Zum Buch

 

Als Wirkungsort und Grablege der hl. Elisabeth erreichte Marburg bereits im hohen Mittelalter als viel besuchtes Pilgerziel weitreichende Bedeutung. Von hier aus legten die Nachfahren Elisabeths als Landgrafen den Grundstein für das Land Hessen. Hier gründete Philipp der Großmütige 1527 die erste protestantische Universität und moderierte im Schloss das Marburger Religionsgespräch zwischen Luther und Zwingli. Das Landgrafenschloss hoch über der Stadt diente in seiner bewegten Geschichte als Residenz, Festung, Garnison, Gefängnis, Staatsarchiv und 1945 u. a. als Collecting Point der Amerikaner für Beutekunst. Marburg überstand den Zweiten Weltkrieg fast unzerstört und wurde in den 1970er-Jahren zum Musterbeispiel einer gelungenen Altstadtsanierung.

Über all das und vieles mehr berichtet diese Kleine Stadtgeschichte – knapp, präzise und unterhaltsam.

 

 

Zum Autor

 

Erhart Dettmering, geboren 1937, war langjähriger Leiter des Magistratpresseamts der Stadt Marburg. Zahlreiche Publikationen zur Lokalgeschichte, darunter die umfangreiche ›Geschichte der Stadt Marburg in Einzelbeiträgen‹.

Erhart Dettmering

Marburg
Kleine Stadtgeschichte

VERLAG FRIEDRICH PUSTET

REGENSBURG

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

eISBN 978-3-7917-6056-8 (epub)

© 2015 by Verlag Friedrich Pustet, Regensburg

eBook-Produktion: Friedrich Pustet, Regensburg

Umschlaggestaltung: Martin Veicht, Regensburg

 

Diese Publikation ist auch als Printprodukt erhältlich:

ISBN 978-3-7917-2641-0

 

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Informationen und Bestellungen unter verlag@pustet.de

Vorwort

Es ist immer reizvoll, der Geschichte einer alten Stadt nachzuspüren. Wer mit offenen Augen durch die Altstadt bummelt, also nicht gerade mit voller Einkaufstasche zu seinem Auto ins nächste Parkhaus hastet, der wird in Marburg auf Schritt und Tritt den Zeugnissen der Vergangenheit begegnen. Wenn dann sein historisches Interesse geweckt ist, wird er sich vielleicht fragen: Was hat sich wohl alles auf diesem Marktplatz abgespielt? oder: Wer wohnte einst in jenem stattlichen, alten Haus? oder: Wer hat diese Kirche mit dem spitzen Turm, der hoch über die grauen Schieferdächer hinausragt, erbaut? Glücklich, wer dann zuhause in einer reichhaltigen Bibliothek nachschlagen kann, in der ein mehr oder weniger aussagekräftiger Stadtführer, vielleicht sogar auch ein dicker Band zur Stadtgeschichte stehen.

Natürlich gibt es über eine Stadt wie Marburg, die stolz ist auf ihre fast 500 Jahre alte Universität, eine umfangreiche, selbst für Kenner kaum noch überschaubare Literatur zu einzelnen historischen Fragestellungen. Aber angesichts der erstaunlichen Forschungsergebnisse der letzten 40 Jahre, die auf Grund umfangreicher archäologischer Funde im Rahmen der Altstadtsanierung und auch verstärkter Beschäftigung der Universität mit der Lokal- und Universitätsgeschichte zur Verfügung stehen, wäre eine umfassende Stadtgeschichte aus einem Guss nach neuestem Forschungsstand wünschenswert. Aber nur selten findet sich ein kundiger Polyhistor fürs Lokale, der Zeit und Mühe für den Gang durch die Jahrhunderte einer einzigen Stadt nicht scheut. Für Marburg jedenfalls ist er oder sie gegenwärtig nicht in Sicht.

Die vorliegende Kleine Stadtgeschichte erhebt nicht den Anspruch, ihre Leserinnen und Leser umfassend über Marburg zu informieren. Das verbietet schon der begrenzte Umfang: 1000 Jahre komprimiert auf rund 200 Seiten! Wenn es ihr jedoch gelingt, den ersten Wissensdurst zu stillen und einen Überblick zu vermitteln, der zu weiterem Nachforschen reizt, dann hat sie ihre Aufgabe erfüllt – besonders dann, wenn sie außerdem dazu beiträgt, sich mit dieser so vielseitigen Stadt zu identifizieren.

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Abb. 1: Bei der Sanierung des Mauerwerks 1993 war dieser Blick auf die Altstadt von der 80 m hohen Spitze des eingerüsteten Nordturms der Elisabethkirche möglich.

Eingedenk des warnenden Faust-Wortes »Willst du ins Unendliche schreiten, geh nur im Endlichen nach allen Seiten« seien für den, der sich mit der 1000-jährigen Geschichte der Stadt Marburg beschäftigen will, zur ersten Orientierung als Richtpunkte drei Jahreszahlen genannt:

 

1228: die Ankunft der Landgrafenwitwe Elisabeth von Thüringen in Marburg,

1527: die Gründung der ersten protestantischen Universität durch Philipp d. Großmütigen und

1866: die Annexion Kurhessens durch Preußen

lösten jeweils nachhaltige Entwicklungen aus, ohne die Marburg höchstwahrscheinlich ein zwar ansehnliches und liebenswertes, aber doch unbedeutendes Landstädtchen geblieben wäre.

 

Marburg, im September 2014 Erhart Dettmering

 

 

 

Postscriptum:

Selbst der große römische Historiker Tacitus, der versicherte, er wolle Geschichte »sine ira et studio«, also ganz unvoreingenommen schreiben, hat seinem Werk eine sehr persönliche Prägung gegeben, die seine innere Anteilnahme und seine Sorge um die Zukunft Roms erkennen lässt. Daher sei es auch mir gestattet, meiner Kleinen Marburger Stadtgeschichte einige kritische Anmerkungen beizufügen, die Sorge und Hoffnung zugleich ausdrücken. Die stürmische Entwicklung Marburgs am Ende des 19. Jhs. und dann wieder seit den 60er-Jahren des 20. Jhs. haben das historische Stadtbild verändert. Das war unvermeidlich, aber im Ergebnis nicht immer überzeugend, wenn man einmal von der gelungenen Altstadtsanierung absieht. Aber noch immer ist die Dominanz der historischen Oberstadt, des Landgrafenschlosses und der Elisabethkirche im Stadtbild erkennbar. Allerdings nur, wenn man sich der Innenstadt nicht vom Erlenring her nähert, wo der zwar flache, aber ungegliederte, fantasielos weiß gestrichene Betonkomplex eines Einkaufs- und Ärztezentrums den erschreckenden Eindruck hervorruft, Marburg verberge sich hinter einem unförmigen Eisberg. Dieser architektonische Missgriff hat allen Kritikern rechtgegeben, die mit Sorge vor allem die auf Verdichtung der Innenstadtbebauung ausgerichtete Stadtplanung der letzten 20 Jahre verfolgen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, lassen die seitdem entstandenen Bauten nicht erkennen, dass ihre Architekten bemüht waren, neue Architektur sensibel mit den historisch gewachsenen Gestaltungselementen in Einklang zu bringen. Besonders bedauerlich ist der fast völlige Verzicht auf vertikal gliedernde Architekturelemente – und das in einer Stadt, deren spezielles Merkmal die aufragende Altstadt ist. Die kaiserzeitlichen Kliniksbauten im Nordviertel nahmen Rücksicht auf die Nähe der ehrwürdigen Elisabethkirche und überragen bis heute kaum die Baumwipfel des Botanischen Gartens. Das muss die Richtschnur auch für künftige Planungen bleiben. Noch ist es nicht sicher, ob der im Bau befindliche, voluminöse Komplex des großen Medienzentrums der Universität und der architektonisch nicht unbedingt überzeugende Sprachatlas-Neubau auf dem neu entstehenden sogenannten Campus Firmanei eine Bereicherung oder eine Belastung für das Stadtbild sein werden. Grundsätzlich wird auch in Zukunft von allen für Planung und Entscheidung verantwortlichen Architekten und Politikern ein hohes Maß an Sensibilität, Respekt vor der Geschichte und planerische Fantasie zu fordern sein, damit das von ihnen zu verantwortende Kapitel der Stadtgeschichte erfreulich verläuft. Für großen Optimismus, dass dies so sein wird, gibt es vorerst keinen Grund.

 

E.D.

Berg und Burg über der Lahn – Die Anfänge (9.–12. Jahrhundert)

»Die alte, von jeher durch den letzten Aufenthalt, Tod und Begräbnis der heiligen Landgräfin Elisabeth von Hessen berühmte Stadt liegt krumm, schief und bucklicht, unter einer alten Burg, den Berg hinab«, so urteilte vor rund 200 Jahren der Marburger Professor Johann Heinrich Jung-Stilling über die Stadt an der Lahn und rühmte gleichzeitig, dass die Umgebung der Stadt »schön und sehr angenehm ist, und dann belebt auch der Lahnfluß die ganze Landschaft«. Sinngemäß gilt dieses Urteil auch zu Beginn des 21. Jhs. Aber wie war das vor Beginn unserer Zeitrechnung?

Zahlreiche Knochen-, Keramik- und Metallfunde im Marburger Stadtgebiet und Umland bezeugen, dass schon in grauer Vorzeit und über viele Jahrhunderte hinweg hier gesiedelt wurde – erst auf den Höhen beiderseits der Lahn, später auch unten im Tal. Davon künden beispielsweise zahlreiche Hügelgräber auf den östlichen Lahnbergen.

In den letzten vorchristlichen Jahrhunderten waren es die Kelten. Ihnen folgten dann in der Römerzeit die Chatten, deren Stammesgebiet der römische Schriftsteller Tacitus im hessischen Bergland lokalisiert und die auch in der Region um Marburg ansässig waren. Bedauerlicherweise hat sich das Imperium Romanum nach der Niederlage seines Feldherrn Varus im Jahre 9 nach Chr. schmollend hinter die Limeslinie in der Wetterau zurückgezogen, sodass die Chatten zwar in den antiken Quellen bis ins 3. Jh. wiederholt erwähnt werden, aber mit der feineren römischen Lebensart allenfalls durch den grenzüberschreitenden Handel in Berührung gekommen sind. Daher würde man in Marburg vergeblich nach Zeugnissen römischer Zivilisation suchen. Vom 6. Jh. an drangen dann von Süden her die Franken in das Gebiet der Chatten ein, die offensichtlich keinen Widerstand leisteten – jedenfalls berichten die Quellen nichts davon. Bei ihrem weiteren Vordringen eroberten die Franken Thüringen und nahmen nach siegreichem Kampf die thüringische Königstochter Radegundis gefangen, deren weiteres Leben bis zur Klostergründung um 560 in Poitiers, dessen Stadtheilige sie wurde, erstaunliche Parallelen zu Elisabeth, der Marburger Stadtheiligen, aufweist – eine interessante historische Klammer zwischen den beiden Partnerstädten.

Bedauerlich ist, dass der Berg, der sich 104 m über der Lahn erhebt und heute das stolze Landgrafenschloss trägt, keine eindeutigen archäologischen Hinweise auf die früheste Besiedlung freigegeben hat. Es ist aber durchaus denk-, wenn auch nicht nachweisbar, dass schon in fränkischer Zeit – oder noch früher? – die strategisch günstige Lage des nach drei Seiten abfallenden Buntsandsteinfelsens – geologisch ein Vorsprung des Marburger Rückens – für eine Befestigung genutzt wurde. Bei den spektakulären Ausgrabungen unter der mittelalterlichen Bausubstanz des Landgrafenschlosses wurden 1989/90 die Fundamente einer Turmburg entdeckt, auf die man heute beim Rundgang durch das Schlossmuseum durch den gläsernen Fußboden zwei Stockwerke tief hinunterblicken kann.

Die ersten Herren

Die Datierung dieser frühen Befestigung ist allerdings umstritten, da schriftliche Zeugnisse fehlen und bei der Deutung der Keramikfunde ein Zeitraum vom Ende des 10. bis zum 12. Jh. angesetzt werden kann. Vielleicht gehen die Anfänge dieser Befestigung auf die Grafen Werner zurück, die in der hessischen Grafschaftspolitik der Ottonen und Salier im 11. Jh. eine wichtige Rolle spielten. Mit Werner IV., der als Graf von Hessen auch über das Land an Ohm und mittlerer Lahn geherrscht hatte, starb das Geschlecht 1121 aus.

Ihr Erbe traten neben dem Erzbischof von Mainz für kurze Zeit die Gisonen an, ein Grafengeschlecht, das im Waldgebiet an der oberen Lahn ansässig war. Als ihr Stammsitz gilt die Burg Hollende westlich von Wetter, von der heute nur Ortskundige in der Nähe des Dorfes Treisbach noch Spuren auffinden. Möglicherweise verlegten sie nach Übernahme des Wernerschen Erbes ihren Sitz auf jenen schon vorher befestigten Berg über der Lahn, von dem aus das frühmittelalterliche Wegesystem und die Furten über die Lahn überwacht werden konnten.

Allerdings war die Herrschaft der Gisonen nur von kurzer Dauer. Als sie im Mannesstamm 1122 bzw. 1137 ausstarben, folgte ihnen dank doppelter Heiratsverbindung das thüringische Grafengeschlecht der – wegen des bei ihnen häufig vorkommenden Namens Ludwig – sogenannten Ludowinger. Diese hatten seit dem 11. Jh. ihre Herrschaft in Thüringen zielstrebig ausgebaut und erweitert. Nun erhielten sie die Chance, ihren Einflussbereich weit nach Westen auszudehnen: zunächst auf Oberhessen mit Marburg, dann auch auf Niederhessen mit Kassel. Etwa zur gleichen Zeit – wohl auf dem Reichstag in Goslar 1131 – wurde die neu gewonnene, herausragende Stellung der Ludowinger im Reich durch die Verleihung des Landgrafentitels an Ludwig I. von Thüringen bestätigt.

Die Marburg

Mit Beginn des 12. Jhs. taucht erstmals der Name Marburg auf. Er deutet auf die Grenzlage der Burg hin, die am nördlichen Fuß des Berges durch den Marbach markiert wird, denn hier stießen die drei alten Gerichtsbezirke Ebsdorf, Caldern und Reizberg zusammen. Der 1138/39 in einer Urkunde des Erzbischofs Arnold von Köln als Zeuge genannte Ludewicus de Marburg war offensichtlich ein ludowingischer Ministeriale, den die neuen Landesherren eingesetzt hatten im Rahmen ihrer intensiven Bemühungen, den frisch erworbenen Besitz im fernen Westen ihrer Territorien durch den Bau von Burgen und Städten zu sichern und zu erweitern.

Die Marburg wurde in dieser Zeit mit Turm und Ringmauer verstärkt. Eine Siedlung am Hang unterhalb der Burg, vielleicht auch ein Markt, war sicherlich schon vorhanden, als die Thüringer eintrafen. Aber die sorgten nun für einen neuen Entwicklungsschub, denn sie brauchten einen sicheren Stützpunkt gegenüber der benachbarten Amöneburg, die dem stets auf Machterweiterung bedachten Erzbischof von Mainz gehörte.

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Abb. 2: »Godescalc hat mich geschaffen” steht am romanischen Portal an der ehemaligen Kilianskapelle (um 1200) auf dem Schuhmarkt.

Die archäologischen Untersuchungen, die durch den Beginn der Altstadtsanierung seit 1972 möglich waren, ergaben u. a., dass sich diese Siedlung um 1140 an der östlichen Kante des Burgberges oberhalb des Pilgrimsteins befand und im Westen durch einen Graben befestigt war, der in Nord-Süd-Richtung über den heutigen Marktplatz verlief. Der Markt des 12. Jhs. jedoch lag um die kleine Kilianskapelle herum und war größer als der heutige Schuhmarkt. Die Inschrift Godescalc me fecit am heute zugemauerten Westportal der ehemaligen Kapelle verrät uns leider nicht mehr als den Namen des Künstlers, der den romanischen Figurenschmuck schuf. Das in Hessen sonst seltene und in die erste Hälfte des 12. Jhs. zu datierende Kilianspatrozinium geht auf die Ludowinger zurück. Allerdings waren damit noch keine Pfarrrechte verbunden, sodass die Marburger weiterhin zur Pfarrei der älteren Martinskirche in Oberweimar gehörten (und zwar noch bis 1227).

In der 2. Hälfte des 12. Jhs. häufen sich, auch wenn die schriftliche Überlieferung noch unergiebig ist, die Anzeichen für eine geradezu stürmische Entwicklung der kleinen Siedlung unterhalb der Burg zur mittelalterlichen Stadt mit den dafür erforderlichen Kriterien: Markt, Mauer und Münzprägung.

Zur Sicherung des Marktes und der wachsenden Bevölkerung wurde nach Beginn des 13. Jhs. der Befestigungsring nach Westen und Südwesten innerhalb weniger Jahrzehnte zweimal erweitert, zuletzt um 1260. Diese Begrenzung, die noch heute im Stadtbild durch das Kalbstor und die weitgehend erhaltene Mauer zwischen Schlossbereich und Barfüßertor erkennbar ist, blieb bis in die zweite Hälfte des 19. Jhs. nahezu unverändert. Als Vorstädte entwickelten sich nach Norden hinunter in Richtung Deutschordensbereich die Neustadt, am Fuß des Berges unten an der Lahn der Pilgrimstein und jenseits der Lahn Weidenhausen, später noch im Süden der Grün – jeweils entlang der Straßen, die in die Stadt führten. Den wirtschaftlichen Aufschwung bezeugt auch die Prägung der Marburger Pfennige, deren Geltung als verbreitetes Zahlungsmittel schon 1194 eine Urkunde des Erzbischofs von Köln bezeugt.

Ein weiteres Zeugnis für das Wachstum der Stadt ist der in dieser Zeit begonnene Bau einer zweiten, größeren, noch romanischen Kirche westlich der ursprünglichen Siedlung. Sie war wohl kurz vor oder nach der Jahrhundertwende fertiggestellt und bot genügend Raum auch für nichtkirchliche Veranstaltungen wie jene, von der die Reinhardsbrunner Chronik aus dem Jahr 1222 berichtet: In ihr, der ecclesia maior, habe der Landgraf eine Gerichtssitzung mit den Bürgern der Stadt, cum burgensibus civitatis, abgehalten. Die Bezeichnung als civitas ist gleichzeitig der untrügliche Beweis dafür, dass Marburg dank der gezielten Förderung durch die Landgrafen von Thüringen zu dieser Zeit nach mittelalterlicher Vorstellung tatsächlich Stadt war.

Für die weiter wachsende Stadt war bald auch diese Kirche zu klein. Daher bauten Landgraf, Bürgerschaft und der Deutsche Orden, der auf seinem Territorium unten im Tal den ersten rein gotischen Kirchenbau östlich des Rheins verwirklichte, gemeinsam auf einer durch eine mächtige Sandsteinmauer gesicherten Terrasse unterhalb des Burgbezirks die neue repräsentative Pfarrkirche St. Marien, deren Chor 1297 geweiht wurde und die seit ihrer Vollendung im 14. Jh. bis heute mit ihrer leicht gedrehten Turmspitze das Stadtbild am Berghang über der Lahn prägt.

Das Jahrhundert der Heiligen (13. Jahrhundert)

Elisabeth von Thüringen – Fürstin, Dienerin, Heilige

Marburg unterschied sich zu Beginn des 13. Jhs. – auch unter Berücksichtigung seines beachtlichen Wachstums – von den zahlreichen anderen thüringischen Stadtgründungen dieser Zeit wohl nur durch die Burg, die von den Landgrafen als militärischer und administrativer Stützpunkt zur Absicherung ihres Besitzes in Oberhessen immer weiter ausgebaut wurde. Dann aber trat ein Ereignis ein, das der Stadt eine besondere, ganz neue Bedeutung und ihrer Entwicklung schon bald einen zusätzlichen Impuls geben sollte: die Ankunft der verwitweten Landgräfin Elisabeth im Jahr 1228. Ihr eilte der Ruf einer Frau mit absolut unstandesgemäßem Verhalten voraus.

Wer war diese Frau, die im so von Männern dominierten Mittelalter zu den wenigen herausragenden weiblichen Persönlichkeiten ihrer Zeit gehört, die unangefochten in der deutschen Geschichte ihren Platz haben? Und das nicht etwa aufgrund besonderer politischer, künstlerischer oder wissenschaftlicher Verdienste. Als sie nach Marburg kam, war die junge Witwe gerade erst 21 Jahre alt und hatte drei Kinder im Alter von sechs, vier und einem Jahr. Nur wenig mehr als drei Jahre waren ihr dann noch vergönnt bis zu ihrem frühen Tod. Schon wenige Jahre später wurde sie heiliggesprochen und ihr Grab in der Elisabethkirche für lange Zeit zur viel besuchten Wallfahrtsstätte.

Ein überzeugender Beweis dafür, dass Ansehen und Verehrung Elisabeths als ein über die Zeiten hinweg leuchtendes Vorbild für selbstloses soziales Engagement auch heute noch unverändert groß sind, war ihre umfassende Würdigung durch eine Vielzahl von Veranstaltungen und Publikationen aus Anlass ihres 800. Geburtstages im Jahr 2007 vonseiten der protestantischen und katholischen Öffentlichkeit und darüber hinaus.

Elisabeth auf der Wartburg

Elisabeth wurde 1207 als Tochter des Königs von Ungarn, Andreas II., und seiner Gattin Gertrud von Andechs-Meranien geboren und – im Rahmen gezielter Heiratspolitik – schon im Alter von vier Jahren mit dem ältesten Sohn Landgraf Hermanns I. von Thüringen verlobt. Der ungarische König erwartete von der dynastischen Verbindung mit der Familie eines einflussreichen Reichsfürsten die Festigung seiner Machtstellung gegenüber dem ungarischen Adel und seinen Nachbarn auf dem Balkan. Und für die im Streit zwischen Welfen und Staufern auf ihren Vorteil bedachten Ludowinger bedeutete eine Königstochter in der Familie eine weitere Steigerung ihres Prestiges in einer unruhigen Zeit, in der der junge Stauferkönig Friedrich II. gerade begann, seine Herrschaftsansprüche im Reich durchzusetzen.

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Abb. 3: Elisabeth und Ludwig an der fürstlichen Tafel (Detail vom Elisabethaltar in der Marburger Elisabethkirche).

So gelangte Elisabeth als Vierjährige mit reicher Ausstattung an den thüringischen Hof auf der Wartburg und wuchs zusammen mit den acht Landgrafenkindern auf, um auf ihre künftige Stellung als Landgräfin vorbereitet zu werden. Dabei ließ sie schon früh erkennen, dass sie bei aller kindlichen Ungezwungenheit von einem ungewöhnlich starken Gefühl für religiöse Fragen erfüllt war. Die Hochzeit Elisabeths im Jahr 1221 mit dem Landgrafensohn Ludwig, der vier Jahre zuvor als Siebzehnjähriger die Nachfolge seines Vaters angetreten hatte, ging zwar auf nüchternes politisches Kalkül zurück, war aber dennoch ungewöhnlich – nicht etwa, weil die Braut erst 13 war, sondern weil die Eheleute von Anfang an in inniger Liebe miteinander verbunden waren. Dies gab Elisabeth den nötigen Rückhalt, das zu tun, was von ihrer Umgebung mit Unverständnis, Kritik oder gar heftiger Ablehnung verfolgt wurde: Beispielsweise nahm sie nicht nur, wie es üblich war, an Festtagen, sondern stets ihren Platz neben ihrem Mann an der landgräflichen Tafel ein, und sie stand lieber hungrig oder durstig auf, als von Speisen zu essen, die möglicherweise unrechtmäßig auf den Tisch gekommen waren. Sie legte, wenn sie die Messe besuchte, jeglichen Schmuck und Zierrat ab, kleidete sich auch sonst betont schlicht, ja ärmlich. Sie trug, wenn ihr Mann abwesend war, Witwenkleidung oder ein Bußhemd und sie war überaus freigebig gegenüber Bedürftigen, aufopferungsvoll und ohne Furcht vor Ansteckung bei der Fürsorge für Kranke und großzügig bei der Verteilung von Nahrungsvorräten aus landgräflichem Besitz, so etwa im Hungerjahr 1226. Dabei konnte sie stets der Zustimmung Ludwigs und seiner Unterstützung sicher sein – nicht zuletzt dann, wenn er zur Wahrnehmung seiner vielfältigen Aufgaben und Interessen, sei es als Landgraf und Reichsfürst, sei es als Oberhaupt einer weitverzweigten Familie, nicht nur im weiten Raum zwischen Dresden und Marburg, sondern darüber hinaus, häufig abwesend war. So erhielt er beispielsweise 1222 die Nachricht von der Geburt seines Sohnes Hermann während einer Gerichtssitzung in der ecclesia maior von Marburg.

Abschied von Ludwig

Das Jahr 1226 leitete die Veränderung ein, die Elisabeths Leben loslösen sollte von der bisher vorgezeichneten Bestimmung als Ehefrau, Mutter und Landgräfin. 1223/24 hatte Papst Honorius III. erneut zu einem Kreuzzug aufgerufen und in seinem Auftrag waren überall im Reich Kreuzzugsprediger unterwegs. Einer von ihnen war Magister Konrad von Marburg, der 1226 auch an den thüringischen Hof kam, wo er durch sein asketisches Wesen und überzeugende Armut nicht nur Elisabeth, sondern auch den Landgrafen beeindruckte, der zu dieser Zeit auch aufgrund seiner engen Verbindung zu Friedrich II. schon den Entschluss gefasst hatte, am bevorstehenden Kreuzzug teilzunehmen.

Elisabeth wählte im Einvernehmen mit Ludwig den Kreuzzugsprediger Konrad nicht nur zu ihrem Beichtvater, sondern legte vor ihm auch das feierliche Gelübde ewiger Keuschheit ab für den Fall, dass sie ihren Mann überleben sollte – ein überzeugender Beweis für ihre große Liebe zu Ludwig, aber zugleich auch eine erstaunliche Festlegung im Alter von kaum 19 Jahren mit der in diesem Augenblick keinesfalls abwegigen Aussicht, dass ihr Mann auf dem Kreuzzug den Tod finden könnte.

Während seiner Abwesenheit 1226 hatte Ludwig seiner Frau Elisabeth die Regentschaft übertragen, eindrucksvoll belegt durch die Prägung von Brakteaten (gestanzte dünne Silbermünzen) 1226/27, die Ludwig als Kreuzfahrer und neben ihm Elisabeth mit den Regierungssymbolen Zepter und Reichsapfel zeigen. Für die erwartungsgemäß wesentlich längere Abwesenheit während der Kreuzfahrt setzte er jedoch seinen Bruder Heinrich Raspe als Regenten ein.

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Abb. 4: Elisabeth nimmt Abschied von Ludwig 1527 (Detail vom Elisabethaltar in der Marburger Elisabethkirche).

Ludwig brach im Juni 1227 mit seinem Gefolge aus Eisenach auf. Elisabeth, die mit ihrem dritten Kind schwanger war, soll ihn noch zwei oder drei Tagereisen weit begleitet haben, um den Abschied hinauszuzögern. Im August trafen die Thüringer mit Kaiser Friedrich in Süditalien zusammen, von wo das Kreuzfahrerheer per Schiff von Brindisi aus ins Heilige Land gelangen wollte. Während des Wartens auf die Überfahrt brach eine Seuche aus, der Tausende Kreuzfahrer zum Opfer fielen. Am 13. September erlag ihr in Otranto auch Landgraf Ludwig.

Elisabeth verlässt die Wartburg

Als Elisabeth – nur wenige Wochen nach der Geburt ihrer Tochter Gertrud – die Todesnachricht erhielt, brach für sie eine Welt zusammen. Nun war ihr Schwager Heinrich Raspe Landgraf, der eigentlich der verantwortungsvolle Vormund für ihren fünfjährigen Sohn Hermann bis zu dessen Volljährigkeit sein sollte, aber sogleich keinen Zweifel daran ließ, dass seine Regentschaft von Dauer sein werde. Dazu gehörte auch, dass er seiner Schwägerin die ihr eigentlich zustehende Verfügung über ihr Witwengut nicht gestattete und ihr damit die Möglichkeit nahm, ihre bisherigen, bei Hofe Ärgernis erregenden Gewohnheiten, wie Freigebigkeit bei der Almosenverteilung oder Vorbehalte bei der Speisenauswahl, fortzusetzen. Als sich der Konflikt zuspitzte, verließ Elisabeth in einer Winternacht zusammen mit ihren Hofdamen Guda und Isentrud, aber ohne ihre Kinder die Wartburg und fand zunächst Zuflucht in einer überaus ärmlichen Unterkunft in Eisenach. Dabei war sie keineswegs verzweifelt, sondern geradezu erleichtert, sodass sie um Mitternacht die Brüder in der Minoritenkirche bat, ein Tedeum anzustimmen.

Die folgenden Monate, in denen sie sich um die Unterbringung ihres fünfjährigen Sohnes Hermann und ihrer dreijährigen Tochter Sophia bei ihren fürstlichen Verwandten mütterlicherseits bemühte, verbrachte sie, ausgestoßen von der ludowingischen Familie und ihren bisherigen Standesgenossen, in äußerster Armut. Am Karfreitag des Jahres 1228 gelobte sie im Beisein ihres nach Eisenach geeilten Beichtvaters und vom Papst bestellten Defensors Konrad von Marburg in der Kapelle der Franziskaner in Eisenach feierlich den völligen Verzicht auf ihre »Kinder und auf den eignen Willen, auf allen Glanz der Welt und auf alles, was zu verlassen der Heiland im Evangelium rät«. Konrad hinderte sie allerdings energisch daran, auch auf ihre Besitzansprüche zu verzichten, mit der Begründung, dass sie sonst keine Möglichkeit mehr habe, die Schulden ihres Mannes zu bezahlen und Bedürftige und Kranke zu unterstützen.

Ihre erbärmliche Lage besserte sich erst, als Elisabeth zusammen mit ihrer Tochter Gertrud sowie Guda und Isentrud von Bischof Ekbert, ihrem Onkel, nach Bamberg geholt wurde. Seinem Plan, sie wieder zu verheiraten, widersetzte sich Elisabeth jedoch entschieden – sie wolle sich eher die Nase abschneiden, drohte sie.

Ekbert und Konrad von Marburg verhandelten mit der landgräflichen Familie über die Herausgabe des Witwengutes – darunter auch die reiche Aussteuer, die Elisabeth aus Ungarn mitgebracht hatte. Im Mai 1228, anlässlich der Beisetzung Ludwigs in Reinhardsbrunn, im Hauskloster der Ludowinger, an der auch Elisabeth teilnahm, kam es schließlich zu einer Einigung. Landgraf Heinrich Raspe und sein Bruder Konrad erklärten sich zur Zahlung der stattlichen Summe von insgesamt 2000 Silbermark bereit, nicht aber zur Herausgabe des Witwengutes aus dem thüringischen Kernbesitz, um eine eventuelle spätere Weitergabe an Dritte zu verhindern. Stattdessen erhielt Elisabeth Grundbesitz im fernen Marburg (auch das nicht als frei verfügbares Eigengut, sondern nur zur lebenslänglichen Nutzung) – sicherlich mit dem Hintergedanken, sie möglichst weit von der Wartburg zu entfernen, wo sie lange genug ein Stein des Anstoßes gewesen war. Vielleicht fiel die Wahl auch auf Marburg, weil Magister Konrad, der wohl aus einer Marburger Ministerialenfamilie stammte, dies vorgeschlagen hatte.

Elisabeth in Marburg

Eigentlich wäre es angemessen gewesen, der Landgrafenwitwe im Austausch für das ihr rechtmäßig zustehende Witwengut in Thüringen als Äquivalent wenigstens die gerade erst modernisierte und erweiterte Marburg zu überlassen, aber Landgraf Heinrich Raspe dachte nicht daran, die Verfügungsgewalt über diesen wichtigen Stützpunkt im Westen aufzugeben. Und Elisabeth hatte ohnehin für alle Zukunft auf ein standesgemäßes Leben verzichtet. Sie kam nach Marburg mit dem auch von Magister Konrad gutgeheißenen Vorsatz, ein Hospital einzurichten und sich künftig ausschließlich der Betreuung von Kranken und Bedürftigen zu widmen.

Die Hospitalgründung

An vielen Orten kam es im 13. Jh. zu Hospitalgründungen – in der Regel aufgrund frommer Stiftungen. Das Erstaunliche an dem Marburger Hospital für die Zeitgenossen aber war, dass hier ein Mitglied des Hochadels sich nicht mit der Stiftung einer wohltätigen Einrichtung zur Absicherung des eigenen Seelenheils begnügte, sondern sich zugleich auch selbst uneingeschränkt in den Dienst der benachteiligten und kranken Mitmenschen stellte.

Es ist auch bezeichnend für Elisabeth, dass sie bei ihrer Ankunft in Marburg im Sommer 1228 keineswegs auf der Burg oder in der Stadt eine vorläufige Bleibe suchte, bis das neue Hospital unten im Tal auf einem Gelände zwischen einem Nebenarm der Lahn und der Einmündung der Ketzerbach fertiggestellt war. Sie begnügte sich von Anfang an mit einer einfachen, wohl eher ärmlichen Unterkunft in der Nähe der Baustelle, auf der in kurzer Zeit das Hospital als einfacher Fachwerkbau mit niedrigem Steinfundament und dann noch weitere Wohn- und Wirtschaftsgebäude emporwuchsen. Spuren davon wurden 1970/71 bei einer Ausgrabung freigelegt.

Es ist anzunehmen, dass das Hospital in Marburg, wie Beispiele in anderen Städten nahelegen, aus einem einzigen rechteckigen Raum bestand, in dem beiderseits des Mittelganges die Krankenlager dicht an dicht standen. Der Anbau einer Kapelle ermöglichte eine direkte Teilnahme an der Messe. Für diese Kapelle wählte Elisabeth, die schon in Eisenach franziskanisches Gedankengut kennen und schätzen gelernt hatte, als Patron den gerade heiliggesprochenen Franziskus von Assisi. Dabei konnte sie der Zustimmung des Papstes sicher sein, denn dieser hatte ihr in einem persönlichen Brief Trost und Mut für ihr neues Leben zugesprochen. Dass sie Ende 1228 nach Fertigstellung ihres Hospitals zusammen mit ihren Gefährtinnen aus der Hand Konrads von Marburg das graue Gewand, wie es die Franziskaner trugen, empfangen hatte, bedeutete jedoch nicht die gleichzeitige Übertragung ihres Hospitals an den Franziskanerorden. Abgesehen davon, dass die Franziskaner als Bettelorden die Krankenpflege nicht als ihre Aufgabe ansahen, entsprach die Unterordnung unter eine Klosterregel auch nicht der Intention Elisabeths, die ihre selbst auferlegten Pflichten eigenständig als »Schwester in der Welt« wahrnehmen wollte.

Gleich zu Beginn ihrer Zeit in Marburg verteilte Elisabeth ein Viertel ihres Barvermögens, also 500 Silbermark. Das waren 72 000 Pfennige! (Zum Vergleich: ein Huhn kostete etwa 3 Pfennige.) Bei dieser großangelegten Aktion müssen aus der weiten Umgebung weit über 1000 Bedürftige zusammengeströmt sein (möglicherweise mehr als die Stadt damals Einwohner hatte). Da Konrad nur die Schenkung von Pfennigbeträgen gestattet hatte, muss die ganze Veranstaltung sehr aufwändig gewesen sein. Im Übrigen hinderte er seine Schutzbefohlene mit aller Strenge daran, ihren Besitz weiterhin »zu verschleudern«, da der Unterhalt des Hospitals sonst gefährdet gewesen wäre, denn die Erträge aus den Elisabeth übertragenen Äckern und Wiesen bei Marburg waren gering. Aber Elisabeth war willensstark und listig genug, um immer wieder reichlich zu spenden. Dafür verkaufte sie ihren Schmuck und setzte ihren geringen Verdienst aus dem Spinnen von Wolle ein. Die Ertragslage wurde erst 1231 auf eine sichere Grundlage gestellt, als Landgraf Heinrich Raspe – als Geste der Aussöhnung zwischen Schwager und Schwägerin? – dem Hospital das Patronat über die beiden Kirchen der Stadt und damit auch deren Einkünfte übertrug.

Ihre gerade anderthalbjährige Tochter Gertrud übergab Elisabeth dem Kloster Altenberg bei Wetzlar, wo sie aufgezogen und später eine hoch geachtete Äbtissin wurde. Die beiden anderen Kinder wuchsen weitab standesgemäß auf, Hermann wohl am landgräflichen Hof auf der Wartburg. Dass Sophia den Herzog von Brabant heiratete und nach dem unerwarteten Aussterben der Ludowinger eine wichtige politische Rolle spielen sollte, hat Elisabeth nicht mehr erlebt.

Für die Stadt war das Hospital vor ihren Toren von großem Nutzen, zumal Elisabeth auch den Gang in die Stadt hinauf nicht scheute, um Kranke zu Hause zu pflegen, Wöchnerinnen beizustehen und Trauernden Trost zuzusprechen. Elisabeth unternahm auch weitere Reisen. So besuchte sie ihre Tochter im Kloster Altenberg, hielt sich längere Zeit im Kanonissenstift Wetter auf und folgte im Frühjahr 1231 sogar der Aufforderung Magister Konrads, nach Eisenach zu reisen.

Die Berichte ihrer Dienerinen enthalten viele eindrucksvolle Beispiele für den rastlosen Einsatz Elisabeths im Dienst am Nächsten. Erfüllt von ihrem tiefen Glauben und religiösem Eifer nahm sie die niedrigsten Arbeiten im Hospitalbereich und die unangenehmsten Verrichtungen bei der Krankenpflege bereitwillig, ja fröhlich auf sich – sogar die harten Bußübungen bis hin zur blutigen Geißelung, die Konrad von Marburg ihr auferlegte. Dennoch war nicht – wie oft erzählt wird – die allgemeine körperliche Erschöpfung die Hauptursache für den frühen Tod der Vierundzwanzigjährigen, sondern wohl eher eine schwere Infektion, an der auch Magister Konrad erkrankt war. Elisabeth starb am Morgen des 17. November 1231 und wurde drei Tage später vor dem Altar in der Kapelle ihres Hospitals beigesetzt.

 

ZEITZEUGEN

 

Aus dem Bericht der Gefährtinnen im Heiligsprechungsverfahren

Elisabeth habe zum Unterhalt des Hospitals auch durch die Übernahme von Lohnarbeit, wie z. B. durch das Spinnen von Wolle, beigetragen: »Sie wählte es, durch das Werk ihrer Hände wie eine Tagelöhnerin den Lebensunterhalt zu verdienen.« Außerdem habe sie neben der Pflege der Kranken auch die niedrigsten Arbeiten verrichtet: »Wenn die sel. Elisabeth Kochtöpfe säuberte und wegen anderer Beschäftigung der Mägde einfache und armselige Speisen aus Kräutern oder Hülsenfrüchten ohne Gewürz und unschmackhaft, so gut sie es konnte, selbst zubereitete oder wegen zu dürftiger Kleidung unter Kälte litt, kam sie oftmals dem schwachen Feuer zu nahe. Sie hatte nämlich ihre Kleider ohne Rücksicht auf sich selbst an die Armen verschenkt. Da geschah es dann manchmal, dass sie bei der Arbeit ihrer Hände – denn müßig wollte sie niemals sein – in Gebet oder Beschauung versunken mit Augen, Händen und Herz mehr dem Himmel zugewandt war (in dieser Haltung pflegte sie stets zu beten, wenn sie allein war) und eine Flamme oder ein Funke ihre armseligen Kleider ergriff, große Löcher hineinbrannte und sie verdarb. Aber sie bemerkte den Brand nicht, bis eine der Mägde zurückkehrte, den Geruch wahrnahm und das Feuer ausschlug. Elisabeth, durch die lauten Vorwürfe der Mägde wieder zu sich gekommen, suchte hier und dort einfache abgewetzte Lappen jeglicher Farbe zusammen, nähte sie eigenhändig an und beseitigte den Brandschaden so gut wie möglich. In dieser Weise besserte sie auch alte, zerrissene Stellen ihres verschlissenen Gewandes aus, indem sie es, obwohl der Nadel unkundig, mit billigen Fetzen flickte.«

Die Heiligsprechung

Schon am folgenden Tag soll sich an ihrem Grab ein Wunder ereignet haben. Die Kunde davon und von weiteren Wundern (allein 175 wurden vor der Heiligsprechung protokolliert!) bestärkte alle, die davon hörten, in der Überzeugung, dass hier eine Heilige gestorben war, zu der man nun wallfahrten könne, um Hilfe zu erbitten. Die Pilgerbewegung nahm in kurzer Zeit solche Ausmaße an, dass schon im Frühjahr 1232 das Fundament zu einer größeren Kirche gelegt wurde, mit den für eine Hospitalkirche stattlichen Maßen von 10 34 m. Gleichzeitig bemühte sich Konrad von Marburg um die Kanonisation Elisabeths. Er war inzwischen vom Papst auch mit der Ketzerverfolgung beauftragt worden, die er ohne Ansehen der Person so unerbittlich betrieb, dass ihn Ritter, die sich von ihm bedroht fühlten, im Juli 1233 nahe bei Marburg ermordeten.

Dennoch wurde das Heiligsprechungsverfahren auf Betreiben der landgräflichen Familie bald fortgesetzt und dank übereinstimmender Interessen der Beteiligten, aber auch aufgrund überzeugender Beweisführung in erstaunlich kurzer Zeit abgeschlossen. Neu im Spiel war dabei der Deutsche Orden, dem das Marburger Hospital von Landgraf Heinrich Raspe übertragen worden war, obwohl es nach dem Willen Elisabeths zunächst die Johanniter übernommen hatten. Die Verbindung der Ludowinger zum Deutschen Orden hatte Tradition, denn Landgraf Hermann I. war schon 1197 in Akkon bei der Umwandlung der Spitalsbruderschaft in einen Ritterorden dabeigewesen. Und 1234 trat Landgraf Konrad, der Bruder Heinrich Raspes, selbst in den Orden ein, der der landgräflichen Familie zahlreiche Schenkungen verdankte. Papst Gregor IX. als Dritter im Bunde hoffte, dass die neue Heilige mit ihrem Lebensweg der weitverbreiteten kirchenkritischen Armutsbewegung ein Vorbild mit disziplinierender Wirkung sein werde. Und Kaiser Friedrich II. befürwortete die Heiligsprechung ohnehin, da sowohl die Ludowinger als auch der Deutsche Orden zu seinen treuesten Parteigängern zählten. So kam es, dass bei der abschließenden Zusammenkunft von Kaiser, Papst und Landgraf in Perugia am 27. Mai 1235 das Verfahren abgeschlossen und Elisabeth heiliggesprochen wurde.

Der Kaiser am Grab Elisabeths

Niemals vorher oder nachher hat ein Ereignis so viel weltliche und geistliche Prominenz sowie einfaches Volk in Marburg zusammengeführt wie die Translatio der heiligen Elisabeth am 1. Mai 1236: Kaiser Friedrich II. und sein achtjähriger Sohn Konrad IV. waren gekommen, ebenso der Deutschordensmeister Hermann von Salza, die Erzbischöfe von Mainz, Trier, Köln und Bremen, der Bischof von Hildesheim und eine große Zahl anderer, nicht namentlich genannter Bischöfe. Natürlich war auch die landgräfliche Familie dabei: Landgraf Heinrich Raspe und sein Bruder, Landgraf und Ordensritter Konrad, Elisabeths vierzehnjähriger Sohn Hermann und ihre Schwiegermutter, Landgräfin Sophie, ferner thüringische und andere Adelige sowie Äbte, Prälaten und Kleriker in großer Zahl und schließlich, wie es in einem Bericht heißt, »eine überquellende und herbeigeströmte Menge, die so stark war, daß man sie nicht leicht schätzen konnte«. All das war ein Hinweis darauf, welches Ausmaß die Elisabeth-Verehrung schon kurz nach ihrem Tod angenommen hatte.

Der Stauferkönig Friedrich II., seit 1220 römisch-deutscher Kaiser, hielt sich in seiner gesamten Regierungszeit (1212–1250) nur dreimal nördlich der Alpen auf. Der Besuch in Marburg 1236 gehört zu seinem dritten und letzten Aufenthalt in Deutschland. Im Frühjahr 1236 kam er mit großem Gefolge aus Speyer nur für einen Tag nach Marburg. Das zeigt, welche Bedeutung er der Translatio der Heiligen beimaß. Am nächsten Tag war er schon wieder auf dem Rückweg, denn seine Anwesenheit in Wetzlar am 2. Mai ist urkundlich belegt.

Ein zeitgenössischer Chronist berichtet, dass der Prior des Deutschen Hauses zu Marburg drei Tage vor der Ankunft des Kaisers nachts zusammen mit sieben Ordensbrüdern das Grab Elisabeths geöffnet habe, um die Translatio vorzubereiten. Er habe den Leichnam der Heiligen, der unverwest und wohlriechend gewesen sei, in Purpur gehüllt, in einen Bleisarg gebettet und das Grab wieder verschlossen. Bei dieser nächtlichen Aktion zur Vorbereitung der feierlichen Zeremonie trennte man den Kopf Elisabeths vom Rumpf und präparierte den Schädel sorgfältig für seine künftige Bestimmung als Reliquie.

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