Zum Buch

 

„Was Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen.“ Damit sind allen die Hände gebunden – dem Brautpaar, der kirchlichen Öffentlichkeit, dem Amtsträger und der Kirche insgesamt. Oder? Seit über vierzig Jahren hat sich an der Pastoral mit wiederverheirateten Geschiedenen eine breite Diskussion entwickelt. Die Redebeiträge der Weltbischofssynode und Stellungnahmen im Weltepiskopat ebenso wie die Stimmen von Seelsorgern und Betroffenen gehen in ganz unterschiedliche Richtungen. Was sind die Themen, was die Argumente? Was ist davon zu halten? Der Münchener Pastoraltheologe Andreas Wollbold gibt Orientierung in der Diskussion. Er erläutert die zentralen biblischen Stellen, die Haltung der Alten Kirche, dogmatische, moraltheologische, kirchenrechtliche und pastorale Fragen und diskutiert, ob die „Oikonomia“ der orthodoxen Kirche einen gangbaren Weg darstellt. Dabei zeigt sich, wie gut begründet die geltende Ordnung der katholischen Kirche ist. Abschließend entwickelt Wollbold vier eigene Vorschläge für Lösungen, die innerhalb dieser Ordnung denkbar sind.

 

 

Zum Autor

 

Andreas Wollbold,
Lic. theol., Dr. theol., geb. 1960, ist Professor für Pastoraltheologie an der Universität München.

ANDREAS WOLLBOLD

 

 

 

 

Pastoral mit wiederverheirateten Geschiedenen –

gordischer Knoten oder ungeahnte Möglichkeiten?

 

 

 

 

 

 

 

 

VERLAG FRIEDRICH PUSTET
REGENSBURG

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eISBN 978-3-7917-6064-3 (epub)
© 2015 by Verlag Friedrich Pustet, Regensburg
Umschlaggestaltung: Martin Veicht, Regensburg
Umschlagbild: ullstein bild – Prisma / Piumatti Sergio
eBook-Produktion: Friedrich Pustet, Regensburg

Diese Publikation ist auch als Printprodukt erhältlich:
ISBN 978-3-7917-2661-8

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EINLEITUNG

„Liebesbund“ statt „Lebensbund“?

„Liebesbund“ mit drei Buchstaben, so steht es neuerdings in manchen Kreuzworträtseln. Die Antwort ist leicht: „Ehe“. Langjährige Rätseler wissen allerdings: Bis vor einigen Jahren stand da noch ein anderes Suchwort, nämlich „Lebensbund“. Denn die Ehe war der Bund fürs Leben. Er währt, „bis der Tod uns scheidet“. Diese Auffassung scheint nicht mehr der Realität zu entsprechen: Im Jahr 2013 wurden in der Bundesrepublik Deutschland 169 833 Ehen geschieden, mehr als dreimal so viele wie 1960. Die Ehe währt nur so lange, wie die Liebe anhält. Gewiss, die Liebe soll niemals aufhören. Aber manchmal tut sie es, und in diesem Fall verlangt man das „Recht auf eine zweite Chance“. Wenn da nicht die katholische Kirche wäre! Bei der kirchlichen Trauung lässt sie die Brautleute unmittelbar nach der Vermählung ihre Hände ineinanderlegen. Der Zelebrant umschließt diese mit der Stola, bestätigt die Vermählung und nimmt Trauzeugen und Anwesende zu Zeugen dieses heiligen Bundes. Dabei spricht er die Worte Jesu: Was Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen (Mk 10,9; Mt 19,6). Darum sagt die Kirche: Damit sind uns allen die Hände gebunden – dem Brautpaar, der kirchlichen Öffentlichkeit, dem Amtsträger und der Kirche insgesamt.

Die Kirche ist gebunden, zu bewahren, was Gott ihr anvertraut hat. Damit sind ihr Grenzen gesetzt – sie kann nicht einfach tun, was die Zeit erwartet. Denn von dem, was die Liturgie der Trauung in eindrucksvoller Geste feiert, werden Glaubenslehre und -praxis der Kirche in Pflicht genommen. „Lex orandi, lex credendi. – Was das Beten bestimmt, das bestimmt auch den Glauben.“ Warum? Weil Jesus selbst heiliges Recht gesetzt hat. Darüber kann die Kirche nicht verfügen. Wenn sie dies täte, würde sie an diesem Punkt aufhören, die Kirche Jesu Christi zu sein. Wäre die Vermählung nur der Handschlag der Brautleute, so könnte man vielleicht sagen: Jede Vereinbarung unter Menschen kann rückgängig gemacht werden. Irren ist menschlich, und Scheitern trotz ernsten Bemühens noch viel mehr. Diese Auffassung trat erstmals in Aufklärung und „Sturm und Drang“ des späten 18. Jahrhunderts in den Vordergrund. Danach ist die Ehe eben Liebesbund, Herzenssache, und wenn man nicht mehr mit dem Herzen dabei ist, darf man auch nicht gehindert werden, zu gehen.

Doch die verschränkten Hände sind von der Stola wie von einem Band umschlungen. Es ist das Band, das Gott selbst stiftet, und davon gilt: Was Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen (Mk 10,9; Mt 19,6). Die Verschränkung der rechten Hände, die „dextrarum [bzw. manuum] iunctio“, war ein Vermählungsgestus der römischen Antike (Ritzer 1981, 25.43.78–80). Das Christentum fügte ihm etwas Entscheidendes hinzu: Gott selbst legt durch seinen Amtsträger das Band um Mann und Frau. Treffend bekennt schon Gregor von Nazianz anlässlich einer Hochzeit: „Gerne wäre ich dabeigewesen, um mitzufeiern, um die Hände der jungen Leute ineinanderzulegen und beider Hände in die Hände Gottes“ (PG 37,316D, zit. bei Ritzer 1981, 80). Das Eheband ist darum mehr als eine menschliche Wirklichkeit; es ruht in den Händen Gottes. Das gilt für jede Ehe, nicht nur für die christliche. Im Anfang führt Gott Mann und Frau zusammen und verbindet sie so eng miteinander, wie die Organe eines Leibes einen untrennbaren Organismus bilden: Und [Gott] führte sie [d. h. die Frau] dem Menschen zu. Und der Mensch sprach: Das endlich ist Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch. Frau soll sie heißen, denn vom Mann ist sie genommen. Darum verlässt der Mann Vater und Mutter und bindet sich an seine Frau und sie werden ein Fleisch (Gen 2,22f). Darum ist jede Ehe, auch außerhalb des Christentums, in sich unauflöslich – auf einige eherechtliche Differenzierungen wird noch einzugehen sein.

Diese enge Verbindung gilt in einem noch dichteren Sinn bei der Ehe zwischen Getauften. Kraft der Taufe wird sie zum Sakrament, und wie jedes Sakrament ist sie eine Wirklichkeit, die Gott selbst setzt – unwiderruflich. Unendlich weit überragt sie alles Menschliche. Auch das Erkalten der Liebe, auch Scheitern oder Ehebruch löschen das Sakrament nicht aus. „Manente matrimonio nubere adulterium est. – Solange die Ehe besteht, bedeutet erneut zu heiraten Ehebruch“, sagt darum Tertullian in der ihm eigenen Prägnanz (Adversus Marcionem 4,34 [CCL 1,635,8f.]). Das Eheband ist Ausdruck der Treue Gottes; sie befähigt die Brautleute zu einer noch tieferen Art von Liebe, der Liebe des anderen in Gott. Von dieser Liebe gilt: Die Liebe hört niemals auf (1 Kor 13,8).

Gewiss kann es unter bestimmten Umständen geraten, ja geboten sein, das Zusammenleben zu unterbrechen oder auch endgültig zu beenden – etwa bei häuslicher Gewalt oder bei einer unwiderruflichen inneren Entfremdung. Doch die äußere Entfernung zerreißt nicht das Band. Solange sie leben, bleiben die einmal vor Gott einander Anvertrauten gebunden. Was Eltern von ihren verlorenen Söhnen und Töchtern kennen, gilt auch für Eheleute: Selbst wenn die Wege des einen sich verlieren, bleibt er dem anderen doch für immer anvertraut.

Spätestens an dieser Stelle heißt es nun von allen Seiten: „Einspruch!“ Ausgelöst durch die sprunghaft angestiegenen Scheidungszahlen, durch Einzelschicksale in der Nähe und durch den allgemeinen Wertewandel, entspann sich seit etwa fünfzig Jahren eine lebhafte Diskussion innerhalb der katholischen Theologie und Öffentlichkeit. Sie kulminierte in den kontroversen Diskussionen der Außerordentlichen Familiensynode vom 5. bis zum 19. Oktober 2014 in Rom. Liberale Stimmen fordern Schritte der Akzeptanz wiederverheirateter Geschiedener ohne Restriktionen:

Im Verlauf dieser Diskussion gibt es keinen Punkt unserer einleitenden Sätze, dem nicht widersprochen wird – teilweise episkopal subtil, teilweise boulevardblattartig heftig. Dieser Protest scheint alle Gründe für sich zu haben: Menschlichkeit, Wirklichkeitssinn, Modernität und die öffentliche Meinung. Glaubt man der einschlägigen Literatur, so liegen die Begründungen der Theologen längst bereit, nur das Lehramt ist noch unnötig zögerlich. Doch Protest ist nicht schon Wahrheit, und Thesen sind nicht schon Gründe. Die Suche nach einer angemessenen Pastoral mit wiederverheirateten Geschiedenen ist eine ernste und drängende Aufgabe. Darum steht die Prüfung der vorgebrachten Argumente an: Wie stichhaltig sind sie? Muss die Kirche ihre Lehre oder Praxis ändern? Kann sie es überhaupt? Wissenschaftliche Diskussion ist eines, kirchliche Lehre und Praxis aber etwas anderes. Die eine kennt Fragen, Hypothesen, Denkmodelle, Postulate und Vorschläge. Das ist gut so, denn das ist das Mittel des wissenschaftlichen Fortschritts. Die Kirche selbst aber ist auf Fels gebaut, und so kann sie ihre Ordnung nicht von ungewissen Vermutungen abhängig machen. So formulierte es schon Joseph Ratzinger als Präfekt der Glaubenskongregation: „Auf alle Fälle kann die Kirche ihre Lehre und Praxis nicht auf unsichere exegetische Hypothesen aufbauen. Sie hat sich an die eindeutige Lehre Christi zu halten“ (Ratzinger 1998, 22). Ist die wissenschaftliche Theologie also bereits zu gesicherten Erkenntnissen gelangt, die eine Revision der kirchlichen Haltung in dieser Frage erlauben oder sogar dringlich machen?

Nun ist die Debatte so verzweigt, so unübersichtlich, so verästelt geworden, dass es schwer ist, den Überblick zu behalten (vgl. aber die instruktiven Synopsen der Lösungsvorschläge bei Belliger 2000, 25–140, und Belliger 2001, 196–200). Infolgedessen hält das innerkirchliche Gespräch allzu leicht einzelne Positionen oder auch nur Forderungen bereits für eine gesicherte Erkenntnis. Noch einmal mehr gilt dies für die öffentliche Meinung, für die das Problem weithin nur noch eines einer „verkrusteten, unmenschlichen Kirche“ darstellt, die sich gefälligst den gesellschaftlichen Realitäten anzupassen habe. Treue zum Wort Jesu ist hier zumeist kein Thema. Das vorliegende Buch will zu diesem Überblick über die Diskussion beitragen. Zu jedem Einzelthema, etwa der Bedeutung der Unzuchtsklausel bei Matthäus („außer bei Ehebruch“) oder der orthodoxen oikonomia-Regelung, liegt zwar eine Unmenge von Literatur vor, die nur noch wenige Fachleute überschauen können. Allerdings ist dabei die Zahl der Argumente überraschend begrenzt, und vieles Geschriebene wiederholt nur mit anderen Worten bereits mehrfach Vorgetragenes. Manches wird nur deshalb forsch behauptet, weil man die Einwände ignoriert. Umso notwendiger ist ein Überblick über die Argumente, denn andernfalls ist keine verantwortete Pastoral mit wiederverheirateten Geschiedenen zu entwickeln. Natürlich kann das Panorama keine Detailfragen lösen, wohl aber die vorgetragenen Argumente prüfen. Dafür sind die Erträge der Forschung nüchtern zu gewichten und allgemeinverständlich zu präsentieren. Dass hier von außen auf fachinterne Diskussionen geschaut wird, verleiht dem Autor die Freiheit der Distanz, und es mögen ihm sogar Punkte auffallen, die Vertreter der Fachdisziplinen gar nicht bemerken. Entscheidend ist die Gesamtbilanz: Erlaubt der theologische Forschungsstand eine wesentliche Änderung der herrschenden kirchlichen Ordnung zu Scheidung und Wiederheirat? Um es vorwegzusagen: In beinahe allen Punkten ist die wissenschaftliche Diskussion über bloße Hypothesen kaum hinausgekommen; die geltende kirchliche Lehre hat sich dagegen als erstaunlich gut biblisch, historisch, rechtlich und dogmatisch begründet erwiesen (Kap. 2). Allerdings kann die Diskussion auch einige wichtige Einsichten beitragen, die es am Ende erlauben, innerhalb dieser Lehre und Kirchenordnung einige Lösungen vorzutragen, die eine realitätsnahe Pastoral ermöglichen (Kap. 3).

Um möglichst dicht an der geführten Debatte zu bleiben, sind die folgenden Seiten in der alten literarischen Gattung „Fragen und Antworten“ gehalten. Die Griechen kannten sie bereits als „Erotapokriseis“, die Römer als „Quaestiones et responsiones“. Darin werden offene Fragen formuliert, und eine geraffte Antwort wird gegeben. Ohne alle Details der Forschung anzugehen, bringt sie eine ausreichende Klarheit in die Frage. Eine Art „Kleine Fibel für verunsicherte Laien“, wie sie Hans Urs von Balthasar in den Jahren nachkonziliarer Generalreform vorgelegt hat (von Balthasar 31989) – nur dass die verunsicherten Laien heute auch auf die Hirten der Kirche erweitert werden müssen. So richten sich diese Klärungen an Verantwortungsträger, Seelsorger und alle kirchlich Interessierten, an Mitglieder von Gremien und Gruppen und nicht zuletzt auch an Betroffene. Ein Warnschild allerdings vorweg: Die folgenden Seiten sind strikt argumentativ gehalten und bleiben darum unvermeidlicherweise im Grundsätzlichen und Allgemeinen. Wer persönlich betroffen ist oder Rat und Orientierung für nach Scheidung wiederverheiratete Freunde, Angehörige oder seelsorglich Anvertraute sucht, dem wird die objektive, nüchterne Sprechweise vielleicht wenig entgegenkommen. Darum möge man an diesem Ort nicht suchen, was anderswo zu finden ist: im Anteil nehmenden Gespräch, in Trost und Stärkung und nicht zuletzt in Glaube, Gottesdienst und Gebet. Das theologische Argument ist zwar seelsorglich inspiriert, aber es ist nicht Seelsorge.

Wie alle Diskussionsbeiträge, so beziehen auch die hier gegebenen Antworten Position. Nach dem hier vertretenen Standpunkt ist die geltende Lehre und Praxis der Kirche weiterhin der am besten begründete und einzig schlüssige Standpunkt. Dies können auch die vielfach vorgetragenen alternativen Positionen nicht erschüttern. Wer eine Liberalisierung der kirchlichen Lehre und Ordnung zu nach Scheidung Wiederverheirateten für unmöglich hält, verfällt jedoch mancherorts stante pede einem moralischen Verdikt: unbarmherzig, unsensibel und … hartherzig. Nun gehört die vorschnelle Moralisierung von Debatten zum Verfall der kirchlichen Sitten, und zwar von rechts bis links. Und das Wort „hartherzig“ fiel ja schon im Streitgespräch Jesu mit den Pharisäern. Doch da lag interessanterweise die Hartherzigkeit auf Seiten derer, denen Mose die Erlaubnis zur Scheidungsurkunde geben musste (Mt 19,8; Mk 10,5). Jesu Aufhebung dieser Erlaubnis ist darum Ausdruck seiner Barmherzigkeit und steht ihr nicht im Wege. Wie das möglich ist, darüber wunderten sich schon die Jünger (Mt 19,10; Mk 10,10). Die Strenge der Wahrheit als Barmherzigkeit des Himmelreichs erfahrbar zu machen, das ist und bleibt die schönste und zugleich schwierigste Aufgabe der Kirche bis ans Ende der Tage. Die Größe dieser Aufgabe verbietet von vornherein rasche und einfache Lösungen. Die „terribles simplificateurs (schrecklichen Vereinfacher)“ (Jacob Burckhardt) taugen nicht als Verkünder des Evangeliums. Am Ende dieses Buches werden in Kapitel 3 vier Lösungen skizziert, die im Einklang mit der bestehenden Lehre und Praxis entwickelt sind. Ob sie taugen oder nicht, muss die weitere Auseinandersetzung zeigen. Zumindest so viel stellen sie unter Beweis: Treue zur Tradition schließt eine situationsgemäße, hilfreiche und schlicht menschliche Pastoral nicht aus, sondern ermöglicht sie.

Unverzichtbar für die Überlegungen dieses Buches ist die Wahrnehmung der Situation, wie sie die Scheidungsforschung detailliert belegt. Die in den letzten Jahrzehnten enorm entfaltete familiensoziologische und -psychologische Forschung wird in der Theologie zumeist leider nur am Rande zur Kenntnis genommen. So folgen manchmal auch die Vorstellungen von dem, was Scheidung und neue Verbindung heute bedeuten, eher Klischees als Realitäten. Denn Scheidung und neue Partnerschaft sind zu einer weithin akzeptierten Option im Lebenslauf geworden. In gewisser Weise sind sie zur verborgenen Bedingung der Möglichkeit der Ehe avanciert: Man kann das Jawort wagen, weil es – wenn auch vielleicht unter nicht unbeträchtlichen materiellen und vor allem immateriellen Kosten – ein Zurück gibt. Das Ende einer Ehe stellt zwar eine Lebenswende dar, nicht immer aber eine dauerhafte Lebenskrise oder gar ein bleibendes Stigma. „Scheitern“ der Ehe bedeutet vielfach eher Aufbruch aus einer nicht zufriedenstellenden Gesamtkonstellation (vgl. Walsh 2009). Insofern dieser Aufbruch das Vorhandensein besserer Alternativen voraussetzt, ist er – vor allem seitens des initiativen Teils – mehrheitlich Ausdruck von Stärke und nicht von Schwäche (vgl. Kneip/Bauer 2009 zur Erhöhung der Scheidungsrate in Westeuropa infolge der Möglichkeit, einseitig die Scheidung durchzusetzen). In der Tat werden signifikant häufiger kranke (Rapp 2012), beruflich erfolglose (Jaschinski 2011) und sozial marginalisierte Partner verlassen. Neue Beziehungen nach Trennung werden durch ein höheres Bildungsniveau und ökonomische Unabhängigkeit begünstigt; wer nicht bald einen neuen Partner findet, bleibt eher allein, besonders Frauen (Jaschinski 2011, 236). Freilich ist die Ehe ein System oder, wenn man lieber will, ein Organismus, und darum greifen einzelfaktorielle Erklärungen innerhalb der Partnerschaft zu kurz, um das Gelingen oder die Krise einer Ehe zu beschreiben. Daneben gibt es auch eine Vielzahl makrosoziologischer Entwicklungen, die in der Forschung als Gründe für die Erhöhung des Scheidungsrisikos angegeben werden. Hartmut Esser fasst sie in nüchterner Soziologensprache zusammen:

„Die funktionale Spezialisierung ehelicher Beziehungen auf die bloße Expressivität und die Auflösung der Multiplexität des Zusammenhalts von Ehen; die zunehmende Intransparenz der Heiratsmärkte und die damit einhergehende Häufung von mis-matches der Partner, die Verringerung der Investitionen in sog. ehespezifisches Kapital wie Kinder und gemeinsame Erlebnisse als Folge zunehmender Mobilität und gestiegener Schattenpreise der Zeitverwendung in der Familie; die Verringerung der sozialen Einbettung der Paare in weiter gezogene Bezugsumgebungen als Folge der wachsenden ‚Individualisierung‘ der Gesellschaft; die Abnahme der materiellen Dependenzen der Partner, besonders der Frauen, vom Fortbestand einer unglücklich gewordenen Ehe als Folge zunehmender Bildung und Arbeitsmarktchancen; die leichtere Verfügbarkeit alternativer Partner über die Zunahme der Urbanisierung und – nicht zuletzt – über das Wiederauffüllen des Heiratsmarktes durch die Zunahme der Ehescheidungen selbst; sowie schließlich der Wandel der auf die Familie als Institution bezogenen Werte, sei es die Erosion des Modells der traditionalen Familie, sei es die zunehmende Akzeptanz alternativer Lebensformen zur Ehe“ (Esser 1999, 65f.).

Gegenüber diesen nüchternen Erkenntnissen zum Wandel des Phänomens Ehescheidung wirkt die pauschale Rede von der Diskriminierung Wiederverheirateter eigenartig anachronistisch. Denn sozial marginalisiert sind gewissermaßen nicht mehr die Wiederverheirateten, sondern die Kirche, wenn sie sich mit ihrer Forderung nach Unauflöslichkeit dem allgemeinen Akzeptanzgebot entzieht. Nicht zufällig gehört die Liberalisierung der kirchlichen Lehre und Praxis in diesem Punkt zu den beliebtesten Forderungen, wenn von Kirchenreform die Rede ist. Man müsste blauäugig sein, wenn man den dadurch ausgeübten Druck auf kirchliche Verantwortliche, Gremien, Theologen und Gläubige nicht als machtvollen Agenten in der Diskussion wahrnehmen wollte. Im Umfeld der Familiensynode von 2014 war es mit Händen zu greifen.

Was heißt das für die Position der Kirche? Der Kontext der Diskussion hat sich beträchtlich verschoben. Bei ihrem Beginn ausgangs der 1960erJahre war Scheidung im katholischen Raum noch vergleichsweise selten. Nicht nur in katholischen Milieus war sie vielfach mit einem gewissen Makel behaftet. Zugleich war der Anteil der Geschiedenen, die regelmäßig am gottesdienstlichen Leben teilnahmen und die darum auch den Ausschluss von den Sakramenten deutlich spürten, hoch. Seelsorger begegneten vielen tiefgläubigen Betroffenen mit ausgesprochen tragischen Eheverläufen, etwa aus Kriegsgefangenschaft heimkehrenden Soldaten, die unmittelbar vor ihrem Fronteinsatz geheiratet hatten und die zuhause nun einen fremden Mann vorfanden. Auch das staatliche Scheidungsrecht ging mit dem Verschuldensprinzip noch von der Unselbstverständlichkeit der Scheidung aus. Gesellschaftlich war die Ehe „bis der Tod uns scheidet“ als einzige Form der Verbindung von Mann und Frau voll akzeptiert.

So entsprach die kirchliche Haltung noch einem starken, wenn auch nicht ungebrochenen gesellschaftlichen Konsens. Aus dieser Position der Stärke heraus wollte man sich – gerade in Anteilnahme an manchen tragischen Schicksalen – eine gewisse „geschmeidigere Praxis“ „[u]nterhalb der Schwelle der klassischen Lehre, sozusagen unterhalb oder innerhalb dieser eigentlich die Kirche bestimmenden Hochform“ erlauben, wie es in einem viel zitierten Aufsatz Joseph Ratzingers heißt (Ratzinger 1972, 40). In der Tat entstammt ein Großteil der bis heute gängigen Argumente bereits der Zeit nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil und der Würzburger Synode, also noch aus dem beschriebenen Kontext. Es ist auffällig, dass viele Bischöfe und Seelsorger der mittleren und älteren Generation in ihren prägenden Jugendjahren offensichtlich das Denkmuster entwickeln konnten: Man kann unangefochten an der Unauflöslichkeit festhalten und doch den Wiederverheirateten in der sakramentalen Praxis entgegenkommen. In den vergangenen vier Jahrzehnten hat jedoch eine stille Revolution familialer Lebensformen und Werthaltungen stattgefunden, die viel nachhaltiger war als die laute „sexuelle Revolution“ der Achtundsechziger. Sie ist still, weil sie nicht Jugend gegen Alter, Schicht gegen Schicht und nicht einmal Protestantisch-Liberal gegen Katholisch-Konservativ ausspielte, sondern sich breitflächig und erstaunlich konsensuell entwickelte – übrigens eine typische Strategie des erfolgreichen Sozialstaates, der gesellschaftliche Spannungen und Wertkonflikte durch ein Bündel von Gesetzesmaßnahmen, unterstützenden Einrichtungen und finanziellen Transfers gleichsam in Watte packt und ihnen dadurch die Schärfe nimmt.

Im Ergebnis hat diese Revolution einen geradezu historischen Kompromiss erzielt: Ehe und Familie erfreuen sich einerseits bei Jung und Alt einer geradezu phänomenalen Beliebtheit. So zeigte sich in einer Umfrage unter 1005 Österreichern von 2013: „72 Prozent der Österreicher weisen als primäres Lebensziel das harmonische Familienleben aus, 64 Prozent bezeichnen sich als Menschen, denen die Familie viel bedeutet“ (Familie 2014, 2). Gleichzeitig werden aber auch die Alternativen zum ehelichen Zusammenleben an jeder Stelle der Biografie sozial gestützt und sind infolgedessen zunehmend gesellschaftlich akzeptiert: frühzeitige sexuelle Kontakte und ein entsprechendes Sichausprobieren Jugendlicher, nichteheliche Partnerschaft, gleichgeschlechtliche Verbindungen, alleinerziehende Elternschaft, freiwillige Kinderlosigkeit und eben auch Trennung, Scheidung und ein neues Partnerschaftsverhalten, das übrigens keineswegs mit einer gewissen Zwangsläufigkeit auf eine zivile Wiederheirat hinausläuft: „15 Jahre nach ihrer ersten Scheidung waren fast ein Drittel der Männer und Frauen wieder verheiratet“ (vgl. Lankuttis / Blossfeld 2003, 20). In vielerlei Hinsicht sind wir somit wieder bei der altrömischen usus-Ehe vor dem Eintritt des Christentums in die antike Welt angelangt: Das Zusammenleben macht demzufolge die Ehe aus, und wo das Zusammenleben beendet wird, endet auch die Verpflichtungskraft der Ehe. Daraus ist nicht schlechthin „Chaos pur“ im Ehehafen entstanden. Eheliche Gemeinschaft und ihre Aufhebung kennen Regeln und Normen, etwa diese: „Die Kinder dürfen auf keinen Fall darunter leiden.“ Dennoch muss man feststellen, dass die christliche Bindung dieser Normen deutlich nachgelassen hat. Damit ergibt sich ein wichtiger Imperativ für die Pastoral: Je weniger selbstverständlich lebenslange eheliche Treue wird, umso wichtiger wird für die Kirche das unverkürzte und unmissverständliche Zeugnis dafür. Jede Liberalisierung wird zwangsläufig als Relativierung der Unauflöslichkeit verstanden; alles andere wäre eine Illusion. Als etwa das Seelsorgeamt des Erzbistums Freiburg 2013 in einer Handreichung gottesdienstliche Feiern bei Scheidung und Wiederheirat und eine Zulassung zur Kommunion in einzelnen Fällen vorschlug, ging die öffentliche Meinung sofort von einer grundsätzlichen Revision der kirchlichen Lehre aus, die sich darin anzeige. Ebenso werden die Überlegungen der Deutschen Bischofskonferenz zur Thematik daraufhin wahrgenommen, ob sich die „Reformer“ oder die „Hardliner“ durchsetzen. An Aufmerksamkeit kaum mehr zu übertreffen waren schließlich die (vermeintlichen oder echten) Richtungskämpfe auf der römischen Bischofssynode zur Familienpastoral vom 5. bis 19. Oktober 2014, und die weitere Diskussion auf dem Weg zur Synode von 2015 wird gewiss von ähnlichen Kategorisierungen begleitet sein.

In einem solchen Kontext ist es schlechthin nicht mehr vorstellbar, dass einzelne Seelsorger dem Wunsch nach Zulassung zur Kommunion nicht entsprechen würden, wenn man diese auch nur in Einzelfällen offiziell erlauben würde. Die Beteuerung, man stelle damit die Unauflöslichkeit der Ehe keineswegs in Frage, wird nicht zu Unrecht als die übliche Rückzugsrhetorik verstanden, wenn eine Partei, eine Organisation oder ein Unternehmen eine 180-Grad-Wende bekannt geben muss.

 

Konkret: Joseph Ratzinger hielt es in besagtem Aufsatz von 1972 noch für denkbar, „in klaren Notsituationen begrenzte Ausnahmen zur Vermeidung von noch Schlimmerem zu[zu]lassen“ (Ratzinger 1972, 53) und dafür „eine gewisse Randunschärfe“ (ebd. 51) im dogmengeschichtlichen Befund für „Lösungen gleichsam unterhalb der Schwelle der unangetastet bleibenden dogmatischen Aussage“ (ebd. 45) zu nutzen. Er ist später davon abgerückt, was Kommentatoren nicht selten mit einer gewissen Genüsslichkeit seine Äußerungen von 1972 zitieren ließ. Man wird darin aber keineswegs eine Verhärtung seiner Position erkennen, sondern vielmehr den aufmerksamen Hirten der Kirche sehen, für den der veränderte Kontext auch die Gefahr eines Dammbruchs mit sich bringt, wenn kirchenamtlich einzelne Ausnahmen zugestanden werden (dasselbe gilt auch für die ganz analoge Entwicklung bei Gerhard Ludwig Müller, vgl. Müller 1995, 211, im expliziten Anschluss an Ratzinger 1972). Schon damals gab Ratzinger den Grund an, warum die Gewährung von Ausnahmen kontextabhängig ist: „Ein Tun ‚gegen das, was geschrieben steht‘, findet seine Grenze darin, daß es nicht die Grundform selbst in Frage stellen darf, von der die Kirche lebt. Es ist also an den Charakter der Ausnahmeregelung und der Hilfe in dringlicher Not gebunden“ (Ratzinger 1972, 53).

Ohne an dieser Stelle bereits solche Ausnahmeregelungen diskutieren zu wollen, kann man aus Ratzingers Aussage im Umkehrschluss festhalten: Der Charakter einer Ausnahmeregelung kann in der heutigen Situation in dem Maß nicht mehr gewahrt bleiben, wie die Grundform grundsätzlich in Frage gestellt wird. Denn anders als vor vierzig Jahren fällt die katholische Kirche inzwischen als einzige aus dem breiten Konsens zugunsten von Wiederheirat nach Scheidung heraus. Sie wurde zum Fremdkörper, zum Stein des Anstoßes, zum Anlass für mäßige Witze in zweitklassigen Fernsehkabaretts und für rasch dahingezeichnete Papst-Karikaturen. Aus der Position der Stärke wurde die Lachnummer. Pointiert gesagt bedeutet das auch: Nicht die Wiederverheirateten stehen am Rande der Gesellschaft und benötigen Annahme und Integration, sondern die katholische Kirche. Die Rede von Barmherzigkeit und Zuwendung zu ihnen wird zunehmend dadurch konterkariert, dass der öffentlichen Meinung das Verständnis für die Haltung der Kirche schlichtweg abhandengekommen ist und man umso unbarmherziger das Urteil über sie fällt, ohne sich auch nur um ein Verstehen zu bemühen. Mit der so berührenden Szene von Joh 8,1–11 beschrieben: Nicht die Ehebrecherin liegt am Boden, voll Angst, gesteinigt zu werden, sondern die Kirche.

 

In der Frage der angemessenen Pastoral mit wiederverheirateten Geschiedenen ist eine machtvolle Dynamik der öffentlichen Meinung entstanden, die fast umgehend auch innerkirchlich aufgegriffen und verstärkt wurde. Nachdem die damit verbundenen Fragen in den letzten Jahrzehnten zwar lebhaft diskutiert wurden, dabei aber die Position insbesondere des römischen Lehramtes in den Eckpunkten klar und eindeutig formuliert wurde und darum keine Änderung erwarten ließ, ist inzwischen durch eine Vielzahl von Äußerungen, Stellungnahmen, Memoranden, Foren und Diskussionen die Erwartung geweckt worden, dass die katholische Kirche zumindest bei der Zulassung zur Eucharistie ihre Praxis verändern wird. Fatalerweise schließt sie auch das Bild eines „Reform“-Papstes Franziskus ein, der mit einigen Gleichgesinnten den Widerstand in Teilen des Episkopates brechen will – ein äußerst gefährliches Bild vom Petrusamt der Einheit! Diese Erwartungshaltung etikettiert die Bekräftigung der bestehenden Lehre und Praxis zudem noch als ängstliches Bewahren und als Problemverweigerung. Eine solche öffentliche Meinung erzeugt bekanntlich einen gewaltigen Druck auf die Verantwortlichen, nicht zuletzt dadurch, dass sie moralisierend aufgeladen wird: Wer sich für eine Liberalisierung einsetzt, gilt als menschenfreundlich, barmherzig und realitätsnah; als einen „mutigen Reformer“ darf er sich bezeichnen. Wer dagegen um die Zumutung des Evangeliums von der Unauflöslichkeit weiß, wer seelsorglich mit aller Kraft und Herzlichkeit Betroffenen helfen will, dieses Evangelium als Weg zum Leben durch das Kreuz hindurch zu verstehen, wer auch überhaupt den Mut aufbringt, gegen die herrschende Meinung aufzutreten, der gilt als hartherzig (es sei daran erinnert: in direktem Gegensatz zum Wort Jesu in Mt 19,8), unbarmherzig, ängstlich, juridisch erstarrt, unpastoral, realitätsfern und manches andere, welche Einschätzungen man mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zumindest auf einschlägigen Blogs und Leserbriefseiten als Reaktion auf eine solche Haltung finden kann. Leider trägt auch Kardinal Walter Kasper zu dieser Dynamik bei, wenn er im Blick auf die Beratungen der römischen Bischofssynode zwar realistisch darauf hinweist, dass dort sicher nicht alle Erwartungen erfüllt werden, dann aber dem Klischee entsprechend fortfährt: „Aber es würde zu einer schlimmen Enttäuschung führen, wenn wir nur die Antworten wiederholten, welche angeblich schon immer gegeben wurden. Als Zeugen der Hoffnung dürfen wir uns nicht von einer Hermeneutik der Angst leiten lassen. Etwas Mut und vor allem Freimut (parrhesia) sind notwendig“ (Kasper 2014, 84). Kondensiert ist mit diesen Worten die Argumentationslinie derer wiedergegeben, die Änderungen der kirchlichen Ordnung verlangen: 1. Der status quo ist unbefriedigend, weil „unrealistisch“, und darum sind Änderungen der Ordnung in dieser Frage notwendig. 2. Die geltende Ordnung beruft sich auf eine Tradition, die uneindeutig ist und die viele Spielräume freihält. Es soll nicht weiterhin das „Alles oder Nichts“ den Ton angeben, sondern Differenzierungen und Einzelfalllösungen. 3. Es ist eine Sache „mutiger Schritte“ und nicht der Treue, diese Änderungen jetzt auch zu verwirklichen. Dem lässt sich entgegenhalten: 1. Der status quo ist vor allem aus dem Grund unbefriedigend, weil Katechese und Seelsorge weithin ausgefallen sind und ein gläubig verinnerlichtes Wissen um den heilshaften, befreienden Charakter des Evangeliums von der Unauflöslichkeit selbst bei Seelsorgern kaum mehr vorausgesetzt werden kann. 2. Dieses Buch möchte gerade in der Diskussion dahingehend orientieren, dass dieses Evangelium von der Unauflöslichkeit, wie es der geltenden kirchlichen Ordnung zugrunde liegt, auch wissenschaftlich in allen Aspekten gut begründet ist. 3. Darum ist der eigentliche christliche Mut derzeit der Mut zur Treue, und dies im doppelten Sinn: der Ermutigung zur Treue zum Eheband, auch wenn es nur noch im Zeichen des Kreuzes gelebt werden kann, und der Treue zur kirchlichen Tradition, die in diesem Punkt eine große Eindeutigkeit aufweist.

Aber die Kirche liegt nicht alleine am Boden. Am Boden liegt auch jenes Wort Jesu, das vom ersten Augenblick an, als es ausgesprochen wurde, jeden verstört und aus der Fassung gebracht hat, der es vernahm: Was Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen (Mk 10,9; Mt 19,6). Und wenn der Herr in seinem Wort zugegen ist, dann droht ihm selbst die Steinigung durch die öffentliche Meinung – ganz wie damals in seiner Heimatstadt Nazaret, die ihm mit einem Schlag so fremd geworden ist (vgl. Lk 4,16–30). Von ihm aber kann die Kirche auch lernen, wie sie bei Ablehnung zu reagieren hat: nicht mit Anpassung, aber ebenso wenig mit ängstlicher Einigelung, sondern mit jener wunderbaren parrhesia – eigentlich dem Freimut zur Verkündigung –, die es sich nicht nehmen lässt, den Armen das Evangelium zu verkünden (Lk 4,18; Jes 61,1). Weder lässt die Kirche sich von der Tagespresse vorgeben, was sie zu lehren und zu tun hat, noch beschränkt sie sich auf Verteidigung des Bestehenden. Vielmehr fragt sie bei allem: Was dient dem Heil der Menschen? Ein hoher Anspruch, gewiss. Wie ihm in unserer Frage gerecht zu werden ist, dazu sollen die hier vorgetragenen Überlegungen beitragen. An dieser Stelle ist es wichtig zu klären, woraus sich das Selbstbild der Kirche speist: Sie darf nicht die Fremdwahrnehmung der öffentlichen Meinung übernehmen und sich und ihre Haltung daraus als Problem definieren, sondern sie schaut auf den Herrn und seinen Auftrag und sucht nach Wegen, ihn heute zu verwirklichen.

Noch einmal im Kreuzworträtsel-Jargon gesprochen: Sie entzieht sich dem Versuch, das Suchwort für „Kirche“ als „Nein-Sagerin“ zu bestimmen, und setzt an dessen Stelle das Suchwort „Jawort-Beschützerin“. Dass die Kirche dies ist und wie sie es besser verwirklichen könnte, davon handelt tatsächlich das dritte Kapitel dieses Buches. Eine „Jawort-Beschützerin“ ist die Kirche nämlich nicht allein durch ein unbeirrtes Festhalten an moralischen Prinzipien in Verbindung mit gewissen Sanktionen. Das eigentliche Problem liegt einmal mehr in der Trennung von Evangelium und Kultur, die Papst Paul VI. in „Evangelii nuntiandi“ Nr. 20 beklagt hat. Es gelingt der Kirche selbst bei den Kirchennahen häufig nicht mehr, Unterstützung für ihre Position und vor allem deren lebenspraktische Umsetzung und ihren Vorbildcharakter zu gewinnen. Dadurch wirkt diese Position tatsächlich wie der dürre Moralismus des Amtes und nicht wie der Ausdruck eines gelebten und geliebten Ethos des Volkes Gottes. Inkulturation des Evangeliums von der Ehe also: Dass diese Aufgabe erfolgversprechend ist, darauf weisen Studien hin, die den Einfluss kultureller Faktoren auf die Häufigkeit von Scheidungen unter Beweis stellen (Furtado / Marcén / Sevilla 2013; Hartmann 1999). Die moralische Festigkeit der Kirche muss also verbunden werden mit einer ehefördernden und -stabilisierenden Kultur. Worin besteht sie? Man könnte etwa Vertrauen in Sinn und Glück lebenslanger Partnerschaft nennen, Vorbilder in der Herkunftsfamilie und im näheren Umfeld, Kenntnis und Beherrschung partnerschaftsstabilisierender und konfliktbearbeitender Verhaltensweisen, großzügige Bereitschaft zum Kind, Verbindung mit Gleichgesinnten, eine sympathisch begleitende und verbindliche Seelsorge und natürlich ein Leben aus dem Gebet und den Sakramenten. Es könnte zu einem Markenzeichen ehewilliger Katholiken werden, dass sie die Ehe ernst nehmen, aber auch wissen, wie man das tut. Damit endet dieses Buch in einem Plädoyer für Seelsorge im umfassenden Sinn.

Kurze Darlegung der geltenden Lehre und Praxis

Bevor wir in die einzelnen Fragen und Antworten eintreten und um nicht dabei „vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sehen“, ist es gut, sich kurz der geltenden Lehre und Praxis der Kirche zu vergewissern. Warum ist die Haltung der katholischen Kirche so, wie sie ist? Gott hat die Ehe schon im Paradies mit der Erschaffung der Frau gestiftet: Und [Gott] führte sie dem Menschen zu. Und der Mensch sprach: Das endlich ist Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch. Frau soll sie heißen, denn vom Mann ist sie genommen. Darum verlässt der Mann Vater und Mutter und bindet sich an seine Frau und sie werden ein Fleisch (Gen 2,22f). „Ein Fleisch zu werden“ schließt ein, „ein Geist zu werden“. Als Jesus beim Streitgespräch mit den Pharisäern dieses Wort anführt, fügt er verdeutlichend noch die Aussage hinzu: Sie sind also nicht mehr zwei, sondern eins (Mt 19,6; Mk 10,8). „Wo also Eintracht, die gleiche Gesinnung und Harmonie des Mannes mit der Frau [und der Frau mit dem Mann] vorhanden sind, […] da kann man wirklich von ihnen sagen, dass sie ‚nicht mehr zwei sind‘“ (Origenes, Comment. in Mt 14,16 [GCS 40,323,15–22]). Durch Gottes Hand werden Mann und Frau also untrennbar eins. Die Ehe jedes Menschen ist deshalb grundsätzlich unauflöslich. Das Alte Testament kennt jedoch eine Ausnahme, die Ausstellung eines Scheidebriefes durch den Mann: Weil es trotz der ursprünglichen Ordnung der Ehe immer wieder zu Trennung gekommen ist, hat das mosaische Gesetz in Dtn 24,1–4 diese regeln wollen, um der Rechtlosigkeit, die besonders die Frau hart treffen würde, entgegenzutreten:

Wenn ein Mann eine Frau geheiratet hat und ihr Ehemann geworden ist, sie ihm dann aber nicht gefällt, weil er an ihr etwas Anstößiges entdeckt, wenn er ihr dann eine Scheidungsurkunde ausstellt, sie ihr übergibt und sie aus seinem Haus fortschickt, wenn sie sein Haus dann verlässt, hingeht und die Frau eines anderen Mannes wird, wenn auch der andere Mann sie nicht mehr liebt, ihr eine Scheidungsurkunde ausstellt, sie ihr übergibt und sie aus seinem Haus fortschickt, […] dann darf sie ihr erster Mann, der sie fortgeschickt hat, nicht wieder heiraten, sodass sie wieder seine Frau würde, nachdem sie für ihn unberührbar geworden ist. Das wäre dem Herrn ein Gräuel. Du sollst das Land, das der Herr, dein Gott, dir als Erbbesitz gibt, nicht der Sünde verfallen lassen.

Doch in besagtem Gespräch mit den Pharisäern stellt Jesus klar, dass die Ausstellung eines Scheidebriefes nicht dem ursprünglichen Willen Gottes entspricht: Nur weil ihr so hartherzig seid, hat Gott euch dieses Gebot gegeben. Am Anfang der Schöpfung aber hat Gott sie als Mann und Frau erschaffen (Mk 10,5; vgl. Mt 19,8). Gleichzeitig hat Christus die Ehe von Getauften zur Würde eines Sakramentes erhoben, insofern sie zum Zeichen der unauflöslichen Verbindung von Christus und der Kirche wird und von ihm besondere Gnaden dafür erhält, auch in schweren Tagen die Treue halten oder zu ihr durch Reue und Umkehr zurückkehren zu können. Die sakramentale Ehe stiftet ein Eheband, das erst mit dem Tod eines der Partner aufgelöst wird („bis der Tod uns scheidet“). Es bindet noch fester als bei der Ehe von Ungetauften. Denn es bezieht seine unauflösliche Kraft nun auch daher, dass die Ehe unter Getauften zum Abbild der unverbrüchlichen Treue Christi zu seiner Kirche wird: Das Ein-Fleisch-Werden wird zu einem tiefen Geheimnis (vgl. Eph 5,31f); insofern damit der eheliche Akt gemeint ist, erhält erst die vollzogene Ehe diese sakramentale Unauflöslichkeit im Vollsinn. An diese biblischen Grundlagen bleibt die katholische Kirche gebunden. Sie hat nicht die Vollmacht, etwas substanziell Anderes zu bestimmen. Wohl aber hat sie den Auftrag, der Ehe ein rechtliches Gewand zu verleihen und dabei auch den genaueren Umfang dieser Unauflöslichkeit zu bestimmen. Das schließt einige besondere Elemente ein:

Bei den beiden „in favorem fidei“ gewährten „Privilegien“ sowie bei der Auflösung der nicht vollzogenen Ehe handelt es sich allerdings um Grenzfälle; sie zu diskutieren würde an dieser Stelle den Rahmen sprengen.

Wer zu Lebzeiten des ersten Ehepartners in einer neuen Verbindung lebt, dem ist der Empfang der Sakramente nicht möglich. Beim Bußsakrament ist dies leicht nachvollziehbar: Das Sündenbekenntnis schließt die Bereitschaft ein, sich nach Kräften zu bemühen, einen Zustand schwerer Sünde zu beenden. Wer aber weiterhin in dieser Verbindung als Mann und Frau leben will, kann ein entsprechendes Versprechen nicht geben. Ebenso ist der Empfang der hl. Kommunion im Zustand schwerer Sünde nicht möglich. Dabei beruft sich die Kirche u. a. auf das Wort des Paulus:

Wer also unwürdig von dem Brot isst und aus dem Kelch des Herrn trinkt, macht sich schuldig am Leib und am Blut des Herrn. Jeder soll sich selbst prüfen; erst dann soll er von dem Brot essen und aus dem Kelch trinken. Denn wer davon isst und trinkt, ohne zu bedenken, dass es der Leib des Herrn ist, der zieht sich das Gericht zu, indem er isst und trinkt (1 Kor 11,27–29).

Diese Haltung ist vom päpstlichen Lehramt auch in jüngerer Zeit unmissverständlich bestätigt und gegen Angriffe verteidigt worden, so im Apostolischen Schreiben „Familiaris Consortio“ von Papst Johannes Paul II.:

„Die Kirche bekräftigt jedoch ihre auf die Heilige Schrift gestützte Praxis, wiederverheiratete Geschiedene nicht zum eucharistischen Mahl zuzulassen. Sie können nicht zugelassen werden; denn ihr Lebensstand und ihre Lebensverhältnisse stehen in objektivem Widerspruch zu jenem Bund der Liebe zwischen Christus und der Kirche, den die Eucharistie sichtbar und gegenwärtig macht. Darüber hinaus gibt es noch einen besonderen Grund pastoraler Natur: Ließe man solche Menschen zur Eucharistie zu, bewirkte dies bei den Gläubigen hinsichtlich der Lehre der Kirche über die Unauflöslichkeit der Ehe Irrtum und Verwirrung“ (Familiaris Consortio 84; vgl. Schick 1982).

In einer Grundsatzerklärung hat die Glaubenskongregation 1994 diese Lehre noch einmal bekräftigt: „In Treue gegenüber dem Wort Jesu hält die Kirche daran fest, daß sie eine neue Verbindung nicht als gültig anerkennen kann, falls die vorausgehende Ehe gültig war. Wenn Geschiedene zivil wiederverheiratet sind, befinden sie sich in einer Situation, die dem Gesetz Gottes objektiv widerspricht. Darum dürfen sie, solange diese Situation andauert, nicht die Kommunion empfangen“ (Kongregation für die Glaubenslehre 1994, Nr. 4). Ausführlich geht der „Katechismus der katholischen Kirche“ auf unsere Fragestellung ein:

„Es gibt jedoch Situationen, in denen das eheliche Zusammenleben aus sehr verschiedenen Gründen praktisch unmöglich wird. In diesen Fällen gestattet die Kirche, daß sich die Gatten dem Leib nach trennen und nicht länger zusammenwohnen. Die Ehe der getrennten Gatten bleibt aber vor Gott weiterhin aufrecht; sie sind nicht frei, eine neue Ehe zu schließen. In dieser schwierigen Situation wäre, falls dies möglich ist, die Versöhnung die beste Lösung. Die christliche Gemeinde soll diesen Menschen behilflich sein, in ihrem Leben diese Situation christlich zu bewältigen, in Treue zu ihrem Eheband, das unauflöslich bleibt.

In vielen Ländern gibt es heute zahlreiche Katholiken, die sich nach zivilen Gesetzen scheiden lassen und eine neue, zivile Ehe schließen. Die Kirche fühlt sich dem Wort Jesu Christi verpflichtet: ‚Wer seine Frau aus der Ehe entläßt und eine andere heiratet, begeht ihr gegenüber Ehebruch. Auch eine Frau begeht Ehebruch, wenn sie ihren Mann aus der Ehe entläßt und einen anderen heiratet‘ (Mk 10,11–12). Die Kirche hält deshalb daran fest, daß sie, falls die Ehe gültig war, eine neue Verbindung nicht als gültig anerkennen kann. Falls Geschiedene zivil wiederverheiratet sind, befinden sie sich in einer Situation, die dem Gesetze Gottes objektiv widerspricht. Darum dürfen sie, solange diese Situation andauert, nicht die Kommunion empfangen. Aus dem gleichen Grund können sie gewisse kirchliche Aufgaben nicht ausüben. Die Aussöhnung durch das Bußsakrament kann nur solchen gewährt werden, die es bereuen, das Zeichen des Bundes und der Treue zu Christus verletzt zu haben, und sich verpflichten, in vollständiger Enthaltsamkeit zu leben“ (KKK 1649f.).

Ebenso legt c. 915 im CIC des lateinischen Kirchenrechtes fest: „Zur heiligen Kommunion dürfen nicht zugelassen werden Exkommunizierte und Interdizierte nach Verhängung oder Feststellung der Strafe sowie andere, die hartnäckig in einer offenkundigen schweren Sünde verharren.“ Ganz ähnlich formuliert c. 712 des Gesetzbuches der katholischen Ostkirchen (CCEO): „Vom Empfang der Göttlichen Eucharistie müssen jene ferngehalten werden, deren Unwürdigkeit öffentlich bekannt ist.“ Der Grund ist ein zweifacher, wie die „Erklärung“ des Päpstlichen Rates für die Gesetzestexte vom 24. Juni 2000 erläutert (vgl. Dichiarazione 2000):