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Zum Buch

 

Von einem steilen Aufstieg, gefolgt vom tiefen Fall, erzählt die Biografie des spätgotischen Bildschnitzers Veit Stoß (1445/1450–1533): Nach vagen Anfängen in Nürnberg begründete er seinen künstlerischen Ruhm mit einem Meisterwerk, dem Marienaltar in Krakau, das ihm Wohlstand einbrachte. Doch zurück in der fränkischen Reichsstadt beging er einen folgenschweren Fehler: Er wurde der Urkundenfälschung angeklagt. Die Gnade des Rates bewahrte ihn vor dem Feuertod – allein seine große Begabung hatte ihm das Leben gerettet. Nach Jahren der gesellschaftlichen Ächtung und Rehabilitierung gelang ihm eine zweite künstlerische Hochphase mit internationalem Ruhm.

Die Biografie erzählt von dem wechselvollen Leben und grandiosen Werk des Künstler-Unternehmers Veit Stoß und bietet spannende Einblicke in das reichsstädtische Nürnberg der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts.

 

 

 

Zur Autorin

 

Inés Pelzl, Dr. phil., geb. 1963, ist Kunsthistorikerin. Sie arbeitet als freiberufliche Mitarbeiterin des Kunst- und Kulturpädagogischen Zentrums am Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg.

Biografien machen Vergangenheit lebendig: Keine andere literarische Gattung verbindet so anschaulich den Menschen mit seiner Zeit, das Besondere mit dem Allgemeinen, das Bedingte mit dem Bedingenden. So ist Lesen Lernen und Vergnügen zugleich.

Dafür sind gut 100 Seiten genug – also ein Wochenende, eine längere Bahnfahrt, zwei Nachmittage im Café. Wobei klein nicht leichtgewichtig heißt: Die Autoren sind Fachleute, die wissenschaftlich Fundiertes auch für den verständlich machen, der zwar allgemein interessiert, aber nicht speziell vorgebildet ist.

Bayern ist von nahezu einzigartiger Vielfalt: Seinen großen Geschichtslandschaften Altbayern, Franken und Schwaben eignen unverwechselbares Profil und historische Tiefenschärfe. Sie prägten ihre Menschen – und wurden geprägt durch die Männer und Frauen, um die es hier geht: Herrscher und Gelehrte, Politiker und Künstler, Geistliche und Unternehmer – und andere mehr.

Das wollen die KLEINEN BAYERISCHEN BIOGRAFIEN: Bekannte Personen neu beleuchten, die unbekannten (wieder) entdecken – und alle zur Diskussion um eine zeitgemäße regionale Identität im Jahrhundert fortschreitender Globalisierung stellen. Eine Aufgabe mit Zukunft.

 

DR. THOMAS GÖTZ, Herausgeber der Buchreihe, geboren 1965, lehrt Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Regensburg. Veröffentlichungen zu Stadt und Bürgertum in der Neuzeit.

INÉS PELZL

 

 

 

Veit Stoß

 

 

Künstler mit verlorener Ehre

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag Friedrich Pustet
Regensburg

Impressum

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

 

eISBN 978-3-7917-6102-2 (epub)

© 2017 by Verlag Friedrich Pustet, Regensburg

eBook-Produktion: Friedrich Pustet, Regensburg

Umschlaggestaltung: Martin Veicht, Regensburg

 

Diese Publikation ist auch als Printprodukt erhältlich:

ISBN 978-3-7917-2855-1

 

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Einleitung

Annähernd ein halbes Jahrtausend ist seit dem Tod des Bildschnitzers Veit Stoß vergangen. Was steht dem Biografen heute zur Rekonstruktion seines spätmittelalterlichen Lebens zur Verfügung? Die Antwort scheint einfach: Sein vielseitiges künstlerisches Schaffen gibt die biografischen Meilensteine vor, und archivalische Quellen liefern ergänzende Informationen zu Werk und Person des Künstlers.

Die Realität gestaltete sich jedoch ungleich schwieriger: Die Erstellung einer Lebensbeschreibung des Veit Stoß erwies sich als ein kompliziertes Puzzlespiel. Bereits das Werk des Bildschnitzers barg viele Unsicherheitsfaktoren: Fehlende Künstlersignaturen, Entstehungsjahre und einschlägige Archivalien, umstrittene Zuschreibungen und variierende Datierungen erschwerten eine eindeutige und chronologische Werkreihe. Hinzu kam die Tatsache, dass Quellen aus diversen Archiven, oft von obrigkeitlicher Seite erstellt, spärlich und zufällig waren und darüber hinaus Interpretationsspielraum zuließen. Private Dokumente wie Briefe oder persönliche Aufzeichnungen des Künstlers fehlten gänzlich.

Die raren Zeugnisse menschlicher und künstlerischer Existenz wurden auf einer Zeitleiste von Stoß’ Kindheit bis hinein ins hohe Alter wie Perlen aneinandergereiht, immer mit dem Ziel eines schlüssigen und nachvollziehbaren Lebensverlaufs. Dabei durfte das Streben nach einer vollständigen Rekonstruktion des Künstlerlebens freilich nicht mit Abstrichen bei der wissenschaftlichen Zuverlässigkeit einhergehen.

Eine besondere Herausforderung stellten Veit Stoß’ frühe Jahre dar, da sein erstes gesichertes Lebenszeugnis aus dem Jahr 1477 stammt und damit für den knapp 30-Jährigen vorliegt. Alles, was ihn als Mensch und Künstler vor diesem Zeitpunkt ausmachte und formte, ist in biografisches Dunkel getaucht und musste indirekt und andeutungsweise im Kontext der Epoche erhellt werden. Gut dokumentiert ist dagegen das kritischste Ereignis seines Lebens, das ihn mit dem Gesetz der Reichsstadt Nürnberg in Konflikt brachte. Zahlreiche Ratsverlässe berichten über den Vorgang sowie die folgenden, über Jahre andauernden scharfen Auseinandersetzungen zwischen dem Bildschnitzer und der städtischen Obrigkeit. Aus ihnen tritt deutlich seine Persönlichkeit hervor, insbesondere sein leidenschaftliches Naturell und seine Beharrlichkeit, die ihm half, diese prekäre Lebensphase zu meistern.

Gerne würde man einer Biografie ein Porträt voranstellen, das dem Leser auch einen visuellen Zugang zur wortreich beschriebenen Person gewährt. Leider existiert kein beglaubigtes Bildnis von Veit Stoß. Zwar vermeldet eine Quelle vom 17. November 1530, dass dem Nürnberger Rat ein Bildnis von ihm vorgelegt wurde, jedoch ist dieses verloren. Immer wieder versuchte man, einzelne Figuren in Stoß’ Werk als Selbstbildnisse zu deuten. Dazu gehört auch einer der zwei Hirten aus dem Mittelschrein des Hochaltars der Karmeliterkirche, der sich heute im Bamberger Dom befindet. Völlig in sich versunken steht der mit einer Kappe bekleidete Mann hinter den das Christkind anbetenden Engeln. Adlernase, stark ausgeprägte Wangenknochen und ein modischer Kinn- und Schnurrbart verleihen dem fein gearbeiteten Gesicht einen markanten Ausdruck. Auch wenn der in den mittleren Lebensjahren stehende Hirte kaum mit dem damals über 70-jährigen Künstler zu identifizieren sein dürfte, so ist doch überliefert, dass es Stoß’ Wunsch war, gerade mit diesem Altar seiner Familie und sich selbst ein bleibendes Denkmal zu setzen. Das ist ihm gelungen: Noch 500 Jahre später hält dieses Meisterwerk der Bildschnitzerkunst das Interesse an seinem begnadeten Schöpfer wach.

1   Schwäbisch-oberrheinische Wurzeln

Deutsch-polnischer Abstammungsstreit

Veyt Stosz, Veytten Stoß, Veit Stossen, Vaitt Stöß – der Vor- und Familienname des Bildschnitzers begegnet in den Dokumenten, die sich ab den späten 70er-Jahren des 15. Jhs. in den Archiven zu seiner Person erhalten haben, in vielen Varianten. Dies ist in spätmittelalterlichen Urkunden nicht unüblich. Zwar kann man bereits in dieser Zeit von einer durchgängigen Verwendung von Familiennamen ausgehen, aber deren Rechtschreibung war nicht verbindlich vorgegeben und konnte durch Landessprache, Dialekt oder fehlerhafte Niederschrift Veränderungen erfahren. Angaben zu Beruf – in Stoß’ Fall z. B. »snitczer« oder »sculptor« –, seiner Qualifikation »magister« oder »meyster« sowie seiner Herkunft auch in kombinierter Form ergänzten oder ersetzten diese Namensnennungen. In einem überschaubaren städtischen Umfeld genügten wenige Anführungen, um eine Person obrigkeitlich zweifelsfrei zu identifizieren.

Gerade die verschiedenen Herkunftsangaben des Bildschnitzers, die aufgrund seiner Mobilität mit mehrmaligem Wechsel seines Aufenthaltsortes zwischen »von Kracka«, dem polnischen Krakau, »de Norinberga«, aus der Reichsstadt Nürnberg, und sogar vermeintlich »fernen Landen« schwanken, stellten deutsche und polnische Kunstwissenschaftler lange Zeit vor die Frage seiner eigentlichen Nationalität und entzündeten eine nicht nur wissenschaftlich geführte Debatte mit wechselseitiger Vereinnahmung.

1952 erhielt der strittige Diskurs mit der Entdeckung einer aufschlussreichen Quelle einen neuen Impuls: In den Akten des Krakauer Konsistoriums fand sich eine Quittung aus dem Jahr 1502, die im Kontext einer Schuldforderung Stoß als »Vitt[us] sculptor[] de Horb« bezeichnet. Da Stoß’ Bruder Mathias urkundlich als »Schwob« aus »Harow« erwähnt wird, hatten die Forscher bis zu diesem Zeitpunkt auch das Dorf Harro im rumänischen Siebenbürgen als Geburtsort diskutiert. Nun wurde eine deutsche Abstammung wahrscheinlich. Aus mehreren in Frage kommenden Orten mit dem Namen Horb wurde die schwäbische Kleinstadt am Neckar (im Mittelalter auch als Horw oder Horo bezeichnet) als Herkunftsort des Künstlers und seines mit ihm in Krakau tätigen Bruders identifiziert.

 

Eine glückliche Quellenüberlieferung aus Krakau

Magister Johann von Glogau hatte sich bei dem in Krakau ansässigen Veit Stoß im Zusammenhang mit dem Bau der Bursa Germanica, einer Unterkunft für deutsche Studenten, die in Krakau studierten, mit einem Betrag von 60 Gulden verschuldet. Als Stoß’ Umsiedelung nach Nürnberg im Januar 1496 unmittelbar bevorstand und er nicht mehr in der Lage war, sich selbst um die Eintreibung dieser Schuld zu kümmern, ernannte er am 9. Januar 1496 seinen ehemaligen Mitarbeiter Ladislaus Tischer zu seinem Bevollmächtigen vor Ort. Tischer war ein renommierter Tischlermeister, mehrmals Ältester der Krakauer Tischler- und Malerzunft, und wurde von Stoß wohl als vertrauenswürdig eingestuft. Der Schuldner war jedoch säumig, was Ladislaus zusammen mit Veit Stoß’ Bruder Mathias 1499 veranlasste, wegen dessen nachlässiger Zahlungsmoral vor dem Krakauer Konsistorium zu klagen. Zur Tilgung der Schuld wurden Stoß drei Jahreseinkünfte aus dessen Universitätskollegiatur zugesprochen. Der Bildschnitzer wird in diesem Zusammenhang als »cisor imaginum, quondam Cracovie, nunc Norymbergae« (lat., Bildschnitzer, einst Krakau, nun Nürnberg) erwähnt. Am 13. Mai 1502 schließlich konnte Ladislaus in der Krakauer Kanzlei die vollständig erfolgte Rückzahlung mit einer Quittung beurkunden lassen. Die Nennung von Stoß’ Geburtsort Horb ist dem glücklichen Umstand zu verdanken, dass der Kanzleischreiber bei Abfassung des in lateinischer Sprache verfassten Dokuments vom mittlerweile erfolgten Ableben des Gläubigers, der seit sechs Jahren nicht mehr in Krakau ansässig war, ausging. So fügte er zunächst vor Stoß’ Vornamen und Gewerbe »olim« (lat., einst, ehemalig) ein und hängte statt des momentanen Aufenthaltsortes seinen Geburtsort »de Horb« an. Dieser Irrtum wurde wohl von Ladislaus Tischer, noch während das Schriftstück abgefasst wurde, aufgeklärt. Das Adverb »olim« vor Stoß’ Vornamen wurde vom Schreiber durchgestrichen. Der Geburtsort als gültige Herkunftsangabe der genannten Person blieb bestehen.

Krakau, Konsistorium, Acta Officialia Bd. XXIV, S. 311

 

 

Trotz intensiver Recherche tauchte bis heute in den überlieferten Horber Urkunden im in Frage kommenden Zeitraum der Familienname Stoß nicht auf, eine gleichnamige Familie war jedoch im nahen Ravensburg ansässig. Es lohnt sich, auf die relativ gut dokumentierten Verwandtschaftsbeziehungen der Ravensburger Familie Stoß näher einzugehen, denn sie zeigen einige Übereinstimmungen mit den zu Veit Stoß überlieferten Informationen. Ein Ulrich Stoß der Ältere († zwischen 1449 und 1453) aus ratsfähigem Geschlecht war Mitgesellschafter der erfolgreichen Ravensburger Handelsgesellschaft »Magna Societas Alemannorum«, die, 1380 gegründet, vor allem im Osthandel tätig war. 1438 wurde er zum Faktor der Breslauer Niederlassung der Ravensburger Handelsgesellschaft der Humpiß ernannt. Er ehelichte ein Jahr später Anna, eine nahe Verwandte der Ehefrau des dort ansässigen Kaufmanns Albrecht III. Scheurl aus dem schwäbischen Lauingen. Scheurl fungierte zu diesem Zeitpunkt als Faktor der großen Nürnberger Handelsgesellschaft der Gruber-Stromer, machte sich später sehr erfolgreich selbstständig und konnte ein großes Vermögen erwirtschaften. Bereits als Kind übersiedelte sein Sohn Christoph I. Scheurl nach Nürnberg und heiratete dort 1480 in das ratsfähige Geschlecht der Tucher ein. In Veit Stoß’ Biografie zeigen sich mit seinen beiden Lebensmittelpunkten Krakau und Nürnberg deutliche Berührungspunkte zu den gen Osten gerichteten Ravensburger Handelsbeziehungen und zur fränkischen Reichsstadt. Zudem sollte sich der angesehene Nürnberger Kaufmann Christoph I. Scheurl dem Bildschnitzer in einer späteren schwierigen Lebensphase als loyaler Beistand erweisen.

Ulrich Stoß’ Enkel waren die Brüder Peter († nach 1533) und Antoni Stoß (†1537/38), die beide unter Kaiser Maximilian I. und seinem Nachfolger mit dem Amt eines kaiserlichen Sekretärs betraut waren und vom ihm geadelt wurden. Diese beiden könnten in einem 1562 datierten, für Veit Stoß’ Sohn Willibald ausgestellten kaiserlichen Adelsbrief gemeint gewesen sein, in dem verdienstvolle »Voreltern« im Rang kaiserlicher Sekretäre erwähnt werden. Dass Ulrich Stoß ein naher Verwandter von Veit, altersmäßig vielleicht sogar ein Onkel gewesen sein könnte, rückt angesichts weiterer Übereinstimmungen in greifbare Nähe. Stoß’ Verbindungen zum kaiserlichen Hof sollten ihm zu späterer Zeit jedenfalls nicht nur bei der Akquise von Aufträgen von großer Hilfe sein.

Über diese vermutete weitere Herkunftsfamilie der Brüder Veit und Mathias Stoß hinaus fehlen bis heute jedoch der konkrete archivalische Nachweis der Eltern sowie des Geburtsjahres des Bildschnitzers. Möglich wäre, dass der Familienname des Vaters, wie es Mitte des 15. Jhs. noch üblich war, durch eine Berufsbezeichnung – ein Klaus Goldschmied erscheint in den Horber Akten – ersetzt worden ist. Mathias, Stoß’ Bruder, übte dieses Handwerk aus. Eine erste Kurzvita von Veit Stoß in den 1547 von dem Nürnberger Schreib- und Rechenmeister Johann Neudörffer (1497–1563) verfassten »Nachrichten von den vornehmsten Künstlern und Werkleuten, so innerhalb von hundert Jahren in Nürnberg gelebt haben« (vgl. Kasten S. 97), vermerkt sein Todesalter mit 95 Jahren. Gesichert ist sein im Totengeläutbuch von St. Sebald vermerktes Todesjahr 1533. Damit würde seine Geburt in das Jahr 1438 fallen. Auch wenn Neudörffer die Echtheit seiner Angabe mit seiner persönlichen Bekanntschaft mit dem Bildschnitzer untermauert, scheint dieses frühe Geburtsjahr im Abgleich mit späteren, gesicherten Lebensdaten fraglich. Unter anderem wäre Stoß bei der Geburt seines jüngsten Sohnes Martin 78 Jahre alt gewesen. Da Neudörffers Schrift sich vor allem auf das Spätwerk Stoß’ bezieht und auch nachweislich falsche Angaben wie dessen Herkunft aus Krakau enthält, muss sie auch bezüglich des Todesalters hinterfragt werden. Vielleicht wollte Neudörffer mit einem extrem hoch angesetzten Lebensalter nur betonen, dass Stoß nach damaliger Vorstellung sehr alt wurde. Eine weitere Quelle, die »Historische Nachricht von den Nürnbergischen Mathematicis und Künstlern« von Johann Gabriel Doppelmayr aus dem Jahr 1730, nennt das Geburtsjahr 1447. Heute herrscht wissenschaftlicher Konsens, dass Stoß’ Geburtsjahr in den Zeitraum zwischen 1445 und 1450 fallen muss.

Horber Netzwerk

Abgesehen von seinem Geburtsort ist zu Stoß’ drei ersten Lebensjahrzehnten keine weitere Quelle bekannt. Zu seiner Ausbildung als Bildschnitzer und Weiterbildung als Geselle, die in diese Zeit fallen, können jedoch über Vorschriften spätmittelalterlicher Handwerksordnungen, Handwerksgepflogenheiten der Zeit und stilistische Einflüsse, die in seinen ersten gesicherten Werken wirksam werden, stichhaltige Vermutungen zu seinem ersten Lebensabschnitt angestellt werden.

Stadt und Region, in die ein Handwerker des späten Mittelalters hineingeboren wurde, prägten seine Ausbildung. Dass Stoß’ Wahl auf eine Bildhauer- oder Bildschnitzerlehre fiel, muss nicht ursächlich im selben väterlichen Handwerk begründet gewesen sein, widerlegen doch Untersuchungen im Rheingebiet des späten Mittelalters einen ausgeprägten Hang zur Berufsvererbung vom Vater auf den Sohn. Förderlich hierfür waren vielmehr das Interesse und die Tauglichkeit für das ausgewählte Handwerk, die ein Lehrling seinem Meister in einer vierwöchigen Probezeit nachweisen musste. Da die für das Kleinstädtchen Horb überlieferten Quellen im in Frage kommenden Zeitraum keinen Bildschnitzer- oder Bildhauermeister als möglichen Lehrherrn aufführen, dürften zur Unterbringung des 13- bis 14-jährigen Knaben in einem auswärtigen Lehrort die Geschäftskontakte und das Netzwerk, das städtische Behörden, ortsansässige Kaufleute und Werkstätten unterhielten, entscheidend gewesen sein.

Das oberschwäbische Landstädtchen Horb bezog im späten Mittelalter seine überregionale Bedeutung aus seiner Funktion als Stützpunkt zweier sich kreuzender Fernhandelsrouten. Es lag verkehrstechnisch günstig am Schnittpunkt der West-Ost-Verbindung vom Oberrhein über Straßburg, Ulm und Augsburg bis nach Italien sowie der Nord-Süd-Route zwischen Pforzheim und dem Schweizer Raum. Neben den typischen Handwerken, die für den Unterhalt des Transportwesens und der Versorgung der Handeltreibenden mit Nahrung und Unterkunft nötig waren, brachten die vor Ort ansässigen Kaufleute ein lokales Produkt, das sogenannte »Horber Tuch«, ein raues, aber preiswertes Wollgewebe, in den überregionalen Handel ein und konnten dieses auch auf weiter entfernten Märkten platzieren. Diese erfolgreiche Strategie ermöglichte den Aufbau überregionaler Handelskontakte von der oberrheinischen Metropole Straßburg bis in die Schweiz. Mit dem Handelsverkehr, der die Stadt durchlief, wird Horb auch Station eines kunstgeschichtlich relevanten Nachrichtenflusses in alle vier Himmelsrichtungen gewesen sein. Reisende Kaufleute und mobile Handwerker sowie die als Ware mitgeführten Kunstwerke und sonstiges künstlerisch bedeutsames Handelsgut dürften die Stadt regelmäßig über die Handelsrouten passiert und die Horber Stadtbevölkerung und damit auch die Familie Stoß über bedeutende Werkstätten und künstlerische Entwicklungen auf dem Laufenden gehalten haben. Insbesondere die beiden Kunstzentren Ulm und Straßburg geraten aufgrund ihrer geografischen Nähe und der von dort ausgehenden, in Stoß’ Werk nachvollziehbaren stilistischen Einflüsse in den Fokus.

Kunstzentren Ulm und Straßburg

Ulm und Straßburg gehörten neben den Reichsstädten Nürnberg und Augsburg zu den großen Wirtschaftsstandorten Süddeutschlands. Sie fungierten als Netzwerkzentralen und Anziehungspunkte für überregionale Zuwanderung, galten mit ihrem hoch qualifizierten Handwerk als bevorzugte Aus- und Weiterbildungsorte und bedienten auch weit entfernte Absatzmärkte.

Im für Stoß relevanten Zeitraum seiner Ausbildung zwischen 1460 und 1470 war Ulm das bedeutendste Zentrum der Bildschnitzerei im süddeutschen Raum. Ursächlich hierfür war die intensive Bautätigkeit am Ulmer Münster, die in den ersten Jahrzehnten des 15. Jhs. die Anfertigung des bauplastischen Schmucks und ab den 60er-Jahren die der Innenausstattung mit einem hohen Bedarf an Fachkräften nach sich zog. Als 1427 der Mitte 20-jährige talentierte Bildhauer und -schnitzer Hans Multscher aus der Nähe von Isny im Allgäu Interesse an einer Niederlassung als Meister zeigte, nahm ihn der Rat der Stadt wohlwollend ohne Zahlung von Bürgergeld und steuerfrei auf. Multscher hatte vermutlich sein Handwerk im Hüttenverband bei einem Steinmetzmeister erlernt und konnte Gesellenjahre, die ihn bis in die Niederlande und Burgund führten, vorweisen. Seine Werkstatt, in der in Stein und Holz gearbeitet wurde, bildete den Auftakt der Ulmer Schule mit weitreichendem überregionalem Einfluss. Gleich sein erstes Auftragswerk im Jahr 1429, die Figur des Schmerzensmannes am Westportal des Ulmer Münsters, wirkte stilbildend. Sein Werk stellte eine Synthese aus der bis dahin führenden böhmischen Skulptur in der Parler-Tradition und eines neuen, aus dem Westen kommenden Einflusses der Arbeiten Claus Sluters in Burgund dar. Die eingefahrenen, stilisierten und über Jahrzehnte streng reproduzierten böhmischen Darstellungsformeln wurden von Multscher zugunsten einer lebensnäheren, den Betrachter unmittelbarer ansprechenden Körperbildung verändert. Eingebettet in einen geschlossenen Umriss bei einer weiter wirksamen Verhaltenheit der Figuren, entfalten sie durch Körper- und Kopfhaltung, Mimik und einen körpernah modellierten Faltenwurf eine neue reale Präsenz. Multschers Werkstatt als begehrter Ausbildungsort dürfte Anziehungspunkt für Bildschnitzer-Lehrlinge aus dem ganzen schwäbischen Raum gewesen sein.

Straßburg hatte seine führende Position aus seiner Bedeutung als wichtige Handelsdrehscheibe heraus erlangt; hier kreuzte sich die Rheinroute, die aus Italien in die Niederlande führte, mit dem Handelsweg, der aus Ost- und Mitteleuropa in den französischen Raum hinein zielte. Über diese beiden Achsen gelangten ab Mitte des 15. Jhs. neue künstlerische Einflüsse in die elsässische Kunstmetropole. Der bereits bei Multscher wirksame Einfluss des burgundischen Künstlers Claus Sluter war in der niederländischen Bildhauerei des zweiten Viertels des 15. Jhs. weiter entwickelt worden und kulminierte nun in einer Künstlerpersönlichkeit, die die nachfolgende Skulptur nachhaltig prägen sollte: In der des niederländischen Bildhauers und -schnitzers Niclas Gerhaert van Leyden. Die Frühzeit dieses Künstlers liegt im Dunkeln. Wie auch bei Stoß muss die Herkunftsbezeichnung, die er als Anhängsel an seinem Namen führte, nicht mit seinem tatsächlichen Geburtsort identisch sein. Niclas Gerhaert arbeitete ab dem Jahr 1463 in Straßburg, wo er bereits auf dem Höhepunkt seiner künstlerischen Entwicklung stand. Nach einem nur vierjährigen Aufenthalt in der Stadt, von der aus er ein Absatzgebiet bis nach Konstanz und Nördlingen bediente, war er ab 1467 in Wien tätig. Hier arbeitete er an einem Grabmal für Kaiser Friedrich III. und verstarb bereits 1473. Gerhaert löste seine Skulpturen aus der tradierten, zylindrisch kompakten Silhouette heraus und ließ sie nun unter Einsatz von Armen, Beinen und dynamisch verselbstständigten Faltenwürfen in den Raum ausgreifen. Mit der Verwendung von kulturell verankerter Gestik und individualisierten und psychologisierten Physiognomien erhöhte er den Erzählwert und damit die Unmittelbarkeit der Figuren zum Betrachter. Von seinen Zeitgenossen rezipiert wurde auch seine Sensibilität in der Oberflächengestaltung, insbesondere der menschlichen Haut.

Rekonstruktion der Lehr- und Gesellenjahre