Zum Buch

 

Multikulturalität in München

 

Seit ihrer Gründung ist die Mönchssiedlung an der Isar Wanderziel und Auffangbecken, Schmelztiegel für Menschen verschiedenster Völker und Religionen. Diese Dynamik führte über Perioden hinweg immer wieder zu Spannungen mit der „Stammbevölkerung“. Beschrieben wird dieser bis heute anhaltende Prozess u. a. am Beispiel der zugezogenen Juden, Mönche, Muslime, Sudetendeutschen, Sinti, Schwarzen, Gast-und Zwangsarbeiter – und schließlich auch in Hinblick auf die gegenwärtige Flüchtlingswelle. Karl Stankiewitz, der als Münchner Journalist oftmals über den Umgang der Landeshauptstadt mit gesellschaftlichen Minderheiten berichtete, zeigt, wie tolerant oder unduldsam, wie aufgeschlossen oder ablehnend sich die Stadtgesellschaft „den Anderen“ gegenüber verhalten hat und verhält, wie schwierig die – nicht von allen gewollte – Integration immer war und auch heute noch ist.

 

 

 

Zum Autor

 

Karl Stankiewitz,
geb. 1928, ist Journalist und Buchautor; zahlreiche Veröffentlichungen zum Thema München, Bayern und Zeitgeschichte.

KARL STANKIEWITZ

Minderheiten in München

Zuwanderung, Ausgrenzung, Integration – vom Mittelalter bis zur Gegenwart

VERLAG FRIEDRICH PUSTET

REGENSBURG

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

eISBN 978-3-7917-6065-0 (epub)

© 2015 by Verlag Friedrich Pustet, Regensburg

eBook-Produktion: Friedrich Pustet, Regensburg

Umschlaggestaltung: Martin Veicht, Regensburg

 

Diese Publikation ist auch als Printprodukt erhältlich:

ISBN 978-3-7917-2705-9

 

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Informationen und Bestellungen unter verlag@pustet.de

»MÜNCHEN WILL GAR NICHT ERÖRTERT, MÜNCHEN WILL GELEBT UND GELIEBT SEIN.« Wer möchte Ernst Heimeran (1902–1955) ernsthaft widersprechen? Doch vielleicht wird man ihn ergänzen dürfen, ihn, den großen Verleger und Autor, der in Schwabing das Gymnasium besuchte und wie viele als „Zuagroaster“ in München Wurzeln schlug: Die Liebe zur ersten oder zweiten Heimat schließt die Kenntnis über sie nicht aus – und umgekehrt.

Die Geschichte einer Stadt ist ebenso unerschöpflich wie die Geschichten, die in ihr spielen. Ihre Gesamtheit macht sie unverwechselbar. Ob dramatische Ereignisse und soziale Konflikte, hohe Kunst oder niederer Alltag, Steingewordenes oder Grüngebliebenes: Stadtgeschichte ist totale Geschichte im regionalen Rahmen – zu der auch das Umland gehört, von dem die Stadt lebt und das von ihr geprägt wird.

München ist vergleichsweise jung, doch die über 850 Jahre Vergangenheit haben nicht nur vor Ort, sondern auch in den Bibliotheken Spuren hinterlassen: Regalmeter über Regalmeter füllen die Erkenntnisse der Spezialisten. Diese dem interessierten Laien im Großraum München fachkundig und gut lesbar zu erschließen, ist die Aufgabe der Kleinen Münchner Geschichten – wobei klein weniger kurz als kurzweilig meint.

So reichen dann auch 140 Seiten, zwei Nachmittage im Park oder Café, ein paar S- oder U-Bahnfahrten für jedes Thema. Nach und nach wird die Reihe die bekannteren Geschichten neu beleuchteten und die unbekannteren dem Vergessen entreißen. Sie wird die schönen Seiten der schönsten Millionenstadt Deutschlands ebenso herausstellen wie manch hässliche nicht verschweigen. Auch Großstadt kann Heimat sein – gerade wenn man ihre Geschichte(n) kennt.

 

 

DR. THOMAS GÖTZ, Herausgeber der Buchreihe, lehrt Neuere/Neueste Geschichte an der Universität Regensburg und forscht zu Stadt und Bürgertum in der Neuzeit.

Wie tolerant ist diese Stadt?

„München ist eine weltoffene, tolerante und bunte Stadt. Menschen vieler Nationen, Kulturen und Religionen sind hier zu Hause. Humanität, Solidarität und Demokratie sind die Grundwerte, die unser kommunales Zusammenleben tragen. Das Miteinander von Menschen verschiedener Herkunft gehört zur Geschichte unserer Stadt und wird ihre Zukunft sein. Wir setzen uns entschlossen für Menschenwürde, kulturelle Vielfalt und Freiheit ein.“

 

Mit dieser Resolution beantwortete die große Mehrheit des Münchner Stadtrats am 1. Oktober 2014 den Versuch einer extremistischen Gruppe, ihr Mütchen wieder einmal an einer Minderheit anderen Glaubens zu kühlen. Sieben Tage später forderte der Stadtrat in einem Positionspapier eine „neue Kultur im Umgang mit Zuwanderern“.

Schon wahr, Toleranz herrschte in dieser Stadt über all die Jahrhunderte, unter fast allen Regimen. Und sogar mehr als Toleranz ist den altansässigen und neuen Bewohnern Münchens von Mensch zu Mensch stets zuteilgeworden: Verständnis, Schutz und Hilfe für die freiwillig oder unfreiwillig Zugewanderten und Andersartigen, für die Armen, Leidenden, Obdachlosen, Asylsuchenden.

München war und ist Heimat für alle – auch für alle „Anderen“. Menschen, deren Sprache, Religion, Nationalität, Sexualität, Weltanschauung, Hautfarbe, ethnische Zugehörigkeit, körperliche oder geistige Verfassung, Lebens- oder Arbeitsweise nicht den Normen der angestammten Bevölkerung entsprechen, hat die attraktive, dynamische Haupt- und Residenzstadt allzeit magisch angezogen, beherbergt und eingebürgert. Jene haben Minderheiten gebildet, viele dieser „Andersartigen“ haben sich organisiert. Die Stadtgesellschaft hat sie toleriert, integriert und zu eigenem Nutzen gefördert – früher oder später, mehr oder weniger.

Derartige Prozesse der Verschmelzung vollzogen sich, verfolgt man die Stadtchronik, besonders in den Epochen kultureller oder wirtschaftlicher Blüte sowie in kriegerischen Zeiten. Es gab und gibt aber auch Minoritäten, die von vornherein Misstrauen und Missachtung begegneten, die systematisch ausgegrenzt wurden, die nicht selten mit Duldung der Obrigkeiten verfolgt und aus dem „Schmelztiegel München“ eliminiert wurden. Die Abwehr des „Abnormen“ war durchaus nicht die historische Ausnahme, sondern zeitweise geradezu die bürgerliche Normalität. Wiederum Andere wurden durch Selbstverschulden oder durch „des Geschickes Mächte“ isoliert oder an den Rand der Gesellschaft, teilweise buchstäblich an den Rand der Stadt gedrängt. So haben sich in der Wachstumsregion München neben dem eigentlichen Bürgertum allerlei Parallelgesellschaften festgesetzt und ausgebreitet.

Dieses Buch will indes keine soziologische Untersuchung sein, sondern Geschichten einiger Minderheiten seit der Stadtgründung erzählen. Der Braunschweiger Heinrich der Löwe war ja bereits auf ein kleines Bevölkerungskollektiv gestoßen, das nach dem heute so modischen Begriff einen Migrationshintergrund hatte: auf Mönche, wie sie sich, oft aus Irland kommend, seinerzeit im Alpenvorland niedergelassen und als erste Missionare betätigt hatten.

Dann, im Mittelalter, war München ein beliebtes Wanderziel für Juden, für „Ägyptenleute“ (bald hießen sie „Zigeuner“) und andere Fremde, die man später pauschal als „Nichtarier“ denunzierte. Im 19. Jahrhundert wurde die Stadt ein großes Auffangbecken für Arbeitssuchende und Asylanten. Sie wurde auch Tummelplatz für Aufklärer, Sektierer und Revolutionäre allen Kalibers. Organisierte Kommunisten, wie sich die revolutionären Sozialisten ab 1918 nannten, wurden noch in der Adenauer-Zeit diskriminiert.

Jahrzehnte der Toleranz und des friedlichen Zusammenlebens wechselten sich ab mit Ausbrüchen von Angst und Vorurteil, von Hass und Hysterie. Verstärkte Zuwanderungen, wirtschaftliche, industrielle und demografische Entwicklungen erforderten immer wieder neue Standards. Die latent feindlichen Auseinandersetzungen zwischen der Mehrheit und den meisten Minderheiten erreichten – nicht nur in München, aber hier besonders – einen traurigen Höhepunkt in der Ägide des Nationalsozialismus; die Folgen werden heute noch abgearbeitet.

So hat denn auch das Gegenteil von Toleranz und Empathie immer wieder den Organismus der später so genannten „Weltstadt mit Herz“ vergiftet: kleinliche Ablehnung, egoistische Ausgrenzung, Unterdrückung, Verfolgung, Rassismus, Fremdenhass bis hin zur Idee und Realisierung physischer Vernichtung. So wie die Minderheiten wechselten, so wechselte der Umgang mit ihnen. München, die Fremdenverkehrsmetropole, war und ist in dieser Art des Umgangs mit dem Fremden nicht besser und nicht schlechter als andere Stadtgemeinschaften. Bürger und Behörden, aber auch Presse und verantwortliche Politiker könnten sich Schuld und Verdienst teilen.

Viele dieser Minoritäten und viele ihrer Exponenten verursachten Unruhe allerdings nur für eine begrenzte Zeitspanne, indem sie jeweils bestimmende Maximen oder Werte in Frage stellten und das bürgerliche Establishment herausforderten. Oft mischten sie sich – zum Beispiel die ersten eingewanderten Protestanten – nach Abklingen von Antipathie und Gegenwehr vollkommen mit der Mehrheit. Was man heute Integration nennt.

Übrigens waren es fast immer einzelne Bürger oder Bürgerinitiativen und weniger die städtischen Apparate, die sich als Erste für bedrohte Minderheiten eingesetzt haben – für sehr unterschiedliche Minderheiten, die wiederum vielfach miteinander verflochten waren.

Dieser Band beschränkt sich auf solche Minderheiten, die der Stadt ursprünglich von außen zugewachsen sind. Viele werden heute im offiziellen Sprachgebrauch und im weitesten Sinne als „Bürger mit Migrationshintergrund“ bezeichnet. Daneben aber existieren Randgruppen, die sich aus der Gesellschaft selbst gebildet haben, von ihr eher missachtet als akzeptiert wurden und oft noch werden – Menschen, deren ideologischer, sozialer, moralischer, sexueller, gesundheitlicher Status den Normen deutlich widerspricht, zum Beispiel Anarchisten, Rechtsradikale, Separatisten, Tagelöhner, Bettler, Homosexuelle, Prostituierte, Geistes- und Seuchenkranke, Gefangene, Obdachlose. Diesen und einigen anderen Gruppen wird sich ein weiterer Band dieser Reihe widmen.

Der lange Leidensweg der Münchner Juden

Er hieß wie der Stammvater des Volkes Israel. War er auch Stammvater der israelitischen Gemeinde Münchens? Jedenfalls benennt die Stadtchronik im Jahr 1229 einen „Abraham de Municha“ als Zeugen in einem Regensburger Rechtsgeschäft. Was nicht ausschließt, dass außer dem Mann mit dem biblischen Namen und schon vor ihm zugewanderte Juden in der noch jungen Isarstadt (1158 erstmals erwähnt) wohnten und vielleicht als Handwerker oder Händler ihr Brot verdienten. (In der Reichsstadt Regensburg und in Franken waren Juden schon lange zuvor nachgewiesen, in Köln sogar schon seit dem 4. Jahrhundert).

Der nächste Eintrag findet sich in der amtlichen Chronik der Herzogs- und Bürgerstadt für den 12. Oktober 1285, einem Freitag – er markiert den Anfang einer langen Leidensgeschichte: „Es findet ein schreckliches Pogrom statt, dem fast die ganze damalige Judenschaft der Stadt zum Opfer fiel.“ Was war geschehen?

Das Gerücht verbreitete sich in der Stadt mit Windeseile: Die Juden hätten von einem „alten Weib“ ein Christenkind „käuflich an sich gebracht“ und es dann ermordet. Der Funke der Feindseligkeit fällt auf brennbaren Boden. Aberglaube und religiöse Schwärmerei bis hin zum Fanatismus haben während der Kreuzzüge um sich gegriffen. Dazu gehört auch die weit verbreitete Vorstellung, dass der Ritualmord der mosaischen Religion anhafte wie ein schlechter Geruch.

Etwa 50 000 Juden sollen schon im 11. Jahrhundert in Europa als „Christenmörder“ umgebracht worden sein. Die Übriggebliebenen wurden in Ghettos gedrängt und in jeder Hinsicht ausgegrenzt. Vergebens hat Papst Gregor IX. (1227–1241) jedem Christen, der sich am Leben von Juden vergeht, die Todesstrafe angedroht. Nirgendwo sind die Judenverfolgungen schlimmer als im Herzogtum Baiern. Die Verschuldung des Herrscherhauses ist gewiss eine der Triebkräfte, neben Vorurteilen und falschen Verdächtigungen in einer in sich geschlossenen Bürgerschaft.

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Abb. 1:
Judenverbrennung in der Schedelschen Weltchronik, 1493

So wird das – wie auch immer manipulierte – Gerücht vom Kindsmord in München zum Zündfunken für den ersten großen Gewaltausbruch in der noch jungen Stadt. Am 12. Oktober 1285 (nach jüdischer Zeitrechnung der 12. Marcheschwan 5046) stürmt der besonders im Angerviertel ansässige „Pöbel“ – dieser abwertende Ausdruck findet sich ohne genauere Kennzeichnung in etlichen Chroniken – das Judenviertel (auf dem Areal des heutigen Marienhofes) und erschlägt zahlreiche Bewohner. „Darumb das sie ain kristenkind getötet heten“, wie der Geschichtschreiber Veit Arnpeck (1440–1505) später feststellen wird.

Wer dem ersten Wüten entkommt, rettet sich in den Betraum im Judengässlein. Zwar bietet der Kreuzzug-Teilnehmer Herzog Ludwig der Strenge, der das Schutz- und Zollrecht über die Juden innehat, den bedrängten Bürgern seine Hilfe an, doch es ist zu spät. Schon schlagen die Flammen aus dem Raum, der mit herzoglicher Erlaubnis für Gebetszwecke eingerichtet worden war.

Wie viele Menschen dem ersten Pogrom in der Residenzstadt der nunmehr herrschenden Wittelsbacher zum Opfer fielen, ist strittig. „180 Seelen fanden in den Flammen den Tod“, vermerkt Hans Lamm, langjähriger Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde und Verfasser mehrerer Bücher zur jüdischen Landesgeschichte. 67 Tote nennt eine Publikation des Stadtarchivs zu einer Ausstellung über die Münchner Synagogen. Beide Dokumentationen zitieren als Quelle das „Nürnberger Memorbuch“ von 1296, das allerdings auch „Märtyrer“ anderer Gemeinden einbezieht.

Schon zwei Jahre später lassen sich wieder Juden in München nieder. Doch das nächste Pogrom folgt bereits 1345 und fordert wieder seine Opfer. Wieder ist das Ritual-Märchen der Auslöser für offenbar – nun auch aus wirtschaftlichen Konkurrenzgründen – angestauten Hass auf die Neubürger. 1349 beschuldigen fanatische Wortführer die Münchner Juden, die städtischen Brunnen vergiftet zu haben und so schuld zu sein am großen Übel des Jahrhunderts, der Pest. Die Unsinnigkeit ergibt sich allein schon aus dem grausigen Fazit: In München hat der Schwarze Tod ungefähr ein Viertel der christlichen, aber drei Viertel der jüdischen Bevölkerung dahingerafft.

Finsteres Mittelalter: Nicht nur der „Pöbel“ findet immer wieder seine Opfer, auch Patrizier, auch Fürsten und ihre Büttel schrecken vor Gemeinheiten und Grausamkeiten gegen unangepasste Untertanen nicht zurück. 1412 lässt Baiern-Herzog Heinrich, den man den Reichen nennt, zu Landshut aufsässige Bürger reihenweise köpfen, blenden oder verbannen. Im folgenden Jahr erlebt die Stadt München erneut eine blutige Verfolgung ihrer ohnedies vielfach unterdrückten jüdischen Bevölkerung. Jetzt liefert eine angebliche Hostienschändung den Vorwand.

1442 kommt es abermals zu einem Pogrom, das mit der Vertreibung der letzten jüdischen Familien aus München endet. Die Synagoge schenkt Herzog Albrecht III., den man den Frommen nennt, seinem Leibarzt. Der wandelt sie in eine unterkellerte Marienkapelle um, die er auf den Namen „Unsere Liebe Frau in der Gruft“ tauft. Von da an existiert in München keine Judengasse mehr, sondern nur noch eine Gruftgasse. Juden gibt es 250 Jahre lang in dieser Stadt auch keine mehr – und folglich keinen Antisemitismus und keine Pogrome. Durchreisen durften Juden während dieser Zeit nur gegen „Geleitgeld“.

Das Ghetto

Schon seit dem frühen Mittelalter bildeten sich in europäischen Städten jüdische Ghettos. Es handelte sich um abgesonderte Wohnviertel für Bürger mosaischen Glaubens, die in der Regel nachts und an Feiertagen von außen zugeschlossen wurden. Ihren Bewohnern, die meist in sehr beengten Verhältnissen lebten, waren nur bestimmte Arbeiten in Handwerk und Handel erlaubt, und es gab viele andere Restriktionen. In manchen Städten mussten sich Juden zu erkennen geben, wenn sie das Ghetto verließen, in Frankfurt beispielsweise durch einen gelben Fleck. In München hat es ein solches Ghetto nie gegeben, im Bereich des heutigen Marienhofes existierte allerdings eine Judengasse. Im liberaleren 19. Jahrhundert gab es keine geschlossenen Judenviertel mehr. Erst die Nationalsozialisten haben sie in extremer Weise wieder eingeführt. In Osteuropa soll es etwa 500 Judenghettos gegeben haben.

„Unzeitige Toleranz“

Erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts bildete sich insgeheim wieder eine kleine jüdische Gemeinde in München. Zwar erließ Kurfürst Max Emanuel, der Türkenbezwinger, im März 1715 erneut ein Ausweisungsdekret: Binnen 24 Stunden sollten alle Juden das Land verlassen. Doch dann erleichterte die Aufklärung, welcher unbegründete mittelalterliche Anklagen wie „Gottesmörder“ oder „Hostienschänder“ zuwider waren, eine allmähliche, wenn auch noch nicht vollwertige Teilnahme der jüdischen Gemeinde am sozialen Leben. Um 1750 lebten in München 20 sogenannte Hofjuden, meist in Gasthäusern einquartiert.

1801 verkündete der neue Kurfürst und spätere König Max I. Joseph gar den Wunsch, dass „diese unglückliche Menschenrasse aus den Wittelsbachischen Territorien nicht mehr verbannt werde“. Das ging dem Münchner Magistrat freilich zu weit, er warnte vor einer „aus unzeitig angewandten Toleranzgründen hergeleiteten Nachsicht“ und sorgte für einige Einschränkungen.

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Abb. 2:
Die Münchner Hauptsynagoge. – Fotografie von 1886

Die Aufklärung ging einen Schritt weiter. Ein vom Minister Montgelas 1813 erlassenes „Edikt über die Verhältnisse der jüdischen Glaubensgenossen im Königreiche Baiern“ gab den per Matrikel erfassten Juden freies Wohnrecht und erlaubte ihnen sogar, Grundbesitz zu erwerben. Ein weiteres „Edikt über die Verhältnisse der jüdischen Glaubensgenossen“ vom Juni 1831 brachte dem neuen Königreich rund 30 000 Zuwanderer, die sich überwiegend in Franken niederließen. Der sogenannte Matrikelparagraph jedoch, gemäß dem der jüdische Bevölkerungsanteil „nach und nach vermindert“ werden sollte, zwang viele wieder zur Auswanderung; München verließen 32 Juden. Ein kompliziertes Hin und Her also.

Insgesamt aber verzeichnete die Münchner Gemeinde während des 19. Jahrhunderts ein starkes Wachstum. Sie zählte 1900 bereits 8739 Mitglieder, bei einer halben Million Einwohnern. Viele gewannen Ansehen und Einfluss in der bürgerlichen Gesellschaft. 1815 wurde in der Westenriederstraße, heute „Beim Sedlmayr“, eine erste reguläre Synagoge eröffnet, für die König Max Joseph vier Säulen aus Tegernseer Marmor stiftete. Erbaut wurde sie von Jean-Baptist Métivier, der auch eine Gedenktafel für den jüdischen Dichter Heinrich Heine an dessen zeitweiligen Wohnsitz, dem Radspielerhaus, gestaltete.

1884 begann der Bau der von Albert Schmidt entworfenen Großen Synagoge an der Herzog-Max-Straße, der drittgrößten im Reich. Sie bot Platz für 1000 Männer und für 800 Frauen, denen die Emporen vorbehalten waren. „Haben die Juden in München ohnehin schon die schönsten Häuser, warum sollen sie nicht auch den schönsten Platz für ihre Synagoge haben“, stänkerte die dem Zentrum nahestehende „Münchener Volks-Zeitung“. Es folgten 1892 die neuromanische, orthodoxe Ohel-Jacob-Synagoge in der Herzog-Rudolf-Straße, erbaut von August Exter, und ein Friedhof an der Landstraße nach Thalkirchen.

1910 zählte man schon 11 000 Juden, von denen nur 3000 in München geboren waren. Die meisten wohnten im heutigen Gärtnerplatzviertel. Nicht wenige kamen in der Prinzregentenzeit zu hohem Wohlstand, Einfluss und Hochachtung, einige dieser Familien führten Salons für kulturelle, musikalische, literarische Eliten. Als berühmte Beispiele seien nur die Kunsthändler Bernheimer und Pringsheim genannt. Alle diese Juden waren voll assimiliert, sie fühlten sich und handelten als alteingesessene Münchner. Allerdings entstand um die Jahrhundertwende in katholischen Kreisen ein gewisser Antisemitismus, der sich noch in den 1920er-Jahren äußerte. Der leitete sich, wie der Schweizer Historiker Urs Altermatt meint, wohl aus dem christlichen Antijudaismus ab und vermengte sich mit Stereotypen des säkularen Antisemitismus.

Noch am 5. September 1931 wurde in der Reichenbachstraße eine neue, von jüdischen Architekten entworfene, von zwei Vereinen finanzierte Synagoge mit 850 Plätzen eingeweiht, hauptsächlich für die zugewanderten Ostjuden. Doch die nächste große Judenverfolgung stand bereits bevor: Sie begann mit der Machtergreifung der radikalantisemitischen Nationalsozialisten.

Anfang der „Endlösung“

Hitler war in Berlin noch keine zwei Monate an der Macht, da begann in seiner Wahlheimatstadt München das, was innerhalb von zehn Jahren zur „Endlösung der Judenfrage“ führen sollte. Alle früheren Pogrome, die München erlebt hatte, wurden weit in den Schatten gestellt. Die Dimension des schrecklichen Geschehens enthüllt allein schon die Bevölkerungsstatistik: 1933 waren 9005 Bürger „mosaischen Glaubens“ in München gemeldet, 1938 wohnten hier noch 6392 sogenannte „Rassejuden“, von denen bis Kriegsende 525 übrig blieben, nach anderen Quellen gar nur 84. (Im Chaos des Zusammenbruchs – München wurde am 30. April 1945 durch die US-Armee befreit – waren offizielle Zählungen kaum möglich.)

Schon in den 1920er-Jahren war die latent antisemitische Atmosphäre in der Geburtsstadt der NSDAP – nicht zuletzt bei den Wahlkämpfen mit auf die Juden gezielten Schlagworten wie „Zinsknechtschaft“ – im täglichen Leben in eine deutliche Präpogrom-Stimmung umgeschlagen. Wieder einmal wurde die jüdische Minderheit für viele ihrer durch allerlei Missstände geplagten Mitbürger zum Sündenbock schlechthin denunziert. „Die Juden sind an allem schuld, an allem sind die Juden schuld“, lautete ein kabarettistischer Refrain von Kurt Tucholsky, der in Berlin zum Gassenhauer wurde.

Wie sich die eigentliche Tragödie in München entwickelte, wie sie eskalierte und der Katastrophe zustrebte, das ist im Stadtarchiv und bei der Israelitischen Kultusgemeinde auf den Tag genau dokumentiert:

24. März 1933: Der neue nationalsozialistische Oberbürgermeister Karl Fiehler verfügt, Aufträge an „nichtdeutsche Firmen“ nicht mehr zu erteilen. Viele Geschäftsleute sehen in dem Rundschreiben eine Gelegenheit, ihre jüdischen Konkurrenten loszuwerden. Bei der Polizeidirektion häufen sich Denunziationen.

30. März: Der neue Münchner Polizeipräsident Heinrich Himmler lässt nach der Röhm-Affäre 280 Juden in das acht Tage zuvor eröffnete Konzentrationslager Dachau bringen. Bald sterben die ersten dieser „Schutzhäftlinge“. Ihre Leichen werden in versiegelten Bleisärgen, später in Holzsärgen nach München überführt. Beschwerden werden als „Verbreitung von Gräuelpropaganda“ bestraft.

1. April: Julius Streicher, der „Frankenführer“ und „Judenfresser“, startet von einem Zentralbüro in der Münchner Barerstraße aus den Boykott jüdischer Geschäfte. Etwa 800 Firmen sind davon betroffen. In vielen anderen Läden und Lokalen wird Juden der Eintritt verboten. Gleichzeitig wird 81 der 187 jüdischen Rechtsanwälten das Betreten der Gerichtsgebäude untersagt.

7. April: In Bayern werden 369 jüdische und als Linke eingestufte Staatsbeamte, die meisten in München, unter Berufung auf das Gesetz zur „Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ entlassen.

10. April: Die Bayerische Politische Partei nimmt 169 Personen, vorwiegend jüdische Kaufleute aus München, in Schutzhaft. Begründung: „Preistreiberei“.

12. Mai: Polizei durchsucht die Räume sämtlicher jüdischer Organisationen nach „staatsfeindlichem Material“ und schließt sie. Der Besitz von 50 Vereinen wird auf Befehl Himmlers beschlagnahmt. „Während die anderen jüdischen Gemeinden noch relativ unbehindert ihre gesellschaftlichen und kulturellen Aktivitäten entfalten konnten, ging die Bayerische Politische Polizei gegen die Gemeinde von München mit besonderer Schärfe vor“, heißt es in einer der Chroniken. Sogar das Reichsinnenministerium rügt dieses Vorgehen der Münchner Behörden, die daraufhin einen Großteil des requirierten Vermögens zurückgeben müssen.