lk 22,19; 1 Kor 11,25), liturgisch ausgeformt.

2. Die Anfänge des christlichen Gottesdienstes

Die Forschung ist sich heute unsicherer denn je, wie das Verhältnis zwischen jüdischem und christlichem Gottesdienst näher zu beschreiben ist. Wie schon angedeutet, kann man davon ausgehen, dass viele christliche Traditionen aus jüdischen Wurzeln erwachsen sind. Da nun das rabbinische Judentum, entstanden durch die Zerstörung des Tempels 70 n. Chr., und die christliche Kirche, begründet durch Tod und Auferstehung Jesu Christi, ungefähr zeitgleich hervortreten, entwickeln sich die frühe christliche Liturgie und der rabbinische Synagogengottesdienst wohl zum Teil parallel. Ausgehend von einer Grundlage biblischer und (für das Judentum) nachbiblischer Wurzeln ist es dabei offenbar einerseits zu gegenseitigem Austausch und Überschneidungen, andererseits aber auch zu Abgrenzungen und Uminterpretationen gekommen. Wie diese Vorgänge im Einzelnen verlaufen sind, lässt sich schon aufgrund der geringen und sehr lückenhaften Quellenlage heute kaum mehr nachvollziehen. Hinzu kommt: Die Entwicklungsprozesse des rabbinischen Judentums und noch weniger die der christlichen Kirche haben sich keineswegs zeitlich und regional einheitlich vollzogen. Wie es also zu jener Zeit den Synagogengottesdienst nicht gibt, gibt es auch nicht den christlichen Gottesdienst. Das ist vorwegzuschicken, will man verstehen, weshalb für die frühe Zeit des Christentums nur äußerst vorsichtig Aussagen zu Entwicklung und Gestalt des Gottesdienstes getroffen werden können.

Anknüpfen können die Christen sicher an der alten jüdischen Praxis, die Schriften der hebräischen Bibel und der Septuaginta (griechische Fassung des Alten Testaments) zu lesen und immer wiederzulesen. Dies geschieht sicher auch in ihren gottesdienstlichen Versammlungen, wobei die Christengemeinden die biblischen Schriften vor allem im Licht des Christusereignisses lesen. Im Laufe der Zeit kommen die Briefe des Paulus und weiterer Apostel sowie die Evangelien hinzu. Was nun als Heilige Schrift anzusehen ist und die Autorität besitzt, als offenbartes Wort Gottes zu gelten, wird vermutlich nicht zuletzt von dem Kriterium bestimmt sein, welche Schriften man wertschätzt, in den gottesdienstlichen Versammlungen vorzulesen. So hat der Gottesdienst auch auf die Herausbildung des Neuen Testaments und seiner Bücher eingewirkt.

Sicher hat der Psalter des Alten Testaments Einfluss auf den christlichen Gottesdienst genommen. Die Psalmen bilden ja bis heute den Grundbestand der Tagzeitenliturgie und prägen dominierend die Gesänge der römischen Messliturgie. Darüber hinaus lassen sich bereits im Neuen Testament, angeregt von den poetischen Texten des Alten Testaments, frei geschaffene Christuslieder erkennen (vgl. etwa Phil 2,6–11), die möglicherweise einen gottesdienstlichen Hintergrund haben. Auf ihrer Grundlage entwickelt sich dann in den ersten christlichen Jahrhunderten vor allem im Osten eine reiche Hymnodik, wogegen die westliche Kirche aus verschiedenen Gründen solche freien Schöpfungen für die Liturgie, von wenigen überlieferten Ausnahmen abgesehen, weitgehend unterbindet.

Ebenso wurzelt das christliche Beten in vielerlei Hinsicht in der jüdischen Gebetspraxis. Neben dem dreimaligen Gebet am Tag und der leiblichen Ausrichtung nach Osten beim Gebet sind hier vor allem zwei strukturell-inhaltliche Aspekte zu nennen. So übernehmen die Christen die Anrufung des einen und einzigen Gottes, wobei sie allerdings auch das Gebet zu Christus kennen und praktizieren, wie die Geheime Offenbarung mit der Anbetung des Lammes (vgl. Offb 4 – 5) oder das Maranatha (Komm, Herr Jesus) im Eucharistiegebet der Didache (vgl. Did 10,6) zeigen – wiederum Anzeichen für die intensive eschatologische Ausrichtung von Gebet und Gottesdienst in den frühen Christengemeinden.

In der Struktur ihres gottesdienstlichen Betens orientieren sich die Christen vor allem am jüdischen Segensgebet der Berakah (Lobpreis, Segen). Es umfasst den Lobpreis Gottes und den Dank für seine großen Taten in der Heilsgeschichte (Anamnese), die einmünden in die Bitte um sein Wirken jetzt (Epiklese), das die endzeitliche Aufrichtung der Gottesherrschaft schon antizipiert, worauf mit einem Lobpreis (Doxologie) das Gebet beschlossen wird. Diese Struktur des jüdischen Betens bestimmt, inhaltlich nun freilich konzentriert auf das Gedächtnis des Christusereignisses, die großen Gebetsformen der christlichen Liturgie, allen voran das Eucharistische Hochgebet.

Auch die zentralen christlichen Riten der Taufe und der Eucharistie sind von gewissen jüdischen Vorbildern und Traditionen angeregt und beeinflusst. Mit dem Hinweis auf die Mähler Jesu und die jüdische Tradition des religiösen Festmahls (Sabbat, Pessach) klang das bereits für das theologische Verständnis und die liturgische Praxis der frühchristlichen Eucharistie an. Ähnlich ist die christliche Taufe eine Weiterentwicklung der prophetischen Symbolhandlung Johannes des Täufers (vgl. Mt 3,13–17 parr). Weitere Zeichenhandlungen wie Handauflegung, Salbung, Besprengung und das abendliche Lichtentzünden finden sich analog im jüdischen Brauch und haben im christlichen Gottesdienst eine auf Christus bezogene Umdeutung erfahren.

Ebenso kann hier die gottesdienstliche Struktur von Woche und Jahr genannt werden. So zeigen sich im Gedächtnis von Schöpfung und Erlösung inhaltliche Verbindungen zwischen der Feier des jüdischen Sabbats und des christlichen Sonntags, wie sich umgekehrt der Sonntag als Auferstehungstag Christi und als Gedächtnis der eschatologischen Neuschöpfung auch eigenständig fortentwickeln wird. Noch umfänglicher sind die jüdische und die christliche Liturgie in der Feier von Ostern verbunden. Denn die christliche Osterfeier lässt sich nur vom Exodusereignis und von der jüdischen Pessahfeier her verstehen, mit denen sich dann aber aufgrund der besonderen Relevanz des Geschehens von Tod und Auferstehung Christi neue Deutungen und fortschreibende Akzentsetzungen verknüpfen.

Der christliche Gottesdienst war also in vielfacher Hinsicht von der jüdischen Liturgie beeinflusst, hat sie aber auch innovativ fortgeschrieben. Das gilt insbesondere für den Tempel und dessen Opferkult. Als Ort der Gegenwart Gottes und der Reinigung ist er im Christentum obsolet geworden. An seine Stelle tritt, wie schon erwähnt, der auferweckte Leib Christi (vgl. Joh 2,21), sichtbar und gegenwärtig in der Gemeinde der „Heiligen“, wie die Gläubigen im Neuen Testament genannt werden (vgl. 1 Kor 1,2).

Im Mittelpunkt des christlichen Gottesdienstes steht darum weder ein Heiligtum noch ein Altar, sondern die Gemeinde als Leib Christi. Das kennzeichnet der älteste Name für den Gottesdienst: Paulus nennt die Versammlung der korinthischen Gemeinde zum Herrenmahl, in der ihre Identität als Leib Christi immer neu begründet und dargestellt wird, das Zusammenkommen „en ekklesia“ (1 Kor 11,18). Dieser griechische Ausdruck, der zumeist mit „Kirche“ oder „Gemeinde“ wiedergegeben wird, meint aber in erster Linie den Akt des Sich-Versammelns mit dem Herrscher, der seinen Willen kund gibt und dem die Versammlung huldigt. Zu Recht kann man darum sagen: Dieser gemeinschaftliche Akt, das Versammeln zum Herrenmahl, wird schließlich zum charakteristischen Kennzeichen und Begriff für die Gruppe der Christen, also für die Kirche. Sie stellt nun selbst den heiligen Tempel dar (vgl. 1 Kor 3,16 f), der geistgewirkt ist und durch Jesus Christus zusammengehalten wird (vgl. Eph 2,21 f). Alle sollen sich auf ihn, den Eckstein – so der erste Petrusbrief – „als lebendige Steine auferbauen lassen“, zu einem „geistigen Haus“, zu einem „heiligen Priestertum“, welches „geistige Opfer“ darbringt (1 Petr 2,5). Weil Christus in seiner Auferstehung zu Gott erhöht wurde, also in den wahren, himmlischen Tempel eingegangen ist, hat er auch der Gemeinde den Zugang zum Himmel geöffnet. Zwar können die Christen noch nicht eintreten wie Christus (vgl. Hebr 9,12), aber sie können bereits „hinzutreten“, nämlich im Gottesdienst, in dem sie schon jetzt in Gebet und rituellem Handeln zusammen mit dem himmlischen Hofstaat Gott den Lobpreis darbringen (vgl. Hebr 12,22–24). So verbinden sich im Verständnis der Liturgie Himmel und Erde, gehören der Lobpreis des Himmels und der Lobpreis auf Erden zusammen, indem alle vor dem Thron Gottes stehen und Gott anbeten.

In dieser eschatologischen Transformation der jüdischen Tempeltheologie und -liturgie tritt nun an die Stelle der Tier- und Weihrauchopfer das Opfer des Gebets (vor allem das eucharistische Gebet) und anstelle des priesterlichen Kultpersonals treten nun alle Glieder der Gemeinde, die durch die Taufe an der priesterlichen Würde Christi teilhaben.

Gelegentlich hat man von einer „Spiritualisierung“ oder auch „Personalisierung“ des christlichen Gottesdienstes gesprochen. Das ist sicher nicht falsch, aber vielleicht noch markanter ist die hier zutage tretende, schon mehrfach angesprochene eschatologische Dimension des frühchristlichen Gottesdienstes, die alle konkreten Formen mitbestimmt hat.

3. Exemplarische Aspekte frühchristlicher Liturgie

Eucharistie

Der neben der Initiation zweifellos zentrale christliche Gottesdienst ist das seit dem 2. Jahrhundert Eucharistie genannte Kultmahl. Man darf vermuten, dass die in den Evangelien geschilderten Tischgemeinschaften Jesu, einschließlich des letzten Mahls am Vorabend seines Todes bereits gewisse Reflexe auf die eucharistische Praxis der frühen Christengemeinden enthalten. Erinnert sei etwa an die Erzählung von den beiden Emmaus-Jüngern, die den auferstandenen Christus erkennen, als er ihnen das Brot bricht. Hier wird das Brotbrechen am ersten Tag der Woche (Sonntag), also die Versammlung der Kirche zum sonntäglichen Herrenmahl, als Ort der Ostererfahrung und der Gegenwart des Auferstandenen geschildert (vgl. Lk 24,30 f).

Die schon genannte Didache, eine um 100 in Syrien entstandene Kirchenordnung, bezeugt eine Frühform des eucharistischen Betens, die das jüdische Vorbild mit Lobpreis, Dank und Bitte deutlich erkennen lässt. Weil auffälligerweise ein Hinweis auf das Abendmahl und die Passion Jesu fehlt, ist es umstritten, ob es sich hier tatsächlich um Gebete für eine Eucharistiefeier im engeren Sinne oder um Dankgebete für eine christliche Agapefeier handelt. Allerdings muss man bedenken, dass es in den ersten Jahrzehnten noch eine große Vielfalt in Form und Theologie der christlichen Mahlfeiern gibt. Erst im Verlauf des 2. Jahrhunderts setzt sich dann eine größere Vereinheitlichung auf der Grundlage der Abendmahlstraditionen durch. Dazu gehört auch die allmähliche Trennung von eucharistischem Mahl und Sättigungsmahl.

Erstmals bezeugt Justin, ein Philosoph, der gegen 165 in Rom als Märtyrer starb, um 150 die sich später durchsetzende Grundstruktur der Eucharistie (1 Apol. 67,3–5):

„Und an dem nach der Sonne benannten Tag wird eine Versammlung aller gehalten, die in den Städten oder auf dem Land wohnen, und man liest die Denkwürdigkeiten der Apostel oder die Schriften der Propheten (vor), solange es die Zeit erlaubt. Wenn der Vorleser geendet hat, hält der Vorsteher eine Ansprache, durch die er zur Nachahmung dieser schönen (Lehren) mahnt und ermuntert. Danach stehen wir alle zusammen auf und senden Gebete (empor). Und, wie wir bereits gesagt haben, wird, wenn wir das Gebet beendet haben, Brot herbeigebracht und Wein und Wasser, und der Vorsteher sendet Gebete ebenso wie auch Danksagungen empor nach seinem Vermögen, und das Volk stimmt zu, indem es das Amen spricht. Und (dann) geschieht für jeden die Verteilung und der Genuß von den (Gaben), über die Dank gesagt worden ist, und den Abwesenden wird (davon) durch die Diakone gesandt“ (zit. nach Meyer 1989, 101 f).

Hier lassen sich bereits deutliche Grundstrukturen der gottesdienstlichen Versammlung erkennen: Die Gemeinde versammelt sich zu einem Wortgottesdienst mit Schriftlesung, Auslegung und Allgemeinem Gebet („Fürbitten“) sowie zu einer eucharistischen Mahlfeier mit Gabenbereitung, danksagendem Gebet über Brot und Wein sowie Austeilung und stilisiertem Mahl. Auch die Kranken nehmen an der Mahlgemeinschaft teil. Erkennbar beginnen sich in der Gemeindeversammlung Dienste und Ämter zu profilieren, von Vorsteher, Vorleser und Diakonen ist die Rede. Der zentrale eucharistische Gebetsakt ist (noch) nicht fixiert, er wird vom Vorsteher frei improvisiert, freilich nicht ohne gewisse inhaltliche Linien zu beachten. Entsprechend charakterisiert Justin das Eucharistiegebet:

„Dieser [der Vorsteher; JB] nimmt (die Gaben entgegen) und sendet dem Vater des Alls durch den Namen des Sohnes und des Heiligen Geistes Lob und Preis empor und verrichtet eine längere Danksagung dafür, dass wir durch ihn dieser (Gaben) gewürdigt werden. Wenn er die Gebete und die Danksagung beendet hat, stimmt das ganze anwesende Volk mit Amen zu“ (1 Apol. 65,3; zit. nach Meyer 1989, 101).

Demnach besteht das Gebet aus einer Anrufung des Namens Gottes und einem Schöpfungsgedächtnis. Darauf folgt eine längere Danksagung, worin man vielleicht einen Hinweis auf das Gedächtnis des Christusereignisses erblicken darf.

Aber auch für das Zeugnis des Justin gilt: Die geschilderten Strukturen, Dienste und Formen dürfen nicht als die