Zum Buch

 

Der Bayerische Wald – das größte zusammenhängende Waldgebiet Bayerns – stellte die Menschen durch seine widrigen Umweltbedingungen schon immer vor große Herausforderungen. Der Autor erzählt die Geschichte dieser Region, ausgehend von den ersten keltischen und römischen Spuren der Besiedlung, schildert die Entwicklung unter den Agilolfingern und den Grafen von Bogen bis zur neuzeitlichen Kolonisation. Im Fokus stehen das Leben und die Arbeitsbedingungen der Bauern, das Leben in den Städten sowie Handwerk und Gewerbe.

Geschickt verknüpft Johann-Bernhard Haversath dabei Umwelt-, Territorial-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Schließlich liefert der Band einen Ausblick auf die Chancen der Region in der globalisierten Welt eines vereinten Europa.

 

 

Zum Autor

 

Johann-Bernhard Haversath,
Prof. Dr. rer. nat., geb. 1948, lehrte bis 1994 in Passau, seit 1994 in Gießen Geografie. Habilitation, zahlreiche Publikationen, Vorträge und Exkursionen zum Bayerischen Wald.

Johann-Bernhard Haversath

 

 

 

 

Kleine Geschichte
des Bayerischen Waldes

 

Mensch – Raum – Zeit

 

 

 

 

 

 

 

 

VERLAG FRIEDRICH PUSTET
REGENSBURG

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

eISBN 978-3-7917-6049-0 (epub)
© 2015 by Verlag Friedrich Pustet, Regensburg
eBook-Produktion: Friedrich Pustet, Regensburg
Umschlaggestaltung: Heike Jörss, Regensburg

Diese Publikation ist auch als Printprodukt erhältlich:
ISBN 978-3-7917-2648-9

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Vorwort
Mensch – Raum – Zeit

Die Beschränkung des Bandes auf einen stark eingegrenzten und klar abgrenzbaren Raum wie den Bayerischen Wald ist Stärke und Schwäche zugleich: Schwäche, weil möglichst alle Besonderheiten und Charakteristika im Buch genannt, alle Orte erwähnt und alle bedeutenden Persönlichkeiten gewürdigt werden sollen (was natürlich nicht möglich ist), und Stärke, weil die verschiedenen Themen im Fokus des Regionalen in kleinräumigem Zusammenhang, also in lebensweltlichen Bezügen, verdeutlicht werden können.

Damit steht von Anfang an fest, dass Schwerpunkte gesetzt werden müssen. Erst die Beschränkung in der Breite ermöglicht eine Vertiefung bei den Zusammenhängen, einen schärferen Blick bei den Vernetzungen und eine genauere Einschätzung der jeweils beteiligten Akteure.

Es lassen sich drei zentrale Kategorien herausstellen, die wie ein roter Faden das Buch durchziehen:

 

1. Der Mensch als unterschiedlich mächtiger Akteur

Die Rodung der Waldgebiete stellte gerade in vortechnischer Zeit ganz besondere Herausforderungen. Schritt für Schritt gewannen die Menschen im Laufe der Zeit die nötigen technischen Kenntnisse und Möglichkeiten, sie fanden neue Wege der Erschließung des Waldes und des Überlebens. Es darf aber nicht übersehen werden, dass die Einflussmöglichkeiten je nach Macht (oder Ohnmacht) gestaffelt waren (und sind): Einflussreiche, durchsetzungsfähige Akteure geben den Rahmen vor, nach dem sich die anderen zu richten haben.

 

2. Der Raum als Gestaltungs- und Betätigungsfeld von Natur und Mensch

Als hohes Mittelgebirge, das zugleich Grenzgebirge ist, bildete der Bayerische Wald in den verschiedenen Rodungsepochen dem Menschen keinen idealen Expansionsraum. Die widrigen klimatischen Verhältnisse erschwerten den Handel und die Landwirtschaft beträchtlich. Die verkürzte Vegetationsperiode, die zumeist mäßige, oft auch geringe Bodengüte sowie die ungünstigen Gesteinsverhältnisse im Untergrund stellten bei der Erschließung ernsthafte Erschwernisse dar. Mensch und Natur wurden in früheren Epochen nur bedingt als sich ergänzendes Paar gesehen.

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Abb. 1: Das ist doch der Gipfel: auf dem Großen Arber (1456 m)

 

 

3. Die Zeit als Variable im Entwicklungsprozess

Technischer Fortschritt in der Landwirtschaft, Innovationen beim Wegebau (z. B. Triftkanäle) oder neue Ideen bei der Siedlungsanlage führten zu dynamischen Entwicklungen. Durch zahlreiche Rückschläge (Kriege, Epidemien, klimatische Extremereignisse) wurden jedoch die progressiven Phasen von Stagnation oder Schrumpfung abgelöst. So folgten bei wiederholtem Auf und Ab den Zeiten der (gemäßigten) Prosperität solche des Stillstands oder der Krise.

Diese drei Kategorien, die den konzeptionellen Rahmen der Kleinen Geschichte des Bayerischen Waldes bilden, sind nicht isoliert, sondern vernetzt und verbunden zu verstehen: Menschen und soziale Gruppen handeln in Raum und Zeit; der Raum bietet den Menschen im Laufe der Zeit unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten, von denen manche aufgegriffen, andere verworfen werden; Zeit und Zeitgeist schließlich setzen ihrerseits Akzente, indem auch sie manches begünstigen und anderes erschweren. Will man den Bayerischen Wald und seine Bewohner in Raum und Zeit verstehen, dann muss man in diesem Sinn in die Tiefe gehen und die Stränge der Entwicklung miteinander verknüpfen.

Die Vernetzungen in den sachlichen Bezügen finden in den einzelnen Kapitelüberschriften ihren Ausdruck. In allen Fällen ist von einem Begriffepaar die Rede; es steht wie ein Signal, das Hinweise auf den Facettenreichtum, auf die Differenzierungen und auf die inhaltliche Vielfalt geben soll. Kein Raum der Welt, auch nicht der Bayerische Wald, kann mit wenigen Begriffen abgestempelt oder in eine Schublade gesteckt werden. Selbst Teilgebiete des Bayerischen Waldes sind hochgradig komplex und in sich höchst verschieden. Daher müssen wir die Zusammenhänge im Blick haben, den Wandel im Laufe der Zeit, wir müssen über den Tellerrand schauen. Es bleiben stets viele Fragen offen, weil einerseits längst nicht alles erforscht ist und andererseits nur ausgewählte Bereiche in diesem Band thematisiert werden.

Im Gebiet der Historie geht es bevorzugt um die Teilbereiche der Territorial-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte sowie – deutlich über die Historie hinausgehend – um die transdisziplinäre Umweltgeschichte; die Geographie steuert z. B. die vernetzte Siedlungsforschung, die Agrar-, Klima- und Bodengeographie bei, bei den Gesteinen und der Gebirgsbildung erfolgt der Rückgriff auf die Geologie; die Sprach- und Kulturwissenschaften schließlich liefern u. a. Erkenntnisse zu den Ortsnamen oder zur baulichen Entwicklung.

Die Ausführungen richten sich dabei an ein breites, interessiertes Publikum: Den Einheimischen mögen sie dazu dienen, Altbekanntes und Vertrautes aus einem neuen Blickwinkel zu sehen, also einen Perspektivenwechsel vorzunehmen; den Regionsfremden mögen sie eine Hilfe zur raschen Orientierung bieten, so dass das komplexe räumliche Nebeneinander im zeitlichen Nacheinander und im sachlichen Mit- oder Gegeneinander verstehbar wird.

1 Raum und Identität

Räume werden von Menschen geschaffen, indem sie nach ganz bestimmten Kriterien (Klima, Boden, Vegetation, Sprache, Bauformen usw.) abgegrenzt werden. Auch der Bayerische Wald ist ein solches Konstrukt. In jedem Schulatlas finden wir ihn eingetragen und können ihn abgrenzen – je grober die Karte ist, umso leichter (s. Abb. 2). Gerne wählen wir zu diesem Zweck so genannte natürliche Grenzen; sie legitimieren sich schon dem Namen nach, denn eine von der Natur vorgegebene Grenze scheint die Plausibilität auf ihrer Seite zu haben.

Als natürliche Grenzen gelten z. B. Flüsse. Je größer sie sind, umso deutlicher wird – so heißt es oft – ihre trennende Wirkung. Die Donau ist solch ein Strom, der beide Uferseiten trennt … aber auch verbindet! Der Dungau ist das Gegenbeispiel: Als Landschaft ist er so nach den Kriterien Boden und Landwirtschaft abgegrenzt, dass er beide Seiten der Donau umfasst und die trennenden Effekte des Stroms überwindet.

Ein ganz ähnliches Problem sind politische Grenzen. Dabei steht die deutsch-österreichische Staatsgrenze mit wechselhafter Geschichte, die zudem quer durch das Waldgebirge geht, erst gar nicht im Verdacht, eine natürliche Trennungslinie zu sein. Anders ist es da mit der deutsch-tschechischen Grenze. In manchen Abschnitten bildet die Kammlinie des Gebirges die heutige Demarkation – eine natürliche Grenze par excellence: Sie deckt sich abschnittsweise mit der europäischen Hauptwasserscheide Donau/Moldau (Schwarzes Meer/Nordsee), stellt eine Scheide im Witterungsgeschehen dar (feuchter Westen/trockener Osten) oder eine Sprachbarriere (deutsch/tschechisch). Schon bei diesem letzten Aspekt wird aber deutlich, dass der Zusammenfall von Staats- und Sprachgrenze erst nach dem Zweiten Weltkrieg durchgesetzt wurde. Doch auch die Kammlinie bildet ein Konstrukt, eine Linie der Einigung, die erst nötig wurde, als die Menschen durch Rodung und Kolonisation den ehemals weiten, unbewohnten Grenzsaum immer weiter einengten. Als vor fast vierhundert Jahren auch im zuvor geschlossenen Waldgebirge lineare Grenzen gezogen wurden, folgte man nach heftigen Streitereien, die vorausgegangen waren, bestimmten Kriterien, die Akzeptanz fanden: den Gewässerläufen, der Kammlinie oder anderen Hilfslinien.

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Abb. 2: Verortung des Bayerischen Waldes

 

Natürliche Grenzen im strengen Sinn gibt es also nicht; genau genommen handelt es sich um Grenzziehungen, die vom Menschen nach ausgewählten natürlichen, kulturellen, politischen oder anderen Kriterien je nach Zielsetzung vorgenommen werden. Gerne werden sie als natürlich bezeichnet, weil sie so im Diskurs leichter durchzusetzen waren und sind. Trotz ihrer Künstlichkeit sind lineare Grenzen für uns Menschen ohne Frage wichtig: Wir brauchen sie zur Abgrenzung von Zuständigkeiten (Staaten), von Einzugsbereichen oder von Förder- und Schutzgebieten. In der Natur ist das anders. Hier sind Übergangsräume und Überschneidungsbereiche verbreitet, die mit einer linearen Grenze nicht adäquat erfasst werden können. Auch die in der Botanik beheimatete Arealkunde, die Verbreitungsgebiete von Pflanzen umreißt, hat Platz für Übergänge und Zonen des Wechsels. Grenzen sind also zum einen gemacht und dienen zum anderen bestimmten Zwecken. Auf dieser Basis kann der Grenzverlauf des Bayerischen Waldes reflektiert umschrieben werden.

Im Sinne der naturräumlichen Gliederung Deutschlands handelt es sich beim Bayerischen Wald um ein Gebiet, das unter den Aspekten der Oberflächenformen, der Geologie, der Gewässer, der Pflanzen- und Tierwelt sowie der Böden trotz erkennbarer Differenzierung mit der Höhe weitgehend einheitlich ist. Es sind aber nicht nur physisch-geographische Kriterien, die zur Abgrenzung herangezogen werden, sondern auch politische (Grenze zu Tschechien und Österreich) sowie kulturelle und historische (Grenze zum Oberpfälzer Wald).

Im Detail wird folgender Grenzverlauf im Sinne einer Bearbeitungsgrundlage vorgeschlagen: Der Donaurandbruch markiert von Regensburg bis Pleinting die Grenze im Südwesten und Westen; es folgt die Donau über Passau bis Jochenstein; die deutsch-österreichische Grenze bildet den südöstlichen Abschluss bis zum Hauptkamm; daran schließt als nordöstliche Linie die deutsch-tschechische Grenze an; den Flussläufen von Chamb und Regen folgend, wird das Gebiet im Norden umgrenzt.

Es versteht sich dabei von selbst, dass je nach sachlichen Zusammenhängen auch über diese Begrenzung hinausgegangen werden muss. Außerdem lassen sich innerhalb der Einheit Bayerischer Wald zahlreiche kleinere Untereinheiten herausstellen, die nicht übersehen werden sollen. In der Terminologie der naturräumlichen Gliederung Deutschlands handelt es sich (von Norden nach Süden) um die Cham-Further Senke, die Regensenke, den Lallinger Winkel, den Falkensteiner Vorwald, den Vorderen Bayerischen Wald, den Hinteren Bayerischen Wald, das Passauer Abteiland und die Wegscheider Hochfläche.

Trotz linearer Abgrenzungsversuche repräsentiert der Bayerische Wald einen komplexen, in sich vielfach differenzierten Raum mit – wie noch zu zeigen sein wird – endogenem Potenzial und exogener Beeinflussung. Mensch und Natur, deren Einfluss im Laufe der Zeit wiederholt wechselte, prägten ihn mit unterschiedlichen Mitteln und wechselnder Intensität.

In Weiterführung dieser Überlegungen über den Raum, seine Gliederung und Abgrenzung schließt sich nahtlos die Debatte an, ob es auch im gesellschaftlich-kulturellen Bereich so etwas wie Einheiten (und Untereinheiten) der Bewohner des Bayerischen Waldes gibt. Der Regensburger Geograph Bernd Stallhofer untersuchte in diesem Zusammenhang, ob es eine Identität des Waldlers gebe und wie sie aussehe. Als Identität bezeichnet man dabei im soziologischen Sinn die Gruppenzugehörigkeit von Menschen, das Wir-Gefühl. Dieser Begriff ist nicht starr und unveränderlich festgeschrieben zu verstehen, sondern als etwas höchst Bewegliches, das neuen Situationen immer wieder angepasst werden muss. Auch der Gegenpol zur gesellschaftlichen Identität, die Individualität, muss stets mitgedacht werden, wenn es um die Gruppenzugehörigkeit geht.

Stallhofers Ergebnisse sind höchst interessant: Den wichtigsten persönlichen Stellenwert für die Identitätsbildung erreichen die (diffusen) Kategorien Waldlandschaft, Lebensqualität, Mentalität, traditionelle Wirtschaftsstrukturen, Mundart, Kultur und Brauchtum. Das Wir-Gefühl, hier speziell das Heimatbewusstsein oder die regionale Zugehörigkeit, sei aus der Sicht vieler Betroffener durch verschiedene Elemente gekennzeichnet: Verwurzelung im Wald, harte Arbeit (der früheren Generationen), gemeinsame Sprache, hohe Ortsbindung, niedrige Umzugsbereitschaft. Stallhofer sieht diese Etiketten nicht als Stereotype oder Vorurteile an, sondern als Begriffe, hinter denen ein Repertoire an positiven regionalen Symbolen stehe, aus denen ausgewählt werde und die z. B. von lokalen Eliten der Bevölkerung zugeschrieben werden: der Wald, das (früher) entbehrungsreiche Leben oder der heutige Erholungswert. Dem stünden kontrastierend ganz bestimmte massiv abwertende Außenbilder gegenüber, also die Fremdwahrnehmung: kulturfreier und wirtschaftlich rückständiger Raum oder Hinterwäldlertum.

Derartige Unterschiede zwischen der Innen- und Außensicht sind normal und brauchen nicht weiter diskutiert zu werden; sie spiegeln die Abgrenzungsbemühungen gesellschaftlicher Gruppen und ihre wechselseitige Diffamierung. Natürlich rufen sie bei den Betroffenen sogleich einen Sturm der Entrüstung hervor. Stallhofers Befunde jedoch sind keineswegs pauschal, undifferenziert oder unterkomplex: Auch die Bewohner des Bayerischen Waldes – so seine Ergebnisse – lassen sich nicht in eine Schublade stecken. Aus den Selbstzuschreibungen wird klar, dass die individuell gefühlten und vertretenen Identitäten vielfältig sind. Bayer, Niederbayer, Waldler, Böhmerwäldler und andere regionale Identitäten stehen nebeneinander und vermischen sich sogar. Es kommt hinzu, dass alle Menschen mehrere Identitäten haben (können): Waldler, Bayern, Deutsche, Europäer und / oder Kosmopoliten.

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Abb. 3: Selbstzuschreibung der Probanden im Bayerischen Wald

Identitäten – so lässt sich zusammenfassen – sind Konstrukte, Zuschreibungen oder soziologische Zuordnungen; sie werden den Menschen mit ihren Besonderheiten nicht gerecht, sie treffen auf keinen Fall für alle zu, sie lenken den Blick nur auf ausgewählte Aspekte. Zusammen mit der Individualität bilden sie eine mögliche Polarität menschlichen Selbstverständnisses ab, oder um es mit den Worten des Philosophen Jaques Derrida (1930–2004) zu formulieren: Wir müssen das Identische, d. h. die gesellschaftliche Gruppenzugehörigkeit, und das Nicht-Identische, d. h. das hiervon Abweichende, das Individuelle, zusammen sehen, um den Bewohnern gerecht zu werden und das Denken in Schubladen zu überwinden.

2 Natur und Zeit

Der Bayerische Wald steht für viele Besucher, die von außen kommen, als Inbegriff für Natur und Waldeinsamkeit. Fraglos gibt es in ihm naturnahe oder naturbelassene Bereiche, doch generell handelt es sich um Kulturland, das vom Menschen gestaltet ist. Die Debatte um das Verhältnis von Mensch und Natur kann daher am Beispiel dieses Waldgebirges sehr ertragreich geführt werden – erst recht, wenn sie um die Zeitschiene erweitert wird, wie sie gut in eine Kleine Geschichte des Bayerischen Waldes passt.

Aus dem weiten Feld seien vier Bereiche ausgewählt: Klima und Klimawandel sind aktuelle Themen in Öffentlichkeit und Wissenschaft, die kontrovers diskutiert werden. Wir wissen heute mehr über dieses komplexe Thema, erkennen aber nicht sogleich einen Bezug zur Region oder zum Nahraum. Am höchsten ist der Komplexitätsgrad vielleicht, wenn die Tiefe der Zeit mit ihren Entwicklungen in den Blick gerät. Allein die Zeit der letzten Jahrtausende zu überschauen ist für den Menschen eine riesige Herausforderung; um ein Vielfaches mehr gilt das allerdings für geologische Zeitdimensionen, die (spekulativ) rund 4,5 Mrd. Jahre zurückreichen. Alle drei angeführten Themenbereiche (Klima, Vegetation und Geologie) lassen das hochkomplexe Zusammenspiel von Natur und Zeit mit jeweils eigenen Facetten aufscheinen. Auch bei der Vegetation, den Böden oder der Tierwelt stellen wir immer wieder den Bezug zu Natur und Zeit her, oft ohne zufriedenstellende Antworten zu finden. Am Beispiel des Nationalparks Bayerischer Wald/Šumava soll schließlich verdeutlicht werden, wie unsere heutige Gesellschaft dieses Themenfeld aufgreift, bewertet und inszeniert.

Klima

In der Umgangssprache werden die Begriffe Klima, Witterung und Wetter mit fließenden Übergängen, unscharf und zumeist unreflektiert gebraucht: Das Klima des Bayerischen Waldes gilt als rau, der Winter als hart und der Sommer als erfrischend, ohne dass dieser Kategorisierung im Einzelfall genannte Kriterien zugrunde liegen. Es sind Erfahrungswerte, die plausibel in knappe Charakterisierungen umgemünzt werden und die Witterungsverhältnisse in den einzelnen Monaten oder Jahreszeiten zutreffend kennzeichnen.

In der Meteorologie geht man, wie es in den Wissenschaften grundlegend ist, einen systematischen Weg mit messerscharf definierten Begriffen. Als Klima bezeichnet man so den atmosphärischen Zustand eines Gebiets im langjährigen Mittel. Einzelne Klimaelemente (Luftdruck, Luftfeuchtigkeit, Temperatur, Niederschlag, Verdunstung, Bewölkung, Strahlung, Wind) werden an Klimastationen gesammelt, monatlich zusammengefasst, in Zeitreihen von mindestens 30 Jahren eingeordnet sowie nach Mittelwerten, Häufigkeiten, Abfolgen und Extrema ausgewertet. So entstehen klimatische Zuordnungen, die auf gemessenen Datenreihen beruhen, unter standardisierten Bedingungen gewonnen wurden und vergleichende Schlüsse erlauben.

Die Karte auf S. 18 zeigt, wie das Klima des Bayerischen Waldes auf der Grundlage von zwei Klimaelementen (jährlicher Niederschlag, Monate mit mind. 10 °C) aussieht. Folgende drei zentrale Aussagen sind hieraus abzuleiten: 1. Beide Klimaelemente spiegeln die Oberflächenform: Die langgezogene Regensenke hat mildere Temperaturen als die Höhen von Bayerischem und Böhmerwald. 2. In den höchsten Lagen um Arber und Rachel werden Niederschläge über 1600 mm/a erreicht – in Deutschland gibt es derartige Werte sonst nur in den Hochlagen des Südschwarzwalds und in den Alpen. 3. Die Temperaturunterschiede zwischen den Hochlagen, der Regensenke und dem donaunahen Vorwald sind beträchtlich. Während um Arber und Rachel nur zwei Monate mit ≥10 °C erreicht werden, sind es am Donaurandbruch bei Bach, Tegernheim und Donaustauf fünf.

Genauere, aber auch örtlich begrenzte Aussagen sind aus den Datenreihen im Kasten auf S. 20/21 ablesbar. Beim Höllenstein-Kraftwerk (402 m ü. N. N. am Regen, zwischen Viechtach und Bad Kötzting) ist die Lufttemperatur niedriger als im höher gelegenen Cham; diese scheinbare Anomalie ist mit der von den Höhen abfließenden Kaltluft zu erklären, die sich im Tal des Schwarzen Regen sammelt und die Temperatur drückt. Analog sind hier auch die Frosttage höher als zu erwarten. Beim Niederschlag spielt die Lage zu den regenbringenden Westwinden eine große Rolle: Der Große Falkenstein ist in diesem Sinn ein Regenfänger; er liegt im Luv der durchziehenden Tiefdruckgebiete. Am Kraftwerk Höllenstein reduziert die Leelage (Windschatten) den Niederschlag, im offenen Chamer Becken schließlich ist der Niederschlag deutlich niedriger.

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Abb. 4: Klimatische Differenzierung des Bayerischen Waldes

Trotz des modifizierenden Einflusses von Gelände und Lage der Messstation ist generell eine dreifache Differenzierung des Klimas festzuhalten: 1. Die Klimaelemente ändern sich mit der Höhe. Niederschläge, Windgeschwindigkeit und Anzahl der Schneetage steigen mit der Höhe, während Temperatur und Verdunstung sinken. 2. Von Süden nach Norden nehmen die Temperaturen wegen der sich geringfügig ändernden Einstrahlung ab. 3. Von Westen nach Osten nimmt die Kontinentalität des Klimas zu. Sie kommt in der wachsenden Spanne (Amplitude) zwischen kältestem und wärmstem Monat zum Ausdruck.

Im jahreszeitlichen Entwicklungsgang von Atmosphäre und Vegetation zeigt sich diese dreifache Differenzierung ebenfalls. So bestätigt der mittlere Beginn der Apfelblüte am Beispiel des südlichen Bayerischen Waldes (Abb. auf S. 22), wie einerseits die Erhebung des Gebirges eine Verzögerung des einziehenden Vollfrühlings bedeutet und andererseits die Talzüge von Ilz und Erlau eine kleinräumige klimatische Besserstellung bewirken.

Die Niederschlagshöhen steuern dabei das Abflussverhalten der Flüsse. Der Regen, die Ilz und weitere Zuflüsse aus dem Bayerischen Wald, nicht aber die südwestlich vorbeifließende Donau gehören in die Gruppe des Kontinentaltyps der Mittelgebirge mit einem Maximum im April / Mai und einem Minimum im September, wobei die Schwankungen von Jahr zu Jahr beträchtlich sind. Der im Schnee gebundene winterliche Niederschlag sowie die sommerliche Verdunstung und die Aufnahme der Feuchtigkeit durch Böden und Pflanzen bilden die zentralen Ursachen dafür, dass Niederschlags- und Abflussmaximum nicht übereinstimmen.

Die Atmosphäre ist ein dynamisches System mit natürlichen und vom Menschen verursachten Schwankungen. Beide sind schwer voneinander zu trennen und auch im Rückblick nicht einfach zu beurteilen; die Zukunft schließlich lässt sich trotz großer Datenfülle nur näherungsweise über Szenarien erahnen. Ein vergleichender Blick über die letzten 1000 Jahre (s. Abb. 6) ist sehr aufschlussreich: Unterschiedlich warme und kalte Epochen sind klar auszumachen; auch bei der Feuchtigkeit gibt es erhebliche Schwankungen. Die langfristige Entwicklung (geschwungene Linie) der Temperatur z. B. zeigt zwar nur geringe Schwankungen von wenig mehr als 0,25 °C, doch die mittelfristigen Werte (gezackte Linie) erreichen fast das Fünffache. Die aktuelle Phase, das moderne Klimaoptimum, steht dem mittelalterlichen Optimum sowie der zwischengeschalteten Kleinen Eiszeit gegenüber. Beide Optima sind nicht identisch, wie die Analyse der Details erweist: Während beim mittelalterlichen Optimum heiße Sommer und kalte Winter dominierten, sind es beim modernen Optimum milde Winter und gemäßigte Sommer – eine trügerische Gleichsetzung also.

 

Tab. 1: Klimaelemente ausgewählter Stationen des Bayerischen Waldes

Höhe

ü. N.N.

Jan

Feb

Mär

Apr

Mai

Jun

Jul

Aug

Sept

Okt

Nov

Dez

Jahr

Lufttemp. (°C)

Cham

420

-2,1

-0,7

3,1

7,7

12,3

15,9

17,3

16,6

13,3

8,2

3,0

-0,6

7,8

Höllenstein

403

-3,0

-1,7

1,7

6,3

11,1

14,8

16,1

15,4

12,0

6,8

2,3

-1,4

6,7

Gr. Falkenstein

1307

-4,7

-4,1

-1,8

1,8

6,3

10,1

11,6

11,4

8,7

5,0

-0,2

-3,2

3,4

Straubing

350

-2,7

-0,3

3,9

8,5

13,3

16,5

18,1

17,5

13,9

8,4

3,2

-0,5

8,3

Passau-Oberhaus

409

-2,4

-0,3

3,5

8,0

12,8

15,8

17,5

16,8

13,4

8,5

2,9

-0,9

8,0

Frosttage

Cham

420

26

21

17

6

1

0

4

12

22

110

Höllenstein

403

27

23

21

11

2

0

0

7

16

24

131

Gr. Falkenstein

1307

30

26

25

18

6

1

0

1

10

22

28

166

Niederschlag (mm)

Cham

420

50

43

47

49

65

90

98

81

56

47

46

58

730

Höllenstein

403

54

51

57

58

78

114

113

88

64

56

53

67

853

Gr. Falkenstein

1307

114

110

99

89

106

150

147

123

91

76

98

143

1346

Straubing

350

57

47

50

51

76

91

85

87

64

53

60

62

783

Passau-Oberhaus

409

72

62

64

62

90

107

100

99

63

63

72

84

934

Schneedeckentage

Rusel-Irlmoos

840

30,1

27,0

22,1

4,4

0,3

1,9

8,3

25,1

119,2

Gr. Falkenstein

1307

31,0

28,3

31,0

25,8

8,2

0,5

0,2

4,7

17,7

28,8

176,2

 

Die Klimaforschung zieht zur Erklärung dieser großen, säkularen Schwankungen – und damit des Klimawandels – Änderungen bei den nordhemisphärischen Zirkulationsverhältnissen in der Atmosphäre und den Ozeanen sowie menschliche Einflüsse (z. B. CO2