Zum Buch

 

Thomas Mann hat fast 40 Jahre seines Lebens in München verbracht, dort einen Großteil seiner Werke geschrieben. Seine Frau Katia stammte aus einer angesehenen Münchner Familie, ihre Kinder wuchsen an der Isar auf. Auch seine Mutter, seine Geschwister lebten in München und an anderen Orten in Bayern. Aber ihr Verhältnis zur neuen Heimat war spannungsreich, von Anziehung und Abneigung gleichermaßen geprägt. Die Schwestern verzweifelten, seine Kinder Klaus und Erika flohen schon früh hinaus in die Welt. „Was für eine sonderbare Familie sind wir! Man wird später Bücher über uns – nicht nur über einzelne von uns – schreiben“, notierte Klaus Mann in seinem Tagebuch.

In diesem Sinn erzählt das Buch die Geschichte der Manns – in Bayern. Auch wenn der Nobelpreisträger im Zentrum der Darstellung steht, so finden doch die anderen Mitglieder der Familie ebenfalls Beachtung, werden ihre Lebenswege geschildert zwischen Augsburg, München und Oberammergau.

 

 

 

Zum Autor

 

Dirk Hempel, Dr. phil., geboren 1965, studierte Germanistik und Theaterwissenschaft. Er ist Privatdozent an der Universität Hamburg und arbeitet als Autor und Kurator.

Biografien machen Vergangenheit lebendig: Keine andere literarische Gattung verbindet so anschaulich den Menschen mit seiner Zeit, das Besondere mit dem Allgemeinen, das Bedingte mit dem Bedingenden. So ist Lesen Lernen und Vergnügen zugleich.

Dafür sind gut 100 Seiten genug – also ein Wochenende, eine längere Bahnfahrt, zwei Nachmittage im Café. Wobei klein nicht leichtgewichtig heißt: Die Autoren sind Fachleute, die wissenschaftlich Fundiertes auch für den verständlich machen, der zwar allgemein interessiert, aber nicht speziell vorgebildet ist.

Bayern ist von nahezu einzigartiger Vielfalt: Seinen großen Geschichtslandschaften Altbayern, Franken und Schwaben eignen unverwechselbares Profil und historische Tiefenschärfe. Sie prägten ihre Menschen – und wurden geprägt durch die Männer und Frauen, um die es hier geht: Herrscher und Gelehrte, Politiker und Künstler, Geistliche und Unternehmer – und andere mehr.

Das wollen die KLEINEN BAYERISCHEN BIOGRAFIEN: Bekannte Personen neu beleuchten, die unbekannten (wieder) entdecken – und alle zur Diskussion um eine zeitgemäße regionale Identität im Jahrhundert fortschreitender Globalisierung stellen. Eine Aufgabe mit Zukunft.

 

Dr. Thomas Götz, Herausgeber der Buchreihe, geboren 1965, studierte Geschichte, Germanistik und Philosophie. Er lehrt Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Regensburg und legte mehrere Veröffentlichungen, vor allem zu Stadt und Bürgertum in Bayern und Tirol im 18., 19. und 20. Jahrhundert, vor. Darüber hinaus arbeitet er im Museums- und Ausstellungsbereich.

DIRK HEMPEL

 

 

 

Die Manns

 

 

Der ›Zauberer‹ und seine Familie

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag Friedrich Pustet
Regensburg

Impressum

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

eISBN 978-3-7917-6003-2 (epub)

© 2013 by Verlag Friedrich Pustet, Regensburg

eBook-Prouktion: Friedrich Pustet, Regensburg

Umschlaggestaltung: Martin Veicht, Regensburg

 

Diese Publikation ist auch als Printprodukt erhältlich:

ISBN 978-3-7917-2521-5

 

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1  »München leuchtete«?

»Bombardierung Münchens mit 200 Flugzeugen und größten Kalibern. Die Explosionen bis in die Schweiz hörbar, die Erde viele Meilen weit erschüttert. Der alberne Platz hat es geschichtlich verdient«, notierte Thomas Mann in Pacific Palisades am Abend des 20. September 1942 in seinem Tagebuch. Er litt in diesen Tagen unter der kalifornischen Spätsommerhitze, ging im weißen Anzug auf der Promenade spazieren und arbeitete am vierten »Joseph«-Roman. Die Kämpfe um Stalingrad verfolgte er gespannt, die Deutschen bezeichnete er als »Hitleriten«, das Schicksal der Münchner Bombenopfer interessierte ihn offensichtlich kaum. Ausdruck einer schweren Verletzung, Tiefpunkt einer jahrzehntelangen Beziehung.

Beinahe 40 Jahre hatte er in München gewohnt, ein halbes Leben. Hier hatte er die »Buddenbrooks« und den »Zauberberg« geschrieben, eine Frau gefunden, geheiratet, hier waren seine sechs Kinder zur Welt gekommen. Auch seine Mutter und seine Geschwister hatten in der bayerischen Hauptstadt gelebt. Hier hatte er ein herrschaftliches Haus besessen, gefüllte Bankkonten und zwei luxuriöse Automobile, war er als Nobelpreisträger offiziell gefeiert worden – in München hatte man ihn aber auch geschmäht und verfolgt.

Die Feiern waren schnell vergessen nach 1933, die Angriffe gegen seine Person, seine Familie und seinen Besitz jedoch nicht. Ihn schmerzte im Exil der Verlust des Eigentums, wohl auch eine Zeit lang, dass man ihn nicht zurückgerufen hatte. Dabei war sein Verhältnis zur Kunststadt von Anfang an ambivalent gewesen. Thomas Mann, der Lübecker, nannte seine Wahlheimat nur »die Stadt, in der ich lebe«. Er bezeichnete sie als »albern« und »gefährlich«: »Die Mischung aus bürgerlichem Stumpfsinn, alias Gemütlichkeit, Leichtsinn und Schwabinger Literatur-Radikalismus ist ekelhaft.« Seine Romanfigur Toni Buddenbrook ließ er schon 1901 über die Münchner aussprechen, was er dachte: »Akklimatisieren? Nein, bei Leuten ohne Würde, Moral, Ehrgeiz, Vornehmheit und Strenge, bei unsoignierten, unhöflichen und saloppen Leuten, bei Leuten, die zu gleicher Zeit träge und leichtsinnig, dickblütig und oberflächlich sind … bei solchen Leuten kann ich mich nicht akklimatisieren.« Er hielt die Stadt von Anfang an für »unliterarisch«, sah sie schon in den frühen 20er-Jahren wegen des verstockten reaktionären Geistes, der die Oberhand über das liberale Schwabing gewann, als »Stadt Hitlers«.

Auf der anderen Seite wusste er die Ignoranz der Bewohner auch zu schätzen, weil er sich »hier völlig inkognito« bewegen konnte. Und stammte nicht eines der berühmtesten Zitate über diese Stadt von Thomas Mann: »München leuchtete …«? Er lebte »in Protest und in Ironie gegen seine Umgebung«, erhöhte sich so »das Lebensgefühl«, hielt es also aus in der »Kunststadt« an der Isar, vor allem zwischen Schwabing, Herzogpark und Maximilianstraße. Hier fand er »die alte deutsche Mischung von Kunst und Bürgerlichkeit«, die ihm behagte. Er passte auch kaum in die Provinz, ins schlesische Riesengebirge etwa wie Gerhart Hauptmann, oder wie Bertolt Brecht nach Berlin, die europäische Kulturhauptstadt der 1920er-Jahre.

Kurz vor der Emigration hegte er sogar die Hoffnung, München, »die Stadt der Menschlichkeit, des offenen Herzens, der künstlerischen Freiheit«, könne »Heimat einer deutsch-europäischen Klassik« werden, eine »Stätte, durch die sich Deutschland am besten, am glücklichsten mit der Welt verbinden und versöhnen mag – eine Weltstadt anderen Sinnes als Berlin, eine weltdeutsche Stadt, weltdeutsch wie Goethe es war und durch ihn einst Weimar«. Nach 1945 spielte er mit dem Gedanken, das Angebot der Münchner Stadtoberen anzunehmen und zurückzukehren, »wieder beim Aumeister spazieren« zu gehen. Am Ende aber überwog die Abneigung gegen Deutschland, das ihn, seinen bedeutendsten Schriftsteller, verstoßen hatte. Doch noch kurz vor seinem Tod versprach er sich bei einer Rede in Zürich, bedankte sich beim »Münchner Publikum«.

Die wechselhafte Geschichte Thomas Manns, seiner Mutter und Geschwister, seiner Ehefrau, Kinder und Enkel in München und Bayern zwischen 1894 und der Gegenwart erzählt dieses Buch.

2  Ankunft in München

Von Lübeck nach Bayern

Thomas Mann kam Ende März 1894 nach München. Er war 18  Jahre alt und hatte das Gymnasium in seiner Heimatstadt Lübeck nach dreimaligem Sitzenbleiben in der Obersekunda vorzeitig verlassen. »Ein verkommener Gymnasiast«, wie er später schrieb, der »faul, verstockt und voll liederlichen Hohns über das Ganze« die Jahre abgesessen hatte. Einen, seinen Abschied aus der »engen Vaterstadt« verarbeitete er neun Jahre später in der Erzählung »Tonio Kröger« (1903): »Und er verließ die winklige Heimatstadt, um deren Giebel der feuchte Wind pfiff, verließ den Springbunnen und den alten Walnußbaum im Garten, die Vertrauten seiner Jugend, verließ auch das Meer, das er so sehr liebte, und empfand keinen Schmerz dabei. Denn er war groß und klug geworden, hatte begriffen, was für eine Bewandtnis es mit ihm hatte, und war voller Spott für das plumpe und niedrige Dasein, das ihn so lange in seiner Mitte gehalten hatte.«

Seine Mutter und seine jüngeren Geschwister wohnten schon seit dem Juli 1893 an der Isar. Der vier Jahre ältere Bruder Heinrich lebte als freier Schriftsteller an wechselnden Orten. Der Vater Thomas Johann Heinrich Mann, ein wohlhabender Kaufmann, war 1891 im Alter von 51 Jahren an Blasenkrebs gestorben. Der niederländische Konsul und Lübecker Senator, Minister der norddeutschen Stadtrepublik, hatte immer ein wenig extravagant gelebt, seine Anzüge in London schneidern lassen, russische Zigaretten geraucht und französische Romane gelesen. Thomas war als Nachfolger in der Firma vorgesehen gewesen, aber kurz vor seinem Tod hatte der Vater das Testament geändert. Die 100 Jahre alte Getreidehandlung wurde liquidiert, das Vermögen angelegt.

Die Mutter Julia, geboren 1851, war als Tochter eines Lübecker Kaffeeexporteurs in Brasilien aufgewachsen. Sie galt in der noch mittelalterlich engen Hafenstadt an der Ostsee als exotische Schönheit. Als Witwe zog sie den kunstsinnigen Süden, »die heitere, freiere Luft«, wie sich ihr Sohn Viktor später erinnerte, dem ungeliebten, protestantisch strengen Norden vor. Die Senatorin bezog mit ihren Kindern Julia, genannt Lula, Carla und Viktor eine herrschaftliche Wohnung mit acht Zimmern an der Rambergstraße 2, einer kleinen Straße hinter der Königlichen Akademie der Bildenden Künste an der Grenze zu Schwabing. Die Wohnung lag im Parterre eines Neubaus, der im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde. Die Nachbarn waren standesgemäß: ein Kaufmann und Königlich Württembergischer Konsul und ein adeliger Major, hoher Beamter der Militärjustiz.

 

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Abb. 1  Thomas Mann, Fotografie von 1894

 

 

Die Familien Mann und Bruhns

Die Manns stammten ursprünglich aus Nürnberg und waren Handwerker. Seit dem frühen 16. Jahrhundert sind sie nachzuweisen. Wann sie nach Mecklenburg kamen, ist nicht belegt. In Grabow waren sie im 17. Jahrhundert als Ratsherren tätig, im 18. Jahrhundert in Rostock als Kaufleute und Seefahrer. Von dort ging Johann Siegmund Mann 1775 nach Lübeck, wo er ein »Commissions- und Speditionsgeschäft« gründete, das sich später zum Getreidehandel wandelte. Im Jahr 1794 erhielt er das Bürgerrecht. Er brachte es bis zum »Äldermann der Bergenfahrer«, einer Korporation von Kaufleuten. Er besaß ein geräumiges Haus und Speicher an der Trave. Sohn Johann Siegmund übernahm den Getreidehandel. Er wurde niederländischer Konsul, heiratete die Tochter eines Schweizer Kaufmanns, Elisabeth Marty. Im März 1848 starb er an einem Schlaganfall. Sein ältester Sohn, Kaufmann und Konsul Thomas Johann Heinrich Mann, geboren 1840, führte die Firma ab 1862 fort und wurde später Senator für Wirtschaft und Finanzen der Stadtrepublik, der wichtigste Politiker nach dem Bürgermeister, Minister eines deutschen Bundesstaates. Er heiratete 1869 Julia da Silva Bruhns, die Tochter des Weinhandelskaufmanns Johann Ludwig Bruhns, dessen Vorfahren ebenfalls aus Rostock nach Lübeck gekommen waren. Er gründete 1841 in São Paulo eine Exportfirma für Kaffee und Zucker, heiratete die Portugiesin Maria da Silva und wurde ein reicher und angesehener Mann. Als sie 1856 starb, brachte der Witwer seine sechs Kinder nach Lübeck zurück, unter ihnen die fünfjährige Julia. In Lübeck wuchs sie in einem Pensionat auf. Thomas Johann Heinrich Mann lernte sie auf einem Ball kennen. Sie bezogen ein Haus in der Breiten Straße. Hier und bald im neugebauten repräsentativeren Haus in der Beckergrube wurden ihre fünf Kinder geboren: Luiz Heinrich (geb. 1871), Paul Thomas (1875), Julia (1877), Carla (1881) und Viktor (1890).

 

 

Das Familienleben in München

Wenig ist bekannt über das Leben der Familie Mann in den ersten Jahren in München; es existieren nur spärliche Aufzeichnungen. Viktor Manns Lebenserinnerungen »Wir waren fünf« (1949) stellen die wichtigste Quelle dar, neben einigen literarisierten Schilderungen in den Werken Thomas Manns. So lässt er etwa in dem Roman »Doktor Faustus« (1947) den Komponisten Adrian Leverkühn, die Hauptperson, nach München ziehen: »Er wohnte in der Rambergstraße, nahe der Akademie, als Untermieter einer Senatorswitwe aus Bremen namens Rodde, die dort in einem noch neuen Hause mit ihren beiden Töchtern eine Wohnung zu ebener Erde innehatte. Das nach der stillen Straße gelegene Zimmer, gleich rechts neben der Entreetür, das man ihm abtrat, sagte ihm wegen seiner Reinlichkeit und sachlich-familiären Einrichtung zu, und bald hatte er es sich mit seiner persönlichen Habe, seinen Büchern und Noten vollends gerecht gemacht.«

Das Esszimmer der Familie Mann dominierten ein hohes Büfett und ein ausladender Tisch, von Löwenpranken gehalten. Im Salon stand ein Bechstein-Flügel, auf dem einst der Erste Kapellmeister des Lübecker Stadttheaters die Senatorin begleitet hatte. Julia Mann spielte immer noch täglich darauf und sang dazu Lieder von Grieg, Chopin und Wagner. Die Wohnung lag dem historistischen Geschmack der Zeit entsprechend im Halbdunkel schwerer Samtvorhänge. Kübelpalmen, chinesische Bodenvasen, Büsten griechischer Göttinnen auf Postamenten, hohe Bücherschränke mit dem bilderreichen »Deutsch-Französischen Krieg«, dem von den älteren Brüdern zerblätterten »Land der Pyramiden«, an den Wänden niederländische und italienische Landschaftsdarstellungen, ein Dutzend feine, von Heinrich für die Mutter bemalte Porzellanteller mit bärtigen Sultanen, Rittern und Damen. Die Attraktion bildete ein ausgestopfter sibirischer Braunbär mit einer Schale für Visitenkarten in den Tatzen. Thomas Mann schilderte ihn später in dem Roman »Buddenbrooks« (1901). Der Zigarrenschrank des verstorbenen Vaters, dem noch der Duft des Tabaks entströmte, verbreitete für den kleinen Viktor das »Arom ›Lübecks‹«. Das gab es auch an Weihnachten, mit Niederegger Marzipan, Äpfeln, Feigen, Nüssen, Datteln, Braunen Kuchen und dem in »Buddenbrooks« geschilderten »Plettenpudding«.

 

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Abb. 2  Carla Mann mit dem ausgestopften Bären, Fotografie um 1896

 

Jedes Kind hatte ein eigenes Zimmer. Selbst für den gelegentlich anreisenden Heinrich wurde ein Raum vorgehalten, ihm war aber »München und das Familienleben gleichmäßig immer unleidlicher geworden«, wie er schon 1893 in einem Brief schrieb. Dazu gab es Kammern für Kinder- und Hausmädchen. Zur Wohnung gehörte ein Garten, der von einer Steinmauer und Fliederbüschen eingefasst war. Von der Terrasse führten Stufen zum Rasen hinunter. Im Sommer trank die Familie an den geruhsamen Münchner Nachmittagen unter einem braunen Segeltuchzelt ihren Tee. Von der Straße drang das leise Geräusch von Pferdehufen und Droschkenrädern herein. Hinter der Mauer spielten die Straßenjungen. Ein Kiesweg führte zu Stallungen, in denen die Offiziersburschen die Pferde striegelten. Dahinter leere Flächen, Bauplätze, das sich eben erst von einem Bauerndorf zum Stadtteil wandelnde Schwabing.

Die Geschwister

Thomas Mann und seine Geschwister: Julia, mit ihren 17 Jahren ein »wortgewandtes Wesen mit stolzer Haltung und ausgesprochenem Hang zur Repräsentation«, wie sich Viktor später erinnerte, und die zu Ohnmachten neigende, bleichsüchtige Carla, ein 13-jähriges Mädchen »mit enormem Appetit«, dichtende Backfische in weißen Kleidern. Der vierjährige Viktor hingegen in kurzer Lederhose, mit langen wilden Locken, der Löwenmähne, in der Obhut eines Kindermädchens, das mit ihm im Englischen Garten spazieren ging. Bayerische Dialektausdrücke durfte er nicht benutzen, aber von den Nachbarskindern konnte sie ihn nicht lange fernhalten: Er befreundete sich mit dem Sohn des Hausmeisters, aß Schmalzbrote in der Bedienstetenwohnung.

Der Umzug nach München bedeutete für Thomas Mann auch ein Wiedersehen mit dem damals noch verehrten Bruder Heinrich, der Ende April aus Italien zurückkehrte, wo er eben seinen ersten Roman beendet hatte. Im Jahr 1889 hatte Heinrich das Lübecker Gymnasium ohne Abschluss verlassen und in Dresden eine Buchhändlerlehre angefangen. Im folgenden Jahr zog er nach Berlin, begann ein Volontariat im dortigen S. Fischer Verlag, dem führenden deutschen Verlag der literarischen Moderne, und hörte daneben Vorlesungen an der Universität. Lungenblutungen brachten ihn ins Sanatorium, zu Kuraufenthalten nach Wiesbaden und Lausanne. Der Vater hatte in seinem Testament bestimmt, es sei »den Neigungen meines ältesten Sohnes zu einer s. g. literarischen Tätigkeit entgegenzutreten. Zu gründlicher, erfolgreicher Tätigkeit in dieser Richtung fehlen ihm m. E. die Vorbedingnisse, genügendes Studium und umfassende Kenntnisse. Der Hintergrund seiner Neigungen ist träumerisches Sichgehenlassen und Rücksichtslosigkeit gegen andere, vielleicht auch Mangel an Nachdenken.« Dennoch arbeitete er seit Jahren an einem Roman, der, finanziert von seiner Mutter, 1894 unter dem Titel »In einer Familie« in einem Münchner Verlag erschien. Die Brüder verstanden sich gut, das »freundschaftliche Verhältnis« steigerte sich in München zu »wahrhaft brüderlicher Intimität«. Zwischen Juli und Oktober hielt sich Heinrich in Berlin auf, arbeitete an Novellen, die er dem begeisterten Bruder vorlas (»Das Wunderbare«, »Contessina«), bevor er Ende Dezember 1894 für längere Zeit nach Rom reiste.

 

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Abb. 3  Julia Mann mit Viktor, Fotografie um 1897

 

Julia Manns Salon

Die Senatorenwitwe führte ein gastfreundliches Haus. An Lübeck, für Viktor ein »märchenschöner Ort«, erinnerte nur noch ein Gemälde in seinem Kinderzimmer, Türme, Giebel, Segelschiffe. In ihrem Salon gaben nun Münchner Lokalgrößen den Ton an, ein großer Kreis von Freunden und Bekannten, vor allem Musiker, Dirigenten, Komponisten und Künstler aller Art, etwa die Maler Leo Putz und Baptist Scherer, aber auch kunstsinnige Beamte, Freunde der ältesten Söhne und Tanzstundenherren der Töchter, zumeist ernste Fähnriche von der königlich bayrischen Kriegsschule. Eine »künstlerische oder halbkünstlerische Welt«, wie es in dem Roman »Doktor Faustus« heißt, »eine sozusagen stubenreine Bohème, gesittet und dabei frei, locker, amüsant genug, um die Erwartungen zu erfüllen, die Frau Senator Rodde bestimmt hatten, ihren Wohnsitz von Bremen nach der süddeutschen Hauptstadt zu verlegen«. Das Hausmädchen reichte Tee mit Rum, Anchovisbrötchen und englisches Gebäck.

München war unter Prinzregent Luitpold, dem Nachfolger Ludwig II., schon vor der Jahrhundertwende zur führenden Kunstmetropole aufgestiegen. Bedeutende Museen wie die Pinakotheken, die Glyptothek, das Völkerkunde- und das Nationalmuseum standen den Berliner Einrichtungen in ihrer Bedeutung kaum nach. Die bayrische Residenz sei, so Thomas Mann, »die Stadt der bildenden und schmückenden Künste; die Lebensform des ›Kunstmalers‹ ist hier die allerlegitimste«.

Malerfürsten wie Franz von Lenbach, Friedrich August von Kaulbach und Franz Stuck hielten Hof, der Monarch besuchte selbst unbekannte Künstler in ihren Ateliers, »Malweiber« bildeten sich in privaten Kunstschulen aus. Der an der Kunstakademie gepflegte Stil der Münchner Schule zog junge Künstler aus ganz Europa an, so dass Pablo Picasso 1897 in einem Brief schrieb: »Wenn ich einen Sohn hätte, der Maler werden möchte, würde ich ihn nicht einen Augenblick in Spanien festhalten, und glauben Sie nicht, dass ich ihn nach Paris schicken würde (wo ich gerne selber wäre), sondern nach München.«

»Der Büreaudichter«

Thomas Mann aber ging scheinbar vorerst andere Wege, erlernte, wie es der Vormund des Minderjährigen bestimmt hatte, einen bürgerlichen Beruf. Am 1. April 1894, wenige Tage nach seiner Ankunft in München, trat er als unbezahlter Volontär in die Süddeutsche Feuer-Versicherungsbank ein. Aus dem Vermögen des Vaters erhielt er monatlich 180 Mark, davon ließ es sich angenehm leben, selbst wenn er noch Geld für Kost und Logis an seine Mutter abgeben musste.

Das Büro der Versicherung lag im ersten Stock eines Hauses an der Salvatorstraße 18. »Unter schnupfenden Beamten kopierte ich Bordereaus«, also Listen der zu versichernden Gegenstände. Mittags aß er in billigen Wirtshäusern Suppe oder Braten mit Beilage. Dem kleinen Bruder Viktor imponierte besonders ein Drehstuhl, den er bei einem Besuch seines Bruders »Ommo«, der ihm lange wie ein Onkel vorkam, ausprobierte. Allerdings dachte Thomas Mann nicht daran, Versicherungsbeamter zu werden. Er hatte sich aus der Heimat davongemacht, wie er später schrieb, »um mit sonderbarer Sorglosigkeit das Wagnis eines Künstlerdaseins einzugehen«. Die Stelle nahm er nur an, um seine Mutter zu beruhigen – »das Wort ›vorläufig‹ im Herzen«. Im Notizbuch hatte er bereits eine Liste mit Novellentiteln angelegt, die er sich vorgenommen hatte, darunter »Der Büreaudichter«. Und unter den Policenformularen lag auf dem Schrägpult das Manuskript der ersten Erzählung.

3  Wege zum Ruhm: Von »Gefallen« bis »Buddenbrooks«

»Jener etwas unbestimmte Beruf«

»Gefallen« erschien im Oktober 1894 in der naturalistischen Zeitschrift »Die Gesellschaft« und hatte einen »Bombenerfolg«, wie Thomas Mann einem Freund schrieb. Die Erzählung über Gespräche eines Herrenabends zum Thema Frauenemanzipation machte ihren 19-jährigen Verfasser auf einen Schlag in der literarischen Szene Münchens und darüber hinaus bekannt. Auch wenn er zu seinem Ärger statt eines Honorars nur drei Freiexemplare erhielt, schien der Einstieg des Debütanten gelungen: »Hier in München redet mich wenigstens jeder Mensch auf die Geschichte hin an.« Richard Dehmel, ebenfalls Versicherungsangestellter, aber bereits auf dem Weg zu Dichterruhm, sprach von »einfacher, seelenvoller Prosa«, erbat sich Erzählungen für die neue, bedeutende literarische Zeitschrift »Pan«, die diese dann jedoch ablehnte, und gab dem Neuling einige fachmännische Ratschläge.

Der »Büreaudichter« hatte der Feuerversicherung bereits im August 1894 gekündigt – mithilfe ihres Anwalts überzeugte er die besorgte Mutter: »Unter seiner Zustimmung erklärte ich ›Journalist‹ werden zu wollen, ließ mich an den Münchner Hochschulen, der Universität und dem Polytechnikum, als Hörer eintragen und belegte Vorlesungen, die geeignet schienen, mich auf jenen etwas unbestimmten Beruf allgemein vorzubereiten.«

Nicht Journalist war sein eigentliches Ziel, sondern »freier Schriftsteller«, wie sein bewunderter Bruder Heinrich. Dafür galt es, Wissen zu erwerben. »Unter die Lyriker gehen […] und verhungern«, das wollte er denn doch nicht, wie es in einem Brief heißt. Thomas Mann besuchte fortan die Königliche Bibliothek und die Akademische Lesehalle, belegte als Gasthörer im Wintersemester 1894/95 und im folgenden Sommer an der Technischen Hochschule etliche Vorlesungen, für eine Gebühr von 2,50 Mark pro Semester und Wochenstunde. Nationalökonomie bei Max Haushofer fesselte ihn anfangs am meisten. Er hörte aber auch über Mythologie, Kunstgeschichte (v. a. altägyptische Tempelbauten), über deutsche Geschichte und Literaturgeschichte, erwarb Kenntnisse, wie das erhaltene »Collegheft« dokumentiert, die sich in den späteren Werken nachweisen lassen. Alle Vorlesungen waren so gewählt, dass sie nach 15 Uhr begannen, weil der Student bis mittags, zuweilen bis in den Nachmittag schlief.

Im Sommer 1895 ließ sein Interesse an der Wissenschaft allmählich nach. Dem »Akademisch-dramatischen Verein« war er schon im Januar beigetreten, der durch Lesungen und Aufführungen vor einem aufgeschlossenen, zahlungskräftigen Publikum die Literatur der beginnenden Moderne, vor allem den Naturalismus, nach München bringen wollte. Im Juni 1895 spielte Thomas Mann in Ibsens »Wildente« unter der Regie Ernst von Wolzogens den Großhändler Werle, aufgeführt im Orpheum, Sonnenstraße 12.

Danach fuhr er mit seiner 14-jährigen Schwester Carla nach Neubeuern bei Rosenheim und weiter ins österreichische Kufstein, erlebte erstmals bewusst die Berge und das Ausland.

Der Schwabinger Schlawiner

Zurück in München blieb seine Lebensführung »sehr unsolide«, wie er einem Jugendfreund schrieb. Dazu gehörten die »Kaffeehauskumpanei« im Akademisch-dramatischen Verein, vorzugsweise im Café Central am Odeonsplatz, die Proben, Theater- und Konzertbesuche, »immer drei Viertel des Tages und drei Viertel der Nacht dem Schreibtisch fern!« Er verbummele ganz und gar, berichtete Thomas Mann dem Jugendfreund, trinke Wein, komme immer erst morgens zwischen vier oder halb fünf Uhr nach Hause, »wenn es schon ganz hell war und alle Vögel zwitscherten«.

Thomas Mann, der Senatorensohn aus der vornehmen norddeutschen Stadtrepublik, war zum »Schlawiner« geworden, zum Mitglied einer neuen Boheme der »Zugereisten«. Sie trafen sich zwischen Maxvorstadt und Schwabing, dem gerade entstehenden Stadtteil hinter Kunstakademie und Universität. Die Maß Bier kostete in der Schwabinger Brauerei nur 22 Pfennig, aber sich unbürgerlich gebende Künstler aller Art ließen bei ihren Wirten anschreiben: »Maler, Bildhauer, Dichter, Modelle, Nichtstuer, Philosophen, Religionsstifter, Umstürzler, Erneuerer, Sexualethiker, Psychoanalytiker, Musiker, Architekten, Kunstgewerblerinnen, entlaufene Töchter, ewige Studenten, Fleißige und Faule, Lebensgierige und Lebensmüde«, wie sich Erich Mühsam, Apothekersohn aus Lübeck und späterer anarchistischer Schriftsteller, Ende der 1920er-Jahre erinnerte. Eine »Massensiedlung von Sonderlingen«, die gegen die engen Konventionen der bürgerlichen Gesellschaft aufbegehrten, auch gegen das übermächtige »Berlin« und den Wilhelminismus, für freie Sitten und freie Liebe eintretend, »ein ewiges Fest« inszenierend, die Männer zuweilen langhaarig, die Frauen mit kurzgeschorenem Haar.