Inhaltsverzeichnis

Zum Buch

 

Huldrych Zwingli feierte die Stadt an der Limmat als ein neues Jerusalem, und er sollte nicht der letzte sein, der solche Lobpreisungen anstimmte. Andere fanden Vergleiche mit Rom angemessener, wieder andere mochten Zürich lieber in einem Atemzug mit Sodom und Gomorra nennen. Die Geister schieden und scheiden sich an der Stadt.

Das geträumte, beschriebene, verherrlichte, verdammte Zürich auf der einen und das gelebte, täglich von Neuem erstehende Zürich auf der anderen Seite – was haben sie miteinander zu tun? Seit über 2000 Jahren bestimmen die Bewohner der Stadt die Antwort auf diese Fragen immer wieder neu. Die Kleine Stadtgeschichte Zürichs zeichnet die wichtigsten Ereignisse für die Stadt von den Anfängen bis heute nach – informativ und spannend zugleich.

 

 

Zum Autor

 

Thomas Lau,
Dr. phil., geboren 1967, studierte Geschichte und öffentliches Recht in Freiburg/Br., Basel und Dublin. Er ist Professor am Lehrstuhl für Allgemeine und Schweizerische Geschichte der Neuzeit der Universität Fribourg.

Thomas Lau

Zürich
Kleine Stadtgeschichte

VERLAG FRIEDRICH PUSTET

REGENSBURG

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

 

 

eISBN 978-3-7917-6123-7 (epub)

© 2017 by Verlag Friedrich Pustet, Regensburg

Umschlaggestaltung: Martin Veicht, Regensburg

eBook-Produktion: Friedrich Pustet, Regensburg

 

Diese Publikation ist auch als Printprodukt erhältlich:

ISBN 978-3-7917-2942-8

 

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Auf dem Lindenhof – Spaziergang durch die Geschichte einer Stadt

Zeitungsleser und Schachspieler, Ruhesuchende und Schaulustige, Kinder und Bankiers – zur Mittagszeit sind sie alle hier anzutreffen. Inmitten der umtriebigen Zürcher Innenstadt wirkt der Lindenhof, als sei er aus der Zeit gefallen. Unter dem Blätterdach von 55 Linden bietet er Bürgern und Besuchern eine Bühne der gemächlichen Selbstdarstellung. Vor allem aber kann der Betrachter von hier aus einen faszinierenden Blick auf das pulsierende Leben werfen, das sich zu seinen Füssen abspielt.

Der Platz auf der markanten Erhebung am linken Limmatufer wurde bereits seit dem frühen 14. Jahrhundert vor privater Aneignung geschützt. Er sollte unbebaut und allgemein zugänglich bleiben. Der Lindenhof blieb abseits der lautstarken Märkte. Als öffentlicher Garten mahnte er zur Ruhe und Selbstbesinnung. Er war gleichsam das Gegenstück zum höfischen Park, der durch die ordnende Hand eines Fürsten in ein irdisches Paradies verwandelt wurde. Ähnlich wie die Münsterplattform in Bern oder der St. Petersplatz in Basel war er ein Ort, der Fest- oder Grossveranstaltungen einen gemessenen Rahmen verlieh und an dem die Bürgerschaft ihre Fähigkeit zur Selbstbeherrschung demonstrierte. Im 14. Jahrhundert hielt die Stadt hier Gerichtstage ab. Hochämter wurden auf dem Lindenhof gefeiert, Prozessionen machten unter seinem Blätterdach Station.

Seit der Reformation diente er vor allem als gesellschaftlicher Treffpunkt. Armbrustschützen und Zünfte waren an diesem Ort präsent. Kundgebungen aller Art wurden unter dem Blätterdach des Platzes abgehalten. 1522 trafen sich auf dem weitläufigen Areal die Anhänger der radikalen Reformation. 1713 war das künstliche Hochplateau Schauplatz einer Bürgerversammlung, die Veränderungen in der Stadtverfassung forderte. 1798 leisteten die Bürger hier unter freiem Himmel ihren Eid auf die Helvetische Verfassung. 1838 veranstaltete die Zunft zu Schmiden auf dem Hof aus Anlass des Endes der alten Zunftverfassung eine „Zunftbeerdigung“.

Die stille Erhabenheit des Parks wurde durch seine Unwandelbarkeit unterstrichen. Auf Akzeptanz stiess bei den Bürgern lediglich der Bau von Umfassungsmauern und Treppen. Veränderungen auf dem Platz selbst hingegen stiessen auf Widerstand. Statuen, wie ein nach 1780 aufgestelltes Telldenkmal, standen stets in der Gefahr, von Gegenkräften zerstört zu werden. Hauptgliederungsmerkmal des Platzes blieben die Linden, die seit dem 18. Jahrhundert streng geometrisch gepflanzt wurden. Ihre Zahl wurde seit dem 16. Jahrhundert lediglich um drei Bäume vermehrt. Versuche, den Bewuchs zu verändern, scheiterten. Die 1865 nach schweren Sturmschäden gepflanzten Akazien, Kastanien und Götterbäume mussten wieder abgeholzt werden.

Auf den Trümmern der Vergangenheit

Die Weihe des Ortes beruht nicht zuletzt auf der Erinnerung an jene Gebäude, die einst auf ihm standen. Das vergangene Gesicht des Lindenhofes kann der heutige Besucher in den Kellern des angrenzenden Logengebäudes bestaunen. Dort wurden die Fundamente eines römischen Bauwerks zugänglich gemacht.

Die Überreste vergangener Zeiten, die die Erde des Lindenhofes im Verlaufe der Jahrhunderte immer wieder freigab, erwiesen sich indes als sperrige Zeugen. Bis in jüngste Zeit fungierte die höchste Erhebung einer von der letzten Eiszeit geschaffenen Endmoräne als Spielverderber für jene, die die Vergangenheit der Stadt für ihre Zukunft nutzbar machen wollten. Wer nach Beweisen für eigene Geschichtsbilder suchte, fand in der Erde des Hügels meist das Gegenteil.

Eine heroische Gründungsgeschichte, die bis in vorhistorische Zeiten zurückreichte, hoffte schon Heinrich Brennwald seiner Stadt um 1520 zueignen zu können. Viele sollten ihm in dem Versuch folgen, die Stadt auf diesem Wege gleichsam zum ewigen Vorort der Eidgenossenschaft zu erklären. Die Realität, so zeigten archäologische Funde seit Mitte des 20. Jahrhunderts, war indes wohl wesentlich bescheidener. Weder die keltischen noch die römischen Besiedlungsreste zeugen von einer hohen Zentralitätsfunktion der betreffenden Agglomerationen.

Kelten und Römer

 

Unstrittig ist die lange Kontinuität innerhalb des Siedlungsraumes, der heute von der Stadt Zürich ausgefüllt wird. Am unmittelbaren Ufer des Sees (so am kleinen Hafner oder am Bauschänzli) aber auch auf dem Uetliberg lebten Menschen bereits vor 6000 Jahren. Eine permanente Besiedlung des heutigen Innenstadtbereichs erfolgte vermutlich im 2. vorchristlichen Jahrhundert. Von Bedeutung war vor allem der Lindenhof. Die von Hochwasser und militärischen Gefahren schützende Lage des Hügels begünstigte die Entstehung einer kleinen keltischen Ortschaft.

Ihre noch bescheidene Bedeutung speiste sich vor allem aus der verkehrstechnisch günstigen Position am See. Sie war es auch, die das römische Militär bereits vor 15. v. Chr. dazu bewog, eine kleine Garnison hier zu stationieren. Die römische Zeit scheint dabei nahtlos an die keltische Besiedlung angeknüpft zu haben. Das Kastell auf dem heutigen Lindenhof erhielt das „Vicus Thuricum“ schliesslich im 4. Jahrhundert.

Nichts deutete demnach auf die spätere Bedeutung der Stadt hin, nichts auf ihren Anspruch, ein neues Jerusalem, ein neues Athen, ein neues Rom zu sein. Und doch wurden die römischen Bauten an der Limmat zum Ausgangspunkt künftigen Wachstums.

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Abb. 1: Römischer Grabstein, der am 15. Mai 1747 auf dem Lindenhof gefunden wurde. Der römische Vorsteher des Zollpostens Zürich (Turicum) widmete ihn zwischen 185–200 n. Chr. seinem im Kleinkindalter verstorbenen Sohn. – SNM – Landesmuseum Zürich

»Unser und unseres Reiches Stadt« – zwischen Kaiseradler und Schweizerkreuz

Die vornehmste Stadt in Schwaben

Friedrich von Hohenstaufen und Berthold von Zähringen hatten über Jahre erbittert um das Herzogtum Schwaben gestritten. Schliesslich habe, so erläuterte der Chronist Otto von Freising, Friedrich seinen Widersacher dazu gezwungen, um Frieden zu bitten. Die Bedingungen, die der Staufer ihm 1098 stellte, waren milde. Berthold musste zwar auf Schwaben verzichten, durfte jedoch seinen Herzogstitel behalten und er erhielt Zürich, das Otto in einer berühmten Wendung als „nobilissimum Sueviae oppidum“ – als edelste Stadt Schwabens – bezeichnete. Der erste staufische Herzog hatte sich gegenüber dem Zähringer als grosszügiger Sieger erwiesen.

Angesichts der Bedeutung des historischen Augenblicks widmete der Lobredner des staufischen Kaiserhauses der Bühne des Geschehens einige kurze, aber prägnante Worte. Zürich sei eine Stadt, die ihr Tor mit dem Satz geschmückt habe, sie sei an Gütern und Ehren reich. Günstig an einem See gelegen, hätten Mailänder Untertanen des Kaisers sich hier zu verantworten, wenn sie vor Gericht gefordert worden seien. Was die Zugehörigkeit der Stadt angehe, so dürfe sie als ein Vorort Schwabens gelten und gehöre damit zu den deutschen Landen. Die Aussagen des Chronisten, der übrigens die Limmat und den Genfer See miteinander verwechselt, sind in ihrem Quellengehalt mit Vorsicht zu behandeln. Sie vermitteln aber einige interessante Hinweise auf die Bedeutung, die die Zeitgenossen Zürich zumassen.

Deutschland und Schwaben – jene losen Rechts- und Ehrgemeinschaften, die Orientierung stiften und Zugehörigkeit erzeugen sollten – bedurften der Stätten, an denen sie Gestalt annehmen konnten. Zürich eignete sich zu diesem Zwecke offenbar in besonderem Masse. Warum? Nun, diese Frage lässt sich angesichts der wenigen Quellen, die uns zur frühen Stadtgeschichte zur Verfügung stehen, allenfalls umrissartig beantworten.

Von der Burg zur Stadt

Begeben wir uns einige Jahrhunderte zurück: Dass die Stadt an der Limmat nicht mit dem Abzug der römischen Truppen verödete, wissen wir von den Toten. Ein von Archäologen freigelegtes Gräberfeld an der Bäckerstrasse konnte auf das 6. Jahrhundert datiert werden. Weitere fünf Gräber, die an der Chormauer von St. Peter entdeckt wurden, sind wohl dem 5. bis 7. Jahrhundert zuzuordnen.

Etwa zur selben Zeit findet sich beim anonymen „Geographen von Ravenna“ die Ortsbezeichnung „Ziurichi“ – woher der Name stammt, ist unbekannt. Erste konkrete Informationen über Zürich finden sich erst im 8. Jahrhundert mit dem Auftauchen eines Grafen Pebo, der zwischen 741 und 746 im Zürichgau, einer Untereinheit des Thurgaus, wirkte. Kurz darauf, um 760, wird auf Betreiben zweier Vertrauensleute des Frankenkönigs Pippin der Fiskus Zürich gebildet. Das Königsgut nördlich des Zürichsees wurde also einer gesonderten Verwaltung durch königliche Bedienstete unterworfen. Etwa 60 Jahre – bis zur Reichsreform Ludwigs des Frommen – hatte diese Regelung Bestand. Dann erhält der Zürichgau eigene Grafen (die ab 819/20 nachweisbar sind). Die zuvor erwähnte Fiskalverwaltung wurde damit nicht abgeschafft, wohl aber reduziert.

Die karolingischen Könige und ihre Getreuen interessierten sich massiv für Güter, auf die die Krone – aus welchen Gründen auch immer – besondere Rechtsansprüche erheben konnte. Nur mit Hilfe dieser Ländereien konnten Kriegszüge finanziert, Königsumritte organisiert und Getreue versorgt werden. In der Umgebung Zürichs waren sie in grosser Zahl vorhanden. Das unterschied diesen Ort von anderen.

Zudem befand sich in Zürich ein Sicherungskomplex, der den Zugriff auf diese Krongüter erheblich erleichterte. Archäologische Befunde legen den Schluss nahe, dass das römische Kastell auf dem Lindenhof fortbestand. In welchem Umfang es erweitert wurde und wie die Nutzung konkret aussah, wissen wir nicht. Dass im 9. Jahrhundert ein neues Gebäude hier errichtet wurde, darf allerdings als gesichert gelten. Die römische Befestigung wurde zur Burg und unterhalb ihrer Mauern war bereits zu dieser Zeit eine Siedlung entstanden, die in den Urkunden als eigenständige Einheit benannt wurde.

Beide – Burg und Siedlung – gewannen im Laufe der nächsten beiden Jahrhunderte an Profil. Aus dem Kastell wurde in den Urkunden Mitte des 11. Jahrhunderts ein „imperiale palatium“ – eine Kaiserpfalz. Wann genau das zweigeschossige Gebäude, dessen Fundamente bei Grabungen freigelegt wurden, entstanden ist, lässt sich nicht belegen. Tatsache ist jedoch, dass zwischen 952 und 1055 zwölf Besuche eines Kaisers in Zürich verzeichnet wurden.

Zürich war zu einer eindrucksvollen Bühne geworden, auf der sich kaiserliche Macht inszenieren liess. Burgundische und italienische Gefolgsleute und Bündnispartner wurden hier empfangen und politische Weichenstellungen vorgenommen. Der Glanz kaiserlicher Präsenz zog auch die schwäbischen Herzöge an, die die Pfalz gleichfalls nutzten, um hier ihre Hoftage abzuhalten.

Der Ort an der Limmat war nun weit mehr als ein übrig gebliebenes römisches Kastell, um das sich eine Siedlung gebildet hatte. In Urkunden firmiert er bereits als „Civitas“ – als Stadt. Ab dem 9. Jahrhundert wurden hier Münzen geprägt. Für das 10. Jahrhundert ist die Erhebung von Zöllen und die Abhaltung von Märkten belegt. Der Nachweis von Zürcher Zahlungsmitteln in Skandinavien und die Erwähnung von Zürcher Kaufleuten in einem Koblenzer Zollregister aus dem 11. Jahrhundert zeigt, dass der Handel an Bedeutung gewonnen hatte. Die Stadt profitierte dabei nicht nur vom Wohlwollen der gekrönten Häupter, sondern auch von ihrer günstigen Verkehrslage am See und religiösen Attraktionen, die kauffreudige Pilger in die Stadt zogen.

Zürich in der Kaiserdämmerung

Noch bestand Zürich aus mehreren Siedlungskernen und Rechtsbezirken. Noch stand das, was einmal zu einer Stadt werden sollte, auf dem Grund und Boden verschiedener Herren. Sie alle forderten die Treue ihrer Gefolgsleute. Auch der rechtliche Status der Einwohner unterschied sich stark voneinander. Freie, Unfreie und Freigelassene waren gleichermassen im Schatten der Burg zu finden.

Die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen Zürichs Siedlungskernen waren ungeachtet dieser eigenwilligen Gemengelage eng. Davon zeugte auch der Bau eines zweiten Limmatüberganges sowie von Befestigungsanlagen, die Stadt und Umland nach neueren Untersuchungen wohl bereits im 11. bzw. 12. Jahrhundert deutlich voneinander abgrenzten.

Die Bedeutung von Königen und Herzögen für die weitere Stadtentwicklung nahm demgegenüber allmählich ab. Zwar wurde die Verteidigungsfähigkeit der Burg durch Umbauten im 11. möglicherweise auch im 12. Jahrhundert noch einmal gestärkt, die Zeit der Kaiserpfalzherrlichkeit war indes vorüber. Die Zähringer, die in Freiburg oder Bern als überaus rührige Stadtgründer und Stadtgestalter agierten, zeigten an Zürich offenbar kein gesteigertes Interesse. Dies mochte auch daran liegen, dass die Grafen von Lenzburg als Kloster- und Stiftsvögte in Zürich auftraten und damit eine konkurrierende Gewalt darstellten. Als das Grafengeschlecht 1173 ausstarb und die Vogtei an die Herzöge fiel, änderte sich nur wenig, denn auch die Tage der Zähringer waren gezählt. Mit dem Tod Bertholds V. im Jahre 1218 erlosch die Hauptlinie des stolzen Herzogsgeschlechts.

Die Burg verlor an Anziehungskraft und begann zu verfallen. Bereits um 1271 war die Pfalz offenbar verschwunden. Die Stadt des Königs wurde zu einer Stadt der Bürger, die nun nach anderen Formen der Sinngebung suchten. Es waren vor allem die von den Königen reich ausgestatteten Kirchen und Klöster, die diese Aufgabe zu erfüllen hatten.

Heilige Orte

Der Kult um Felix und Regula

 

Felix und Regula waren vom römischen Kaiser Maximian schnell aufgespürt worden. Er liess an den beiden Missionaren, die im Umfeld der legendären Soldaten der thebaischen Legion das Christentum nach Norden getragen hatten, ein Exempel statuieren. Widerriefen sie nicht, so waren sie des Todes. Decius, sein Statthalter, kam dem Befehl getreulich nach. Nachdem das gläubige Geschwisterpaar jedem Versuch gegenüber standhaft blieb, ihnen ein Bekenntnis für die alten Götter abzuringen, wurde es auf bestialische Art gefoltert. Als schliesslich kaum noch Leben in den gemarterten Körpern festzustellen war, trennte der Henker ihnen mit dem Schwert die Köpfe vom Leib.

Der Tod indes hatte keine Macht über diese beiden Diener Gottes. Kaum waren ihre Häupter zu Boden gerollt, da nahmen Regula und Felix sie auch schon in die eigenen Hände und erhoben sich. Von ihrem Richtplatz an den Gestaden der Limmat bis zur ihrer künftigen Ruhestätte im heutigen Grossmünster legten sie 40 Ellen eines steilen und schweisstreibenden Weges zurück, um sich auf einem von Gott selbst erwählten Ort niederzulassen und dort ihr irdisches Leben zu beschliessen.

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Abb. 2: Das Martyrium von Regula, Felix und Exuperantius; im Bildhintergrund findet sich die erste Zürcher Stadtansicht. – Tafelgemälde von Hans Leu d. Ä., entstanden zwischen 1497 und 1502. SNM – Landesmuseum Zürich.

Die Geschichte von den beiden Märtyrern Felix und Regula findet sich erstmals in einer Heiligenlegende aus dem 9. Jahrhundert. Sie sollte für das Wachstum ebenso wie für die Gestaltung Zürichs von wesentlicher Bedeutung werden. Schon zu karolingischer Zeit waren die sterblichen Überreste der beiden Heiligen für die Limmatstadt von unschätzbarem Wert. Ob die Legende einen historischen Kern besitzt, ist völlig unklar. Dessen ungeachtet verlieh der Kult um Regula und Felix dem Ort Unverwechselbarkeit und platzierte ihn zugleich in einen grösseren Bezugsrahmen – immerhin hatte die Verehrung der Angehörigen der Thebaischen Legion bis hin zum Oberrhein Anhänger gefunden.

Am angeblichen Grab der beiden Märtyrer wurde offenbar schon im 8. Jahrhundert ein Sakralbau errichtet und eine Klerikergemeinschaft begründet. Sie erhielt im 9. Jahrhundert den Status eines Chorherrenstifts – Geistliche mit vornehmer Herkunft und reichlicher Versorgung hatten künftig die Verehrung der heiligen Gräber sicherzustellen. Die karolingischen Herrscher und ihre Nachfolger vermehrten die Güter dieser Kanoniker. Die steigende Bedeutung des Stifts und seine Anziehungskraft auf den umliegenden Adel zeigten sich in Erweiterungen und Veränderungen des Kirchenbaues, in dem die Stiftsherren wirkten. Zwischen 1100 und 1230 entstand in sechs Phasen das Grossmünster. Die beiden mächtigen Türme, deren Silhouette die Stadt bis heute prägt, sollten allerdings erst im 15. Jahrhundert angefügt und bis zum Ende des 18. Jahrhunderts mehrfach verändert werden.

So eindrucksvoll das Münster sein mochte, mächtiger war zunächst das Fraumünster auf der gegenüberliegenden Uferseite. Diese Benediktinerinnenabtei war bereits 853 begründet worden. Um ihrer Wirkungsstätte die notwendige Ausstrahlungskraft zu verleihen, wurde ein Teil der Leichname der beiden Märtyrer in ihre Mauern überführt. Die Nähe des neuen Baus zum Kastell war bezeichnend für die enge Kooperation zwischen der Krone und der Abtei. Bereits zu Zeiten Ludwigs des Deutschen wurde sie zu einem reichhaltig ausgestatteten Verwaltungszentrum des königlichen Besitzes.

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Abb. 3: Das Fraumünster. – Zürcher Stadtansicht des Kartografen Jos Murer, 1576 (Detail).

Beide Kirchengebäude – Grossmünster und Fraumünster – bildeten die stolzen Eckpfeiler einer Zürcher Frömmigkeitsachse, die im 9. Jahrhundert Gestalt annahm. Die Stadt bekam ein Gesicht – die Türme der Kirchen verliehen ihr Bedeutung, religiöse Weihe und schufen Orientierung. Zugleich verwiesen sie auf den bescheidenen und doch gesegneten Ursprung der Metropole, befand sich doch auf halber Strecke zwischen den beiden wuchtigen Gebäuden eine kleine Insel in der Limmat. Sie markierte die Richtstätte der Stadtpatrone. Schriftliche Belege für diese Identifizierung datieren zwar erst aus dem 13. Jahrhundert, archäologische Funde belegen jedoch, dass die Verehrung des sogenannten Opfersteins bereits weit früher einsetzte. Um das Jahr 1000 wurde die Bedeutung dieses Punktes durch den Bau der Wasserkirche unterstrichen, in deren Krypta der Opferstein noch heute besichtigt werden kann.

Prozessionen als Spektakel der Selbstdarstellung

Die den beiden Heiligen geweihten Kirchen waren Anziehungspunkte für Pilger und Bühnen festlichen Gedenkens. Religiöse Feste wurden nicht nur in den Kirchenräumen selbst zelebriert. Letztere waren vielmehr Ausgangs- und Haltepunkte von Sakraments-, Bitt- und Reliquienprozessionen. Das religiöse Leben der Stadt war von geordneten Bewegungen geprägt. Die Gemeinden des Grossmünsters, des Fraumünsters und St. Peters – einer Pfarrkirche, die seit dem 9. Jahrhundert bestand – zogen gemeinsam singend und betend durch die Gassen. Für einen Moment verschmolz die Stadt zu einer grossen Religionsgemeinschaft, und doch gaben die Prozessionen auch einzelnen Gruppen die Möglichkeit, ihr eigenes Profil zu schärfen. Der Zug durch die Stadt war zugleich ein Versuch der Sinngebung. Das Häusermeer wurde als Schauplatz des Heils gedeutet, als Ordnungssystem, das dem Einzelnen Halt gab.

Als 1218 der letzte Zähringer Herzog verstarb, war ein Ankerpunkt dieses steinernen Kosmos entfallen. Wer sollte an seine Stelle treten? Der Kaiser hatte die Äbtissin des Fraumünsters als neue Stadtherrin anerkannt. Doch neben dieser mächtigen Instanz rangen nun weitere Gruppen um Einfluss und Deutungshoheit.

Die vornehme Kanonikergemeinschaft des Chorherrenstifts, die vor allem Landadlige und einflussreiche Bürgerfamilien anzog, war in dieser Hinsicht besonders aktiv. Im Jahre 1233 erwarb das Stift eine kostbare Karlsreliquie. Da Karl der Grosse die Gräber von Felix und Regula (nach einer von den Kanonikern verbreiteten Sage) wiedergefunden hatte, liess sich seine Verehrung problemlos in die Zürcher Sakrallandschaft einfügen. Der Kult um die beiden jenseitigen Stadtherrn erhielt durch ihn einen aristokratischen Charakter. Das Grossmünster wurde gleichsam zum Hof des heiligen Kaisers und damit zum neuen Mittelpunkt der Stadt.

Die Umdeutung der beiden Stadtheiligen Felix und Regula war nicht nur gegen die Benediktinerinnen gerichtet, sondern auch gegen die Bürgergemeinde. Dieses Gremium, das nach dem Aussterben der Zähringer erstmals in Erscheinung trat, hatte sich um 1225 ein eigenes Siegel gegeben. Neben Felix und Regula ist hier (im Übrigen bis heute) noch ein dritter Enthaupteter – der heilige Exuperantius – zu sehen. Dieser war keineswegs aristokratischer Herkunft, sondern, so liess man wissen, der Diener des römischen Missionspaares. Auch er sei hingerichtet worden und den beiden anderen Enthaupteten auf ihrem Weg hinauf auf den Grossmünsterhügel vorangeschritten.

Der neue Märtyrer signalisierte das Bedürfnis und die Fähigkeit der Stadtgemeinde, eigene religiöse Leitbilder zu entwickeln. Die drei Enthaupteten, mit denen sie ihre Stadtsiegel schmückten, zeigten die Gleichheit dreier ungleicher Märtyrer vor Gott. Sie waren Leitbilder, die auch den Aufsteigern und Handwerkern der Stadt zu vermitteln waren und sie zugleich von den grossen geistlichen Gemeinschaften abgrenzten. Deren Dauerrivalitäten eröffneten dem Rat immer wieder Möglichkeiten, die eigenen Kompetenzen zu erweitern. So etwa im Jahre 1375, als es zu einem folgenschweren Unfall kam.

„Prozessionsunfall“

 

Die Äbtissin des Fraumünsters und der Propst des Grossmünsters waren anlässlich der Pfingstprozession auf dem Kornmarkt zusammengetroffen. Keiner der beiden wollte dem jeweils anderen den Vortritt lassen. Der nun entstehende Rückstau der nachrückenden Prozessionsteilnehmer führte zu einer Menschenansammlung auf der Rathausbrücke, die die Kapazitäten des Bauwerks überstieg. Die Brücke stürzte ein und acht Menschen ertranken.

Die beiden wichtigsten kirchlichen Würdenträger hatten sich als unfähig erwiesen, ihre Konflikte selbst beizulegen, und damit den Rat als Schiedsrichter geradezu auf den Plan gerufen.

Eine genaue Choreographie religiöser Grossereignisse wurde angesichts der steigenden Zahl dieser Gemeinschaften in der Stadt zu einer unabweisbaren Notwendigkeit. Wie verwirrend vielschichtig die Zürcher Sakrallandschaft zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert wurde, zeigte eine zeitgenössische Schilderung der Prozession zu Ehren der Stadtpatrone aus den 1480er Jahren. Neben den Chorherren und Benediktinerinnen waren nun auch Bettelmönche, Bruderschaften und die prachtvoll ausgestatteten Zünfte an ihr beteiligt. Gemeinsam begab man sich zum Lindenhof. Dort lasen die Bettelorden in drei verschiedenen Zelten unablässig die Messe. Im vierten Zelt, dem Bürgerzelt, wechselte der Orden, der das Hochamt für die Stadtpatrone feiern durfte, nach dem Rotationsprinzip jährlich ab. Auf dem Lindenhof fand damit eine wahre Heerschau städtischer Frömmigkeit statt. Eine wachsende Zahl von Klerikergemeinschaften präsentierte hier den Bürgern eine immer breiter werdende religiöse Angebotspalette.

Die reichen Bettler – Klöster verändern die Stadt

Es waren vor allem die Bettelorden, die diese Veränderung ermöglicht hatten. Der erste von ihnen, die Dominikaner (Prediger), hatte sich bereits 1230/31 in Zürich niedergelassen. Die Franziskaner folgten im Jahre 1238, die Augustinereremiten 1270. Im Jahre 1251 war zudem das Dominikanerinnenkloster von Oetenbach durch eine veränderte Führung der Mauern in die Stadt integriert worden.

Sie alle hatten sich am Rande der Stadt, meist in unmittelbarer Nähe zur Stadtmauer, angesiedelt – und glichen Grenzmarken, die Zürich von seinem Umland trennten. In der Tat waren die Bettelorden auf Massenseelsorge spezialisiert und damit vornehmlich städtische Phänomene. Ihre markanten Kirchen wurden zu Kristallisationskernen ganzer Stadtviertel. Dies galt vor allem für die Dominikaner, die sich aktiv für die Ansiedlung alleinstehender Frauen im Umfeld ihres Konvents einsetzten. Viele von ihnen bildeten eigene wirtschaftlich – religiöse Versorgungsgemeinschaften. Ähnlich wie in anderen Teilen Europas verdichtete sich diese Laienbewegung zu Beginenhöfen, die in Zürich von den Predigern und dem kleinen Nonnenkonvent St. Verena betreut und unterstützt wurden.

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Abb. 4: Die Predigerkirche, deren südliches Seitenschiff 1609 neu erstellt wurde; das Dach des Hauptschiffs wurde 1663 erneuert. – Stich nach Bluntschli.

Die Aktivitäten des Bettelordens waren indes nicht auf die städtischen Armen beschränkt. Attraktiv waren sie auch für reiche Bürgergeschlechter. Der Orden nahm deren Kinder auf, bildete sie aus und eröffnete ihnen so den Weg zum sozialen Aufstieg. Dies galt umso mehr, als die Dominikaner auch im Umland der Stadt tätig wurden und dort das Interesse des Adels erweckten. Spätestens ab der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts erfüllte das Predigerkloster die Rolle eines Treffpunktes der Eliten.

Die Dominikaner hatten damit als Brückenbauer und Orientierungsstifter an Bedeutung gewonnen. Wie die Franziskaner oder die Augustinereremiten waren sie zu einem profilierten Teil des städtischen Klerus geworden. Für die Bürgerschaft war dies nicht unproblematisch. Als sich die Bettelorden im 13. Jahrhundert in Zürich niedergelassen hatten, bildeten sie ein Gegengewicht zum Gross- und zum Fraumünster. Da sie keine eigenen Liegenschaften und andere Besitzungen erwerben durften, waren sie (so schien es) von der Bürgergemeinde abhängig. Dies hatte sich spätestens Mitte des 14. Jahrhunderts geändert. Die Orden gewannen an eigenem sozialem und (unter feiner Umgehung des Armutsgebotes) ökonomischem Gewicht. Es stellte sich die Frage, wie die weltlichen Eliten auf diese Entwicklung reagieren sollten.

Eingemauerte Bauern und stolze Ritter

 

Wo fände man so viele Lieder beisammen?

Man fände sie nirgends sonst im Königreich,

wie sie hier, in Zürich, in Büchern stehen!

 

Die Sammlung höfischer Lieder, die der in Zürich ansässige Minnesänger Johannes Hadlaub um 1300 pries, war nicht die einzige ihrer Art in Mitteleuropa. Sie war aber wohl die mit Abstand prächtigste und umfangreichste. Der oder die Sammler – Hadlaub nennt als Initiator des Projekts ein Glied der Familie Manesse – lässt Werke von 140 Dichtern zusammentragen. Man ist um Vollständigkeit bemüht und um eine würdige Darstellung. Davon zeugen die meisterhaften 137 ganzseitigen Illustrationen, die das Werk schmücken.

Wozu diente die Kollektion? Da Hinweise auf Melodien fehlten, war sie als Grundlage einer Aufführung des Aufgezeichneten kaum geeignet. Der Glanz des höfischen Festes war mit Papier und Tinte eingefangen worden. Aus dem Ereignis war eine Erzählung geworden. Wenngleich die Bilder jedem Betrachter Orientierungspunkte boten, erschloss sich der volle Gehalt des Werkes nur dem Lesekundigen. Der Gesang für die schönen Damen am Hofe eines Grafen, Herzogs oder Königs erhielt damit einen Rang, wie er sonst nur geistlichen Betrachtungen gebührte.

Die „Ritter“ – Zürich und sein Stadtadel

Die Klöster als Stätten der städtischen Gelehrsamkeit bekamen, wie die Liedsammlung zeigte, schon früh Konkurrenz. Eine kleine Gruppe innerhalb der Stadt profilierte sich als Brücke zur Adelsgesellschaft. Die Manesse selbst tauchten in Zürich erstmals im 13. Jahrhundert als städtische Räte und Amtsträger des Fraumünsters, aber auch als Lehnsträger äusserer Gewalten, wie der des Reiches auf. Sie waren Diener vieler Herren, die einen adligen Lebensstil in das städtische Umfeld hineintrugen. Davon legte nicht nur die besagte Liederhandschrift Zeugnis ab, sondern auch die Behausung des stolzen Geschlechts. Einer ihrer Zweige erhielt im 14. Jahrhundert den bis heute erhaltenen Hardturm zum Lehen, der für die Sicherung des Limmatübergangs von grosser strategischer Bedeutung war. Ein anderer erwarb die Burg Manegg (deren Ruinen im heutigen Quartier Leimbach liegen). Innerhalb der Stadt nannten die Manesse einen wehrhaften Wohnturm in der Münstergasse ihr Eigen. Ob dieser Bau, dessen Hauptteil 1834 abgetragen wurde, militärischen Zwecken diente, sei dahingestellt. Er symbolisierte in jedem Falle die Fähigkeit der Manesse, die Stadt zu verteidigen und sie gegenüber Adelsfamilien des Umlandes auf Augenhöhe zu vertreten. Es war eine aufwändige Form der Profilbildung, die von einem erheblichen Konkurrenzdruck zeugte.