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Bühne für Tradition, Politik und grenzenloses Vergnügen

 

Bier, Brez’n und Gaudi – aber bei Weitem nicht nur das! Das Oktoberfest ist von seiner historischen Wirkung her viel mehr als nur das größte Volksfest der Welt. „Die Wiesn“ war seit ihrer Gründung im Jahr 1810 in jeder Entwicklungsphase Spiegel und Projektionsfläche des jeweiligen Zeitgeistes. Das Fest diente als politisches Instrument zur Umsetzung programmatisch-ideologischer Zielsetzungen und als Motor des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritts. Als zentrale Veranstaltung begleitete es die Geschichte Bayerns: vom Beginn der Monarchie durch alle ihre Herrschaftsepochen, über ihr Ende hinaus und bis zum heutigen Tag – mit seinen weltweiten Globalisierungsfaktoren und bayerischen Identitätsmerkmalen.

 

 

 

Zur Autorin

 

Sylvia Krauss-Meyl,
Dr. phil., geb. 1951, ist Archivdirektorin und Abteilungsleiterin im Bayerischen Hauptstaatsarchiv München.

SYLVIA KRAUSS-MEYL

Das Oktoberfest

Zwei Jahrhunderte Spiegel des Zeitgeists

VERLAG FRIEDRICH PUSTET

REGENSBURG

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

eISBN 978-3-7917-6051-3 (epub)

© 2015 by Verlag Friedrich Pustet, Regensburg

eBook-Produktion: Friedrich Pustet, Regensburg

Umschlaggestaltung: Martin Veicht, Regensburg

 

Diese Publikation ist auch als Printprodukt erhältlich:

ISBN 978-3-7917-2651-9

 

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Informationen und Bestellungen unter verlag@pustet.de

»MÜNCHEN WILL GAR NICHT ERÖRTERT, MÜNCHEN WILL GELEBT UND GELIEBT SEIN.« Wer möchte Ernst Heimeran (1902–1955) ernsthaft widersprechen? Doch vielleicht wird man ihn ergänzen dürfen, ihn, den großen Verleger und Autor, der in Schwabing das Gymnasium besuchte und wie viele als „Zuagroaster“ in München Wurzeln schlug: Die Liebe zur ersten oder zweiten Heimat schließt die Kenntnis über sie nicht aus – und umgekehrt.

Die Geschichte einer Stadt ist ebenso unerschöpflich wie die Geschichten, die in ihr spielen. Ihre Gesamtheit macht sie unverwechselbar. Ob dramatische Ereignisse und soziale Konflikte, hohe Kunst oder niederer Alltag, Steingewordenes oder Grüngebliebenes: Stadtgeschichte ist totale Geschichte im regionalen Rahmen – zu der auch das Umland gehört, von dem die Stadt lebt und das von ihr geprägt wird.

München ist vergleichsweise jung, doch die über 850 Jahre Vergangenheit haben nicht nur vor Ort, sondern auch in den Bibliotheken Spuren hinterlassen: Regalmeter über Regalmeter füllen die Erkenntnisse der Spezialisten. Diese dem interessierten Laien im Großraum München fachkundig und gut lesbar zu erschließen, ist die Aufgabe der Kleinen Münchner Geschichten – wobei klein weniger kurz als kurzweilig meint.

So reichen dann auch 140 Seiten, zwei Nachmittage im Park oder Café, ein paar S- oder U-Bahnfahrten für jedes Thema. Nach und nach wird die Reihe die bekannteren Geschichten neu beleuchteten und die unbekannteren dem Vergessen entreißen. Sie wird die schönen Seiten der schönsten Millionenstadt Deutschlands ebenso herausstellen wie manch hässliche nicht verschweigen. Auch Großstadt kann Heimat sein – gerade wenn man ihre Geschichte(n) kennt.

 

 

DR. THOMAS GÖTZ, Herausgeber der Buchreihe, lehrt Neuere/Neueste Geschichte an der Universität Regensburg und forscht zu Stadt und Bürgertum in der Neuzeit.

„Unter dem Lärm und dem Klirren der Krüge liegt eine feinere Partitur.
Das Oktoberfest, die Theresienwiese ist eine 35 Hektar große Bühne,
auf der sehr viele Stücke von großer Bedeutung gleichzeitig gegeben werden.“

 

(Ullrich Fichtner, Der Spiegel vom 30.9.2013)

Der Weg durch die moderne bayerische Geschichte führt über das Oktoberfest

Der Begriff „Zeitgeist“ entstammt dem Kontext der philosophischen Debatten des 18. Jahrhunderts, als fortschrittliche aufgeklärte Denker über den Geist ihrer Zeit reflektierten. Er bezeichnet das vorherrschende Gedankengut in einer bestimmten Epoche. Der Zeitgeist lässt sich von seinen Zeitgenossen nicht immer erkennen. Seine Erfassung und Untersuchung ist meistens erst aus der Retrospektive möglich.

Dabei kann er sich in den vielfältigsten Manifestationen offenbaren: durch künstlerische und literarische Werke, durch Bräuche und Moden, durch Menschen und Ereignisse etc. Er kann sich explosiv in einem einzigen Großereignis verwirklichen wie in Frankreich durch die Revolution von 1789, die einen radikalen politischen und gesellschaftlichen Umschwung erzeugte, oder durch lang währende Vorgänge, die in ihrem Fortschreiten die Wandlungen des Zeitgeistes aufzeigen.

Das Münchner Oktoberfest ist ein solches Instrument des Zeitgeistes. Aufgrund seiner fast lückenlosen Kontinuität seit mehr als zwei Jahrhunderten ist es wie kaum ein anderes Medium geeignet, den vorherrschenden Zeitgeist in jeder Epoche seines Bestehens wiederzugeben und Einblicke zu gewähren in die Wechselfälle und Zeitläufte – nicht nur der Münchner und der bayerischen Geschichte. Das Oktoberfest bot somit eine Bühne, auf der sich nicht nur Menschen, sondern auch Epochen präsentieren konnten.

In der Genese als nationales Volksfest spiegelte es die Bildung des modernen bayerischen Staates auf der Grundlage aufklärerischer Staatstheorien. Aus dieser sinnstiftenden Anfangsphase entstanden Konstanten und lange wirkende Traditionslinien. So wurde das Oktoberfest zu einer zentralen Veranstaltung, die, obgleich nichtstaatlich, dennoch staatstragend war. Sie begleitete die Geschichte Bayerns seit dem Beginn der Monarchie über deren Ende hinaus bis zum heutigen Tag.

Politik und Wirtschaft waren die beiden Hauptstränge seines mehr als 200-jährigen Bestehens. Am Anfang lag das Schwergewicht auf der Politik. Das Oktoberfest wurde für mehrere Jahrzehnte Instrument, Spielwiese und Abbild der innerbayerischen Staatsinteressen. Das erste Fest von 1810 bildete den Ausgangspunkt für den mehr als 100 Jahre wirksamen Repräsentationsort der Monarchie. Der Kern des innenpolitischen Programms der ersten bayerischen Könige bestand in der Schaffung und Durchsetzung eines identitätsstiftenden bayerischen Nationalbewusstseins. Gleichzeitig wurde das Oktoberfest auch eine Projektionsfläche für Ziele aller sozialen Gruppen, vor allem des aufsteigenden Bürgertums. Die wesentliche Voraussetzung dafür waren der egalitäre Rahmen eines Volksfestes und die aus dem aufklärerischen Gedankengut herrührende Bedeutung von Öffentlichkeit. Sie war ein Novum im frühen 19. Jahrhundert und bildete ein Fundament der modernen Demokratisierungs- und Emanzipationsprozesse.

Nach der Reichsgründung 1870/71 verschoben sich die Einflüsse vom innerbayerischen Nationalstreben zu übergeordneten Reichsinteressen: Die imperialistische Kolonialpolitik des Kaiserreichs wurde in Bayern durch exotische Völkerschauen auf dem Oktoberfest populär gemacht.

Am Ende des Ersten Weltkriegs geriet das Fest durch den Sturz des Königtums in eine existenzielle Krise, die durch den Übergang der Schirmherrschaft von der Monarchie auf die Stadt München bewältigt wurde. Von der Instrumentalisierung des Fests durch die NS-Propaganda über seine Neudefinition in der Nachkriegszeit führte die Entwicklung zum weltweit größten Massenfest der Gegenwart, das sich heute als Symbol der Globalisierung und als hochrangiger Wirtschaftsfaktor präsentiert.

Die Wirtschaft war neben der Politik ein zweiter, paralleler Entwicklungsstrang, der, bereits bei der Gründung angelegt, gerade in der Zeitspanne zur vollen Entfaltung kam, als die politische Ausrichtung des Oktoberfestes abnahm. Nach der Reichsgründung und der Einführung der Gewerbefreiheit entfalteten sich auf dem Fest die freien Kräfte des Marktes und ermöglichten technische Innovationen und deren kommerzielle Vermarktung. In der Prinzregentenzeit mündete diese Entwicklung in einen wirtschaftlichen Aufschwung, der den Münchner Brauereien und dem gesamten Vergnügungssektor auf dem Fest eine Blütezeit bescherte. Die Festelemente, die sich damals ausprägten, bilden bis heute fortwirkende Traditionslinien. Seit dem frühen 20. Jahrhundert blieb – abgesehen von der NS-Zeit – die Wirtschaft die dominierende Größe auf dem Oktoberfest.

Das gegenwärtige Oktoberfest verbindet die historischen Reminiszenzen mit der postmodernen Dynamik von Technisierung, Kommerzialisierung, Eventisierung und Konsum zu einem vielschichtigen, attraktiven Festerlebnis von weltweiter Leuchtkraft.

Anfänge unter König Max I. Joseph

Die Entstehungsgeschichte des Oktoberfestes ist aus den historischen Umwälzungen zu verstehen, die Bayern im ersten Dezennium des 19. Jahrhunderts prägten.

Am 18. Februar 1799 war der äußerst unbeliebte, aus der Pfalz stammende Kurfürst Karl Theodor (1724–1799) gestorben, der in seiner Münchner Regierungsphase ab 1778 mehrfach versucht hatte, Bayern gegen die habsburgischen Niederlande, das Gebiet des heutigen Belgien, zu tauschen. Als sein Nachfolger, der aus der wittelsbachischen Nebenlinie Pfalz-Zweibrücken stammende Max Joseph (1756–1825), in München einzog, wurde er von der Bevölkerung enthusiastisch begrüßt, da sie sich von ihm einen Umschwung der politischen Verhältnisse erhoffte. Doch brach die euphorische Stimmung binnen kurzem zusammen, als sich herausstellte, dass der neue Kurfürst am Militärbündnis mit den verhassten Österreichern gegen die Franzosen festhielt. In der Entscheidungsschlacht von Hohenlinden am 3. Dezember 1800 wurde die vereinte bayerisch-österreichische Armee durch die französische Rheinarmee vernichtend geschlagen. Bayern verlor im Frieden von Lunéville 1801 seine linksrheinischen Gebiete an Frankreich, wurde aber durch den Reichsdeputationshauptschluss von 1803 mit säkularisierten geistlichen Besitztümern und mediatisierten reichsunmittelbaren Herrschaften entschädigt. 1805 wechselte Max Joseph die Fronten und schloss eine Allianz mit dem französischen Kaiser Napoleon (1769–1821). Der Bündniswechsel zahlte sich aus, denn Bayern erhielt in den folgenden Jahren reichen Gebietszuwachs – vor allem in Franken und Schwaben – und wurde 1806 zum Königreich erhoben. Hinter den Maßnahmen Max Josephs stand sein leitender Minister Maximilian Graf von Montgelas (1759–1838), der de facto den außenpolitischen Kurs bestimmte und im Inneren mit einer umfassenden Verwaltungsreform die Grundlagen des modernen bayerischen Zentralstaates schuf.

Der Zusammenschluss des vergrößerten Bayerns zu einem nationalen Einheitsstaat und die Rangerhöhung des Herrschers machten Maßnahmen zur Konsolidierung der neuen Herrschaftsverhältnisse erforderlich. Das aus der Pfalz kommende Königshaus, das keinerlei Wurzeln in Bayern hatte, musste um das Vertrauen des Volkes werben und Rückhalt in der Bevölkerung gewinnen. Die Untertanen mussten sich neu orientieren und in ihrem nationalen Zusammengehörigkeitsgefühl gestärkt werden. Zudem waren die Lebensverhältnisse nicht sicherer geworden: Infolge der napoleonischen Expansionspolitik wurde Bayern immer wieder in militärische Auseinandersetzungen hineingezogen.

Das geeignetste Mittel, um den Gemeinsinn der neubayerischen Volksteile zu fördern und ihre Bindung zum Herrscherhaus zu stärken, war eine Veranstaltung, an der Königshaus und Volk beteiligt waren und die mit ihrer bayernweiten Ausstrahlung einigend wirken konnte. Dieses Fest war mit seinem ausgreifenden Charakter auch ein Abbild aller Zeitströmungen und Einflussfaktoren des öffentlichen Lebens in Bayern in dieser Phase.

Das erste dynastische Fest des neuen Königshauses

Das erste Münchner Oktoberfest leitete sich nicht aus volkstümlichen Traditionen und historischen Wurzeln her, sondern wurde zu einem konkreten Anlass ins Leben gerufen: Es gehörte zum Begleitprogramm der Hochzeit des bayerischen Kronprinzen Ludwig (1786–1868) mit Prinzessin Therese von Sachsen-Hildburghausen (1792–1854).

Traditionell fanden dynastische Eheschließungen im Rahmen opulenter Hoffeste statt. Auch die Kronprinzenhochzeit des Jahres 1810 sollte mit allem höfischen Pomp ausgestattet werden. Doch gab es diesmal eine beispiellose Neuerung: Vertreter des Bürgertums und Militärs übernahmen Teile der Festlichkeiten. Die Beteiligung des Volkes war ein Symptom des neuen Zeitgeistes. In der Folge der großen Französischen Revolution 1789 wurden in allen Fürstenstaaten Europas die Herrschaftsverhältnisse neu ausgelotet, die Grundlagen der monarchischen Regierungen zum Teil verfassungsrechtlich legitimiert und Entfaltungsspielraum für emporstrebende Kräfte aus dem Volk geschaffen. Ein höfisches Fest, bei dem sich Monarch und Untertanen begegneten und gemeinsam zum Gelingen der Festlichkeit beitrugen, war eine exzellente Plattform, um die Anforderungen einer gewandelten Zeit zu erproben.

Vorgeschichte der Verlobung des Kronprinzen Ludwig

Bereits 1799 war Ludwig, erst 13-jährig, mit der russischen Großfürstin Katharina Pawlowna (1788–1819) verlobt worden, die selbst noch ein Kind war. Dass die Verbindung nicht zustande kam, lag an dem Einwirken und den persönlichen Plänen Kaiser Napoleons. Nachdem Ludwigs Schwester Auguste Amalie (1788–1851) 1806 gezwungen worden war, den Stief- und Adoptivsohn des Kaisers, Eugène de Beauharnais (1781–1824), den späteren Herzog von Leuchtenberg, zu heiraten, und Ludwig befürchten musste, dass auch er von dem ihm verhassten Franzosenkaiser in eine politische Ehe mit einer französischen Prinzessin gezwungen werden könnte, ergriff er die Initiative und sah sich selbst an den deutschen Fürstenhöfen nach einer passenden Gemahlin um. Am Hof des sächsischen Herzogspaares Friedrich (1763−1834) und Charlotte (1769−1818) von Sachsen-Hildburghausen traf er unter den beiden heiratsfähigen Töchtern seine Entscheidung für die 17-jährige protestantische Therese. Die Verlobung fand am 12. Februar 1810 in Hildburghausen statt. Die Hochzeit wurde wegen des höheren fürstlichen Ranges des Bräutigams acht Monate später in München begangen.

Am 12. Oktober 1810, dem Namenstag des bayerischen Königs Max I. Joseph (1756–1825), des Vaters des Bräutigams, wurde abends in der Hofkapelle der Münchner Residenz im kleinen Kreis die Trauung von Ludwig und Therese vollzogen. In den darauf folgenden Tagen gab es für die Münchner Bevölkerung allerlei Spektakel, Illuminationen, Musik- und Opernaufführungen, öffentliche Speisungen und ein Preisschießen. Als dem Bräutigam von einer Münchner Deputation die Einladung für ein Pferderennen überbracht wurde, stimmte er begeistert zu und machte sich in seiner Replik postrevolutionäres Gedankengut zu eigen: „Volksfeste freuen mich besonders. Sie sprechen den National-Charakter aus, der sich auf Kinder und Kindes-Kinder vererbt. Ich wünsche nun auch, Kinder zu erhalten und sie müssen gute Baiern werden, denn sonst würde ich sie mir minder wünschen können. Der König, mein Vater, hat mich auch zum guten Baier gebildet.“

Es waren demnach der Volksfest- und vor allem der patriotische Charakter des Festes, von dem sich der junge Kronprinz persönlich angesprochen und berührt fühlte und aus dem er eine familiäre Selbstverpflichtung ableitete.

Selbstinszenierung der jungen Monarchie

Das Volksfest von 1810 war für den bayerischen König Max Joseph ein wichtiges Mittel zur Sicherung und Stabilisierung seiner jungen Herrschaft. Er war gerade elf Jahre zuvor mit seiner Familie aus Pfalz-Zweibrücken nach Bayern gekommen und hatte erst vor vier Jahren den neu geschaffenen bayerischen Königsthron bestiegen. Dieses zarte Herrschaftsgebilde galt es zu festigen und für die Zukunft zu stärken.

In den Anfangsjahren der neuen Monarchie, 1799 bis 1810, hatte es keinerlei Begegnung zwischen Herrscherhaus und Volk bei einem festlichen Anlass gegeben. Die Heirat des napoleonischen Stief- und Adoptivsohnes Prinz Eugène de Beauharnais mit der bayerischen Prinzessin Auguste Amalie im Januar 1806 war zwar ein hochrangiger Anlass, zu dem sogar das französische Kaiserpaar Napoleon und Joséphine (1763–1814) nach München kam, doch spielten sich die Hochzeitsfeierlichkeiten quasi hinter verschlossenen Türen im Inneren der Residenz ab. Öffentliche Festivitäten gab es nicht. Auch die Königserhebung Max Josephs Anfang 1806 wurde nicht gefeiert; es fand nur eine Proklamation, jedoch keine Krönungsfeier statt.

Die Hochzeit des Thronfolgers Ludwig bot somit die erste Gelegenheit für die Königsfamilie, ihr Selbstverständnis als neue bayerische Dynastie öffentlich kundzutun. Max Joseph sah sich als aufgeklärter Monarch, der seine Herrschaft an den Staatsvorstellungen ausrichtete, die von den Philosophen des 18. Jahrhunderts entwickelt worden waren und durch die Französische Revolution eine europaweite Verbreitung erfahren hatten. Der aufgeklärte Herrscher legitimierte seine Macht nicht mehr allein durch das Gottesgnadentum, wie es im Absolutismus der Fall gewesen war. In der modernen staatlichen Ordnung wurde die Herrschaftsgewalt durch eine Verfassung beschränkt, die auf Vorstellungen des Naturrechts und Gesellschaftsvertrags basierte und dem Machthaber die Aufgabe zuwies, für Wohl, Recht und Schutz seiner Untertanen zu sorgen. Dieser Verantwortung konnte er am besten nachkommen, wenn er den Willen und die Bedürfnisse seines Volkes kannte. Für Max Joseph war die populäre Selbstinszenierung seiner Monarchie ein Regierungsziel. Dieser Faktor wurde auf dem Oktoberfest in mehreren Manifestationen sichtbar.

Das zentrale Element des Festplatzes war das Königszelt: Von hier aus beobachteten die königliche Familie und der Hofstaat das Festgeschehen. Die Präsenz der Monarchie und ihre Schirmherrschaft wurden theatralisch in Szene gesetzt: Am Festsonntag fuhr die Königsfamilie um 14 Uhr unter Kanonendonner im offenen Sechsspänner, begleitet von Musikdarbietungen und Vivatrufen der Menge, von der Residenz zur Theresienwiese. Am Königspavillon fanden die Huldigungen der Untertanen vor dem König in Form von Gedichten und Botschaften, Geschenken und Loyalitätsadressen statt. Der König besichtigte die preisgekrönten Tiere und die landwirtschaftliche Ausstellung, bevor er die Preisverleihung vornahm. Danach fand das Pferderennen statt, das vor dem Königspavillon startete. Wenn um 17 Uhr das Rennen beendet war, fuhr der Hof in die Stadt zurück. Die königliche Präsenz besaß demonstrativen Charakter. Sie versinnbildlichte auf einer höheren Ebene die vorbildhafte Schutz- und Treuefunktion des Monarchen und appellierte an die Einheit zwischen Dynastie und Volk. Die Huldigungen waren die Antwort der Untertanen. Das Königszelt wahrte zwar räumlich die Distanz zwischen Herrscher und Volk, doch bot es auch die Möglichkeit der Begegnung, die von den bayerischen Monarchen immer wieder ergriffen wurde. Vom preußischen Gesandten wurde beobachtet, dass Max Joseph sich unter die Menge mischte, um die ausgestellten Objekte zu begutachten und die Preise „mit herzlichster Güte“ zu verteilen. Er zeigte sich dabei wie ein Vater inmitten seiner Familie.

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Abb. 1:
Fest-Postkarte vom Jubiläums-Oktoberfest 1810–1910. – In den Medaillons die bayerischen Herrscher: Max I. Joseph, Ludwig I., Maximilian II. (oben v. l.), unten links Prinzregent Luitpold, Therese, Ludwig II. (unten v. l.); außerdem die Münchner Frauenkirche (l. o.) und die Ruhmeshalle mit Bavaria (r. o.).

Die rituellen Abläufe waren von Anfang an konstituierende Bestandteile des Festes. Sie passten sich unter veränderten Vorzeichen den jeweiligen Zeiterfordernissen an und bestehen bis heute fort als Merkmale der Kontinuität. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts dienten sie der königlichen Machtdemonstration ebenso wie der Volksverbundenheit des Herrscherhauses. Sie befriedigten aber auch die Erwartungen der Bevölkerung nach Sensationen und stärkten so ihre emotionale Bindung an die Dynastie. Schließlich barg die Anwesenheit des Königshofes auch ein disziplinierendes Moment; denn das Zeremoniell war ein Ordnungsfaktor im Festgeschehen.

Zeitlicher Dreh- und Angelpunkt war seit 1810 der 12. Oktober, der kirchliche Maximilianstag und Namenstag König Max I. Josephs, auf den auch die Hochzeit des Thronfolgerpaares gelegt wurde. Um diesen königlichen Ehrentag herum gruppierten sich Pferderennen und später der Festbetrieb. Das Fest hieß aus diesem Grund in der Anfangszeit „Maximilianswoche“, was die enge Verbindung zwischen monarchischem Gründervater und Festgeschehen signalisierte. Während der königliche Name schon bald der neutralen Bezeichnung „Oktoberfest“ weichen musste, erwies sich die Benennung des Festplatzes nach der neuen bayerischen Kronprinzessin Therese von Sachsen-Hildburghausen als beständig. Die „Theresienwiese“ ist noch heute, 100 Jahre nach dem Ende der Monarchie, der Sitz des Oktoberfestes. Die Erinnerung, die sich mit diesem Ort verbindet, greift allerdings weit über das 19. Jahrhundert hinaus. Der Platz vor der Sendlinger Anhöhe war schon früher in die Geschichte eingegangen, jedoch als Ort kriegerischen Geschehens. 1705 waren hier die oberländischen Bauern im patriotischen Zorn gegen die österreichische Besatzungsmacht angetreten. Als „Sendlinger Mordweihnacht“ ging der kläglich gescheiterte Aufstandsversuch in die Geschichte ein. Dem Ort des Gemetzels haftete seitdem das Signum des Patriotismus und der Untertanentreue der Bayern gegenüber ihrem Herrscherhaus an. Das Areal der Theresienwiese war also bereits ein geschichtsträchtiger Ort, als er für das Pferderennen auserkoren wurde. Im 19. Jahrhundert wurde er zu einer Schnittstelle zeitgeschichtlicher Entwicklungen. Als öffentlicher Raum stand er stets allen Einflüssen offen, die hier aufgenommen, bewegt und genutzt wurden.

Das Königtum erfasste von Anfang an diese Optionen. Frühe Beispiele für die Bedeutung der Theresienwiese als monarchische Repräsentationsplattform waren 1821 der Besuch des württembergischen Königs Wilhelm I. (1781–1864), der von König Max Joseph auf das Oktoberfest geführt wurde, oder 1823 die Präsentation des frisch vereinten bayerisch-preußischen Brautpaares Prinzessin Elisabeth (1801–1873) und Kronprinz Friedrich Wilhelm von Preußen (1795–1861). Zu diesem Anlass erklang auf dem Festplatz ein Lied von Carl Maria von Weber, dessen Text zu Ehren des Brautpaares leicht verändert wurde: „wir winden dir den Jungfernkranz mit weiß und blauer Seide …“ Kurz darauf, im November 1823, heiratete das Paar und bestieg 1840 den preußischen Königsthron.

Als der Gründungspatron des Festes König Max I. Joseph an seinem Namenstag, dem 12. Oktober 1825, plötzlich verstarb, war das Oktoberfest so fest etabliert, dass sein Ableben keine Zäsur oder gar Gefahr für seinen Bestand bedeutete. Auch die Abläufe des Festprogramms waren inzwischen weitgehend institutionalisiert.

Das Oktoberfest gewinnt politisches Profil

Dem Oktoberfest wohnte von Anfang an eine bedeutende politische Funktion inne.

Nach den politischen Umwälzungen des frühen 19. Jahrhunderts, der staatlichen Einigung Bayerns und der Erhebung zum Königtum musste in weiteren Schritten das aus altbayerischen, schwäbischen, fränkischen, zeitweise tirolischen, später pfälzischen Gebieten zusammengesetzte bayerische Königreich zu einer einheitlichen Nation zusammenwachsen. Dazu war es notwendig, unter den verschiedenen neubayerischen Bevölkerungsgruppen eine nationale, die alten Stammesgrenzen übergreifende Identität herzustellen und das neue bayerische Staatsvolk zentralistisch auf die königliche Haupt- und Residenzstadt München auszurichten.

In dieser Phase der Konsolidierung und Neudefinition des Staatswesens stellte das Münchner Fest den Kern des Geschehens dar. Es bot den Ort und Rahmen für den beabsichtigten Vereinheitlichungsprozess, da hier die Menschen aus allen Teilen des Königreichs zusammenkamen. Das Fest konnte demnach zu einem identitätsstiftenden Faktor und zum Werkzeug der Politik werden.

Im Oktoberfest der Ära Max Josephs spiegelten sich somit die politischen Herausforderungen der neuen Zeit. Unter seinen beiden Nachfolgern, besonders unter seinem Enkel Maximilian II., verdichteten sie sich zu einem politischen Programm.

Pferderennen, eine alte Tradition unter neuem Vorzeichen

Auch das Pferderennen, der Höhepunkt des frühen Oktoberfestes, bezeugte mit seinen historischen Reminiszenzen den neuen Zeitgeist. Pferderennen als sportliches Vergnügen der Gesellschaftseliten und als gemeine Volksbelustigung gab es seit Alters her, bereits im antiken Griechenland, wo sie bei den Spielen von Delphi, Korinth und Olympia seit 680 v. Chr. nachgewiesen sind. Die Pferderennbahn war das oval angelegte Hippodrom, das in jeder größeren griechischen Stadt vorhanden war. Als Kaiser Konstantin 330 n. Chr. die Hauptstadt des Reiches von Rom an den Bosporus verlegte, ließ er in unmittelbarer Nachbarschaft zum Kaiserpalast eine neue Pferderennbahn von gigantischen Ausmaßen errichten. Die römische Rennbahn, lateinisch circus benannt, imitierte in ihrer Anlage das griechische Vorbild einer lang gestreckten Arena. Sie wurde vorwiegend für die beliebten Wagenrennen genutzt, aber auch für Gladiatorenkämpfe und Tierhetzen. Der Circus Maximus in Rom fasste in der Spätantike bis zu 400 000 Personen.