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Zum Buch

 

Nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs bestand in München die Gefahr, dass historische Bauten dem Straßenbau weichen mussten. Das Auto war sichtbares Symbol des Wirtschaftswunders; somit müsse die Stadt, so das Denkschema, »autogerecht« sein oder werden. Sogar das Alte Rathaus galt manchen als Verkehrshindernis. Ein Bewusstsein für Denkmalschutz entstand erst in den 1970er-Jahren. Maßnahmen, dem Verkehr Raum zu schaffen, reichen freilich lange zurück: Schon die Erweiterung der Zufahrt am »Karls Thor« 1791/92 geschah, weil Fuhrwerke die Enge nicht mehr passieren konnten. Ebenso wurden Ende des 19. Jahrhunderts im expandierenden München Gassen zu Straßen, bevor in der NS-Zeit Verbreiterungen und Durchbrüche entstanden, die bis heute das Stadtbild mitprägen.

 

 

 

Zum Autor

 

Axel Winterstein studierte Germanistik und Geschichte in Köln und München; zahlreiche Publikationen unter anderem zu Bayern und München.

AXEL WINTERSTEIN

München und das Auto
Verkehrsplanung im Zeichen der Moderne

VERLAG FRIEDRICH PUSTET

REGENSBURG

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

 

 

eISBN 978-3-7917-6118-3 (epub)

© 2017 by Verlag Friedrich Pustet, Regensburg

Umschlaggestaltung: Martin Veicht, Regensburg

eBook-Produktion: Friedrich Pustet, Regensburg

 

Diese Publikation ist auch als Printprodukt erhältlich:

ISBN 978-3-7917-2926-8

 

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Informationen und Bestellungen unter verlag@pustet.de

»MÜNCHEN WILL GAR NICHT ERÖRTERT, MÜNCHEN WILL GELEBT UND GELIEBT SEIN.« Wer möchte Ernst Heimeran (1902–1955), dem dieses so urmünchnerisch klingende Leitmotiv zugeschrieben wird, ernsthaft widersprechen? Doch vielleicht wird man ihn ergänzen dürfen, ihn, den großen Verleger und Autor, der in Schwabing das Gymnasium besuchte und wie viele als „Zuagroaster“ in München Wurzeln schlug: Die Liebe zur ersten oder zweiten Heimat schließt die Kenntnis über sie nicht aus – und umgekehrt.

Die Geschichte einer Stadt ist ebenso unerschöpflich wie die Geschichten, die in ihr spielen. Ihre Gesamtheit macht sie unverwechselbar. Ob dramatische Ereignisse und soziale Konflikte, hohe Kunst oder niederer Alltag, Steingewordenes oder Grüngebliebenes: Stadtgeschichte ist totale Geschichte im regionalen Rahmen – zu der auch das Umland gehört, von dem die Stadt lebt und das von ihr geprägt wird.

München ist vergleichsweise jung, doch die über 850 Jahre Vergangenheit haben nicht nur vor Ort, sondern auch in den Bibliotheken Spuren hinterlassen: Regalmeter über Regalmeter füllen die Erkenntnisse der Spezialisten. Diese dem interessierten Laien im Großraum München fachkundig und gut lesbar zu erschließen, ist das Anliegen der Kleinen Münchner Geschichten – wobei klein weniger kurz als kurzweilig meint.

So reichen dann auch 140 Seiten, zwei Nachmittage im Park oder Café, ein paar S- oder U-Bahnfahrten für jedes Thema. Nach und nach wird die Reihe die bekannteren Geschichten neu beleuchten und die unbekannteren dem Vergessen entreißen. Sie wird die schönen Seiten der schönsten Millionenstadt Deutschlands ebenso herausstellen wie manch hässliche nicht verschweigen. Auch Großstadt kann Heimat sein – gerade wenn man ihre Geschichte(n) kennt.

 

 

DR. THOMAS GÖTZ, Herausgeber der Buchreihe, lehrt Neuere/Neueste Geschichte an der Universität Regensburg und forscht zu Stadt und Bürgertum in der Neuzeit.

Der Traum vom Verkehrsfluss: Man fährt Fahrrad

„Das Element des Verkehrs ist Bewegung“, so Theodor Heuss, damals Bundespräsident, im Geleitwort zur Deutschen Verkehrsausstellung 1953 in München. Im Duden liest sich der Begriff sachlich-fest: Verkehr sei „Beförderung, Bewegung von Fahrzeugen, Personen, Gütern, Nachrichten auf dafür vorgesehenen Wegen“. Verkehr, so bei Merki (Verkehrsgeschichte und Mobilität), gehört zu den Schlüsselelementen, welche die industrielle Revolution ermöglichten und beschleunigten. Das am meisten bewegte Fahrzeug ist das Auto, universell und nicht mehr wegzudenken, Alltagsgegenstand ebenso wie Protzmobil, Statussymbol, „Objekt individueller Lustbefriedigung“, wie es bisweilen heißt, gehätscheltes Liebhaberstück, Lastenträger, technisch ausgereizt als Rennmaschine.

Das Auto hat das Leben der Menschen beeinflusst wie wenige andere Erfindungen. Es umstreift den Erdkreis in Schwärmen. Eine Milliarde Kraftfahrzeuge soll es global geben. 1886 kam es in die Welt, 1888 sahen es die Münchner zum ersten Mal. Es hieß damals noch „Patent-Motorwagen“, hochbeinig, eher fragil wirkend und mit nur drei Rädern. Die Münchner wussten erst nicht so recht etwas damit anzufangen. „Seltsames Fahrzeug“, schrieben die Zeitungen. Und in der Tat „seltsam“: Das Auto, das omnipräsente, hatte es anfangs nicht nur hier, sondern in allen Landstrichen deutscher Art nicht leicht – vielleicht das Schwäbische ausgenommen, wo es das Fahren lernte. Man war hier lange automobilskeptisch, ganz im Gegensatz etwa zu dem früh autobegeisterten Frankreich.

Erste Nutzer fanden sich in größerer Zahl erst ein, als die „Kutsche ohne Pferde“ nicht mehr wie eine solche aussah, sondern wie ein Auto. Und endlich, 1902, lobte der Schriftsteller Otto Julius Bierbaum (1865–1910): „Ein gutes Auto ist ein Ding, dem man sich getrost anvertrauen kann.“ Heute sind in München rund 800 000 Kraftfahrzeuge gemeldet. Dass es mit dem „Ding“ so weit kam, dass es sich aus spröden Anfängen so weit entwickelte, daran hatte auch München einen Anteil. Ein Uhrmacher, Tüftler vor dem Herrn, trug sich beim Motorenbau für Automobile ins Geschichtsbuch ein.

Nun brauchen Autos Platz, zum Fahren ebenso wie zum Parken – weltschlichte Wahrheit, aber bedrängend in der Praxis. Denn Individualverkehr ist in München nur möglich, weil die meisten der 800 000 Kraftfahrzeuge meistens stehen und nicht fahren. So viele und so breite Straßen gibt es gar nicht. Freilich gab es in München und Deutschland eine Epoche, als man eben dies für erstrebenswert hielt, obwohl oder gerade weil derlei Vorstellungen in eine Zeit von Hochgefühl und Aufschwung fielen, in die Welt des Wirtschaftswunders. Das Auto galt als Repräsentant des „Wunders“, seine Zunahme als Beweismarke für Neugeburt und Tüchtigkeit nach den Zerstörungen des verlorenen Krieges. Zugleich aber, als immer mehr Autos die Straßen der Innenstadt füllten, fragten die Zeitungen schon 1951: „Wohin mit den Autos?“ (Münchner Stadtanzeiger, 29. September 1951) – bei damals gerade einmal 80 700 Kraftfahrzeugen bei 855 000 Einwohnern, zu denen sich allerdings viele Pendler addierten. Von einer „Verkehrsnot“ war die Rede, nirgends sei diese so groß wie in München.

Die Diskussionen über Abhilfe waren einschichtig. Der Zeitgeist, eine überaus ominöse Erscheinung, zeitigte Fatales: Die Stadt habe sich dem Auto unterzuordnen, man gab sich „modern“, wie überhaupt auch in früheren Epochen die jeweilige Verkehrsplanung stets von der Überzeugung getragen war, auf der Höhe der Zeit zu sein – bis dies im Wortsinn oft zum Irrweg wurde. In den 1950ern machte ein böses Wort die Runde: „autogerecht“. „Verkehrsfluss“ als Selbstzweck war ein weiteres Desiderat. 1959 fasste der Architekt und Stadtplaner Hans Bernhard Reichow (1899–1974) das gedankliche Gut in einer „Studie“ mit dem Titel: Die autogerechte Stadt. Ein Weg aus dem Verkehrschaos zusammen. Am Ende des Buches ließ der Autor den Leser auch schon an mehreren Würdigungen des Textes teilhaben, insgesamt fünf – alle positiv.

Die autogerechte Stadt wurde in München letztlich mehr oder weniger nur in Ansätzen realisiert, nicht zuletzt auch wegen vehementer Bürgerproteste. Demolierungen blieben nicht aus, etwa für den überaus wichtigen Altstadtring kaufte die Stadt trotz der Kriegszerstörungen nicht weniger als 107 Anwesen auf. Die tatsächlichen Pläne aber für eine autogerechte Stadt ähnelten – abstruses Gegenkonstrukt inmitten von zupackendem Wiederaufbau – einem Szenario erneuter Zerstörungen.

Dabei sind Überlegungen wie die von Reichow nicht per Zufall entstanden, nicht in intimer Runde oder als gedankliches Fabulieren, gar Spinnerei. Sie hatten ihre Vorgeschichte, wie es überhaupt zu den Eigentümlichkeiten von Verkehrsideen und -projekten gehört, dass sie lange vor irgendeiner Verwirklichung angedacht sind, oft regimeübergreifend, im Gedächtnis der Kundigen dann vagabundierend und irgendwann aus dem Fundus geholt. „Verkehrsgerecht“ hieß in München die Forderung schon in der Ära des gehorsamen Pferdes, sogar schon im Zusammenhang mit einer epochalen Entwicklung, der Entfestigung der mittelalterlichen Stadt. Enge „Thore“ wurden für den Verkehr durchbrochen, „Gassen“ zu „Straßen“ verbreitert. Das Auto sorgte schließlich für weitere Erweiterungen, insbesondere und in erheblichem Maße im NS-Staat. Karl Fiehler, Münchner Oberbürgermeister von 1933 bis 1945, sprach von „unnützen Vorgärten“ z. B. in der Schwanthalerstraße.

Über das freie Land, von Stadt zu Stadt, tat sich das Auto noch mehr hervor mit Forderungen nach besseren Straßen. Es sollten „eigene“ Wege sein, abseits des „Kots von Pferdefuhrwerken“. Gute Überlandwege hatte es hierzulande bis in die frühe Neuzeit nur in der Epoche der Römer gegeben, insgesamt rund 120 000 km durchzogen das gesamte Römische Reich. Nach dem Ende der römischen Herrschaft indes hörte die Fürsorge für Straßen auf, der Unterhalt oblag den „Anliegern“, also in der Regel den Bauern, und die drückten sich vor dem Frondienst, wo sie konnten. So musste etwa der Minister Goethe seine Inspektionstouren im verstreuten Herzogtum Sachsen-Weimar-Jena-Eisenach-Ilmenau meist nur per Pferd antreten, die Wege waren so schlecht, dass man nicht fahren konnte. Und bei Goethes erster größeren Reise von Frankfurt nach Leipzig hatte er der Wege wegen sogar Schaden an seiner Gesundheit genommen: „Durch Thüringen wurden die Wege noch schlimmer, und leider blieb unser Wagen in der Gegend von Auerstädt bei einbrechender Nacht stecken. Wir waren von allen Menschen entfernt und taten das mögliche, uns los zu arbeiten. Ich ermangelte nicht, mich mit Eifer anzustrengen und mochte mir dadurch die Bänder der Brust übermäßig ausgedehnt haben; denn ich empfand bald nachdem einen Schmerz, der verschwand und wiederkehrte“ (zit. nach S. Damm).

Die Wege, bestehend zumeist, falls nicht nur ein Fahrweg, aus Makadam, festgestampftem Kies und Sand, blieben schlecht bis weit ins 19. und teilweise auch im 20. Jh. „Autogerechte Straßen“ war somit das Desiderat, letztlich zu Autobahnen führend, die frühzeitig auch München tangierten, ihr Baubeginn von den damals Regierenden voluminös in Szene gesetzt. In den 1960er-Jahren wurden die Autobahnen dann eingebettet in das System der „autogerechten Stadt“. Das schuf viel Streit und Ärger. Hans-Jochen Vogel, 1960 bis 1972 Oberbürgermeister, denkt nur „mit einem gewissen Grauen“ an jene Zeit zurück (Die Amtskette, auch im Folgenden, wenn nicht anders angegeben).

Konsens, immerhin, auch bei den Verfechtern der Auto-Vorgaben, über ein Kürzel, das gleich einer Zauberformel einen Ausweg aus der „Verkehrsmisere“ versprach: ÖPNV (Öffentlicher Personennahverkehr): also U-Bahn, S-Bahn, Trambahn, Bus. Nur die Begründungen und Hoffnungen variierten. Auf den Straßen, so anfangs die Einlassung von manchen, würde dann umso mehr Platz für Autos entstehen, wenn Tram oder U-Bahn unter die Erde verschwänden. Tatsächlich aber bewahrte „ÖPNV“ die historische Münchner Innenstadt vor zerstörerischem Raubbau pro Auto. Kraftfahrzeuge und unterirdisch eilende Bahnen sind einen Bund eingegangen. Nur so ist verkehrliche Kommunikation in der Boomstadt überhaupt praktikabel. Der Münchner Verkehrsverbund (MVV) meldet einen Rekord nach dem anderen: 680 Mio. Passagiere im Jahr 2014 für S- und U-Bahn, Tram und Bus.

Trotzdem blieb und ist „Verkehrsfluss“ für Autos nach wie vor ein Traum. Die Vokabel „Stau“ gehört zum täglichen Sprachschatz der Medien. Straßen für die Maximalbelastung verbieten sich: Zu viel Grund und Boden würde verbaut. Und so ist in den letzten Jahren zusätzlich eine bemerkenswerte Entwicklung im Gang. Man radelt – wieder; denn schon zwischen den Weltkriegen und auch nach 1945 war das Fahrrad das wichtigste Individualverkehrsmittel. Doch jetzt fährt man auch im Business-Anzug und mit feinem Hemdkragen. Radler seien in München auf der „Überholspur“, so der Münchner Merkur (MM) am 19./20. Oktober 2013. Das behäbige „Radl“, einst sogar mit einer eigens gemischten „Radler-Maß“ geehrt, mutierte zum „Bike“. Design-Räder sind angesagt, das Fahrrad wandelte sich vom „Sportgerät zum Statussymbol“ (Süddeutsche Zeitung, SZ vom 29. März 2016), die Aktentasche sei darauf „windschnittig festgeschnürt“.

Erst recht nicht ist das Fahrrad „plebejisch“, wie dies 1914 der englische Schriftsteller H. G. Wells für die Zukunft voraussagte. Man vergibt sich nichts, wenn man mit dem Rad statt mit einem Sportwagen samt vier Auspuffrohren bei der Firma vorfährt, zumal wenn es eins der teuren Ausführung ist. Manche Menschen müssen sich nicht mehr übers Auto definieren, auch wenn es wohl zu dessen Wesen gehört, dass wiederum manche partout der Macht der PS bedürfen.

Dennoch hat München hier Nachholbedarf. In Kommunen wie Kopenhagen und Amsterdam steht das Fahrrad deutlich höher im Kurs, die deutschen Radfahrer-Vorzeigestädte sind Münster, Karlsruhe und Freiburg i. Br. Zweimal durften Fahrräder in Deutschland auf Autobahnen, den Mythen-beladenen oder -getragenen, fahren: während der Auflösungserscheinungen in den letzten Kriegstagen vom 13. April 1945 ab (auf der linken Spur direkt am Mittelstreifen) und das zweite Mal 1973 während der Ölpreiskrise.

Wenn man so will, schließt sich mit dieser vermehrten Hinwendung zum Fahrrad auf wunderliche Art und Weise ein Kreis. Denn viele Autofabriken, etwa Opel und Peugeot, stellten vor ihrer Hinwendung zum Automobil „vélocipèdes“ her (wörtlich: Schnellfüße): Fahrräder.

Die Anfänge: Als München verkehrsgerecht wurde

Ein neuer Weg am Neuhauser Tor

München öffnete sich dem Verkehr, und es geschah mit einem epochalen Ereignis: dem Beginn der Entfestigung. Die Haupt- und Residenzstadt war im Dreißigjährigen Krieg unter Kurfürst Maximilian I. (1573–1651, Kfst. seit 1623) zu einer aufwändigen Festungsanlage ausgebaut worden mit 17 gewaltigen Bastionen, fünf Ravelins (Befestigungswerke zum Schutz von Torauslässen und Grabenübergängen), Wällen, Stadtgräben, Bollwerken sowie innerer und äußerer Stadtmauer, dazwischen der Zwinger. Die ganze Anlage maß bis zu 8 m in der Höhe und 50–70 m in der Breite – Werte, die sich bis in die Münchner Verkehrsplanung der 1950er- und 1960er-Jahre auswirkten! Vor den Mauern gab es noch das Glacis als freies Schussfeld.

Die Mauern und Wälle hatten jedoch ihren militärischen Wert verloren, den sie im Verlauf des Dreißigjährigen Krieges nur einmal beweisen konnten, als am 19. September 1646 ein Ansturm von schwedischen Truppen unter General Wrangel abgewehrt werden konnte. 14 Jahre zuvor waren die Anlagen allerdings erst halb fertig gewesen, sodass der schwedische König Gustav Adolf am 17. Mai 1632 kampflos und feierlich durch das noch nicht befestigte Isartor in die Stadt eingezogen war. Inzwischen nun wurden Kriege in offener Feldschlacht ausgefochten, auch drohte die Ummauerung die Stadt wegen schlechter hygienischer Zustände zu ersticken, es herrschte drangvolle Enge. Zudem waren die Festungswerke halb verfallen, manche Stadtgräben ausgetrocknet oder stinkende Tümpel, viele Partien und v. a. die Bastionen fremdgenutzt, verschenkt an Staatsdiener, meistens als Gärten, das Glacis dicht besetzt mit verstreuten Bauten. Im Bereich der heutigen Rumfordstraße sowie auf dem „Schwabinger Bollwerk“ blühten auf den Wällen im 18. Jh. Obst- und Maulbeerbäume, nachdem es in München eine Zeit lang eine Seidenraupenzucht gab.

Als besonders hinderlich wurden die Stadttore mit ihren bewusst engen und verwinkelten Zu- und Durchlässen empfunden. Am Neuhauser und am Sendlinger Tor gab es überhaupt keinen direkten Ausgang, weil sie durch Bastionen versperrt waren; die „Neuhauser Bastion“ war sogar die größte von allen. Ein Zugang war nur in benachbarten Ravelins möglich; das für das Neuhauser Tor lag nördlich etwa an der Stelle des heutigen Lenbachplatzes. Nicht von einer Bastion bewehrt, sondern flankiert vom „Isartor-Bollwerk“ und der „Lueg-ins-Land-Bastion“ war das Isartor, die wichtige Einfahrt von Osten (Brigitte Huber: Mauern, Tore, Bastionen).

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Abb. 1:
Beginn der Entfestigung Münchens: Inschrift am nach Kurfürst Karl Theodor benannten Karlstor

Schon unter Kurfürst Max III. Joseph (1727–1777) hatten François de Cuvilliés sen. und jun. eine Neugestaltung der Stadttore gefordert. Die Wege zu und von ihnen hätten „unangenehme Krümmungen und unregelmäßige Winkel“, was „ein sehr beträchtlicher Fehler“ sei, der „dem Fremden schon beim ersten Ein Tritte in die Augen fällt und ihm eine widrige Meinung von den Bewohnern der Stadt bringt“. Schwere Fuhrwerke konnten die Zufahrt nicht mehr passieren und mussten umgeladen werden. Es war nun ein Fremder, der das Tor öffnete und außerdem fünf Jahre später ein Straßenprojekt veranlasste, das ebenfalls Auswirkungen bis heute hat: Benjamin Thompson (1753–1814), geboren als Sohn eines Farmers in den englischen Kolonien Nordamerikas, in Europa Karrierist in London, München und Paris, Reformer, Spion, Forscher (v. a. auf dem Gebiet der Wärmelehre), Erfinder, Neuerer und Organisationstalent, in München einflussreicher Berater und Zuarbeiter von Kurfürst Karl IV. Theodor (1724–99), ab 1792 Reichsgraf von Rumford, 1795 mit einem Gedenkstein im Englischen Garten, 1867 mit einem Bronzedenkmal an der Maximilianstraße geehrt.

1789 hatte er, ganz im Sinn der Aufklärung, den Kurfürsten überzeugt, ein Wittelsbacher-Jagdgebiet in der Hirschau „zur allgemeinen Ergötzung für dero Residenzstadt München als Erholungsfläche“ zur Verfügung zu stellen, worauf der Schwetzinger Hofgärtner Friedrich Ludwig von Sckell (1750–1823) die Brache zum Englischen Garten ausbaute, der dann lange dem Verkehr trotzte, bis in den 1930ern ein Lastweg zwischen Schwabing und Bogenhausen angelegt wurde, heute der Mittlere Ring. Jetzt, am 18. März 1791, erwirkte Thompson von Karl Theodor ein Reskript, „das Neuhauser Thor so herzustellen, daß die bisherigen Umwege und enge Durchgänge gänzlich vermieden werden“. Das Projekt diene sowohl der „Verbesserung der Verkehrswege“ als auch der „Stadtverschönerung“. Die Maßnahme war in jedem Sinn Weg-weisend; denn München war nun keine Festung mehr, auch wenn die Formulierung in dem Reskript noch nicht, sondern eher beiläufig erst im Zusammenhang mit einer Immobilien-Angelegenheit 1796 vorkam. Aber das Datum sollte „als zweiter Gründungstag in den Annalen der bayerischen Landeshauptstadt festgehalten werden“ (Lehmbruch: Ein neues München um 1800).

Eine eher unrühmliche Rolle spielte Thompson, als er in einer zeitgleich erfolgenden Auseinandersetzung zwischen dem Münchner Magistrat und dem Kurfürsten auf intrigante Art und Weise agierte. Der Streit endete mit dem demütigenden Kniefall des Magistrats in der Maxburg vor einem Bild Karl Theodors am 21. Mai 1791, begründet vom Kurfürsten „in einer für damals schon unzeitgemäßen und extrem absolutistischen Haltung und Übertreibung“ (M. Schattenhofer). Karl Theodor, als Spross der Wittelsbacher Nebenlinie Pfalz-Sulzbach 1777 aus Mannheim nach München gekommen, war ein Förderer von Kunst und Wissenschaften, machte sich aber durch seinen zwischen Aufklärung und Absolutismus schwankenden Regierungsstil sowie durch Verhandlungen über einen Gebietstausch zwischen Altbayern und den österreichischen Niederlanden, dem heutigen Belgien, unbeliebt.

Der Coup des Benjamin Thompson

Nach dem historischen Reskript des Kurfürsten vom 18. März 1791 verlor Thompson keine Zeit und erließ einen „Aufruf an das Publikum von München“, die Bastion vor dem Neuhauser Tor durch freiwillige Leistungen zu beseitigen. Der Aufruf, noch dazu durch freiwillige (!) Leistungen, traf München jedoch inmitten der vergifteten Atmosphäre zwischen Hof und Magistrat, und zudem entstand im Zusammenhang mit dem Erlass das Gerücht, es sollten sämtliche Befestigungsanlagen „rasiert“ und der samstägliche Getreidemarkt mit seinem regelmäßigen Verkehrschaos aus der Stadtmitte vor das Neuhauser Tor verlegt werden – mit geschäftlichen Einbußen für Gasthöfe, Mietställe, Schmiede und Läden rund um die Schranne. Es herrsche dort „ein vermischtes Gewühl von Menschen“, so das Münchner Intelligenzblatt. Hinzu kam bei den meisten Münchnern ein generelles Misstrauen gegen eine Entfestigung, man glaubte, in den Mauern noch ein Gefühl von Sicherheit zu besitzen, und fürchtete v. a. ein ungehindertes Eindringen von konkurrierenden, zunftfreien Handwerkern, den oft gescholtenen „Pfuschern“.

Von Napoleon und vom Oktoberfest

Herausgehalten aus den Auseinandersetzungen mit Thompson und dem Kurfürsten hatte sich das Ratsmitglied Andreas Dall’Armi (1765–1842), ein Kaufmannssohn aus Trient, der 1795 in München eine Getreide- und 1800 eine Salzhandelsgesellschaft gegründet hatte. An der Abbitte nahm er teil; zwar war ihm erlaubt worden zu stehen, er kniete sich jedoch freiwillig nieder und meinte, dass man „gegen den gnädigsten Landesherrn nie zu viel tun könne“. Er wurde vom Kurfürsten „belobigt“ und tätigte viele Jahre später, 1810, den Vorschlag, anlässlich der Hochzeit des Kronprinzen Ludwig ein Pferderennen auf einem Areal vor den Toren Münchens abzuhalten. Er gilt damit als Mitgründer des Oktoberfestes und erhielt für dieses Verdienst 1824 die erste Goldene Bürgermedaille der Stadt München. Ein Teil des Geländes der heutigen Theresienwiese war seit 1803 Oberligentum („ligent Gut“ = Immobilie) des Kurfürsten und wiederum eine Partie davon der Adelsfamilie Dall’Armi als Lehen vermacht.

Zu den Profiteuren des neuen breiten Tores gehörte u. a. Napoleon, der am 24. Oktober 1805 um 7.30 Uhr abends sechsspännig (!) in die Stadt einziehen konnte, unter Glockengeläut, bejubelt von den Münchnern, begrüßt vom Magistrat, wobei der Jubel der Münchner v. a. der Hoffnung galt, nun würden die zahlreichen französischen Truppen endlich abziehen, unter deren Einquartierungen das Land seit Wochen stöhnte. Die Soldaten würden mit „groben Ungezogenheiten die Hausbewohner erniedrigen und auf alle Weise quälen“ (H. Stahleder). Bayern war wieder einmal Truppen-Aufmarschgebiet, diesmal für die Schlacht bei Austerlitz in Mähren. Am 2. Dezember 1805 besiegte Napoleon dort im Verein mit den Bayern die verbündeten Österreicher und Russen.

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Abb. 2:
Benjamin Thompson, Graf von Rumford. – Kupferstich, 18. Jh.

Der Kniefall am 21. Mai beendete dann alle Diskussionen, und 1791/92 wurde die Bastion mit der alten Zufahrt abgetragen und nach Plänen Thompsons ein neues Tor mit seitlichen Rondellen und Seitenflügeln, darin Wohnungen, errichtet und 1802 fertiggestellt. Schon ab 1791 galt der Name „Carls-Thor“. Die heutige Architektur des Rondells stammt seit 1899–1902 von Gabriel von Seidl (1848–1913). Als nächster (Empfangs-)Platz vor den Stadtmauern entstand 1809 der Sendlinger-Tor-Platz nach dem Muster des Karlsplatzes. Das Sendlinger Tor war zuvor ebenfalls von einer Bastion geschützt worden. (Die Karlstraße und die Karl-Theodor-Straße haben andere Wittelsbacher als Namensgeber.)

Die Rumford-Chaussee: Ein Altstadtring anno 1796

Zu den Talenten des Benjamin Thompson – vulgo seit 1792 Graf von Rumford – gehörte auch das eines Straßenbauers. Die Trasse, die er 1796 anlegen ließ, war praktisch eine Früh- oder Vorform des Altstadtringes, und im Gedächtnis der Nachkommen ist sie in der Tat präsent geblieben: Eine heutige Straße ist auf einer Partie der damaligen Trasse nach dem Schöpfer benannt. Geschuldet war die „Esplanade“, so die damalige schöngefärbte Benennung, den Napoleonischen Kriegen. 1796 erreichten sie Bayern, das durch seine geografische Mitte zwischen Frankreich und Österreich immer wieder Aufmarschgebiet und/oder Kriegsschauplatz wurde, auch wenn sich das Kurfürstentum, wie in diesem Fall, für neutral erklärt hatte. Am 24. Juni 1796 überschritt eine französische Revolutionsarmee von 78 000 Mann unter dem General Jean-Victor Moreau den Rhein, im Juli stand das Heer vor Augsburg, München wurde Frontstadt. Von Osten nahten die Kaiserlichen. München litt unter endlosen Truppendurchmärschen sowohl von Franzosen als auch von Kaiserlichen, das nunmehr breite Neuhauser Tor lud fast dazu ein.

Der Kurfürst floh nach Sachsen, Rumford erhielt das militärische Kommando, und am 8. September 1796 gab es dann doch noch Krieg: ab 4 Uhr eine für München verheerende Kanonade, die Franzosen am Roten Turm zwischen Isartor und Isarbrücke, die Kaiserlichen am Gasteig. In Haidhausen brannten 26, im Lehel 20 Häuser sowie mehrere Holzlager ab. Mehrere Kugeln flogen bis zur Peterskirche, auch der 1576 gebaute Rote Turm geriet in Brand, sodass er später abgetragen werden musste. Eine Kugel sowie eine Inschrift am Haus Zweibrückenstraße 8 erinnern bis heute an das Ereignis.

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Abb. 3:
Die Rumford-Chaussee, 1796